Rede des deutschen Bundeskanzlers zum „Tag der Befreiung“ vor 77 Jahren

Olaf Scholz bekräftigt am 8. Mai Waffenlieferungen an die Ukraine

von Alexander Wallasch (Kommentare: 1)

An die Politik: Fangt endlich an zu verhandeln. Nutzt eure Kontakte. Beendet diesen Krieg in der Ukraine. Dieser Wahnsinn muss enden. Und das kann nicht auf dem Schlachtfeld sein.© Quelle: © Quelle: Screenshot / YouTube, tagesschau

Wer die Rede von Olaf Scholz zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 77 Jahren anschaut oder nachliest, der muss wissen, dass Katrin Göring Eckardt bei n-tv wenige Tage zuvor mit einer Art Bringschuldlüge die Blaupause für den Bundeskanzler veröffentlichte.

Scholz erinnert in seiner Ansprache an sechzig Millionen Opfer von Krieg und nationalsozialistischer Schreckensherrschaft und daran, dass Deutsche diese Menschheitsverbrechen verübt hätten. Das Schweigen der Waffen glich am 8. Mai einer Friedhofsruhe über Toten.

Hier vergisst der Bundeskanzler, was schon seine Vorgänger in ihren Reden vergessen haben: Diese Friedhofsruhe war zunächst angefüllt von den Schreien der von Rotarmisten vergewaltigten deutschen Frauen. Verbrechen, die gut dokumentiert und dann tabuisiert wurden.

Deutschlandfunk sprach mit einer dieser Frauen:

„Leonie Biallas war 14, als die Rote Armee im Februar 1945 in ihr Dorf im Westen des schlesischen Breslaus kam. Mehrmals sei sie von Soldaten vergewaltigt worden, auch ihre Mutter sei Opfer gewesen. Einmal hätten Soldaten beide im gleichen Raum vergewaltigt.“

Auch für die hunderttausenden deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung vor und nach Kriegsende hat Scholz kein Wort übrig. Die persönlichen Erinnerungen der Überlebenden bleiben weiter in den Familiengeschichten verborgen oder sind schon unerzählt vergessen.

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Noch etwas irritiert: Scholz sagt in seiner Ansprache, „Deutsche haben dieses Menschheitsverbrechen verübt". Falls er das so meint, dann nein: Es kann keine Kollektivschuld geben. Fast 80 Jahre nach Kriegsende ist es an der Zeit, auch Deutschen zuzugestehen, dass sie unter der Diktatur gelitten und auf den Schlachtfeldern des Grauens ihre Söhne verloren haben.

Viele von ihnen verscharrt in fremder Erde, die sie nur mit zitternden Knien betreten hatten. Nein, unsere Großväter und Urgroßväter sind als junge Männer nicht mit einem lauten „Hurra“ in den Zweiten Weltkrieg gezogen, diese Lehre lieferte ihnen schon der Erste Weltkrieg.

Ist das schon Revisionismus? Gar Revanchismus? Quatsch. Es wird allerdings höchste Zeit, auch gemeinsam mit den wenigen noch lebenden deutschen Opfern eines von der nationalsozialistischen Diktatur angezettelten Weltkrieges zu trauern.

Viele Mitarbeiter in Altenheimen wissen heute um diesen späten Erzähldruck. Das am eigenen Leib erfahrene Grauen war nur tief verschüttet. Im Alter bricht es vielfach heraus. Geschichten, die frösteln lassen.

Deutsche als Opfer zu betrachten, gehört sich nicht? Wer so etwas erzählt, der verhöhnt diese Opfer noch über ihre Gräber und Verletzungen hinweg. Braucht es denn so viele Jahrzehnte nach Kriegsende immer noch Mut, auch dieser Opfer der deutschen Diktatur zu gedenken?

Scholz erinnert an ein „Nie wieder!“ als zentrale Lehre der Deutschen aus dem Zweiten Weltkrieg. Aber darf das der Startschuss sein, unbegrenzt schwere Waffen in ein europäisches Kriegsgebiet zu schicken?

Sind die deutschen Emissäre schon auf dem Weg nach Moskau, alles dafür zu tun, was in ihrer Macht steht, diesen Krieg zu beenden? Ein Krieg, der vor allem auch deshalb so schockiert, weil man so einen mörderischen Wahnsinn in Europa ein für alle Mal für unmöglich erachtet hatte.  

Was sind transatlantische Beziehungen wert, wenn sie nicht auf Augenhöhe passieren? Was haben die USA in der Ukraine veranstaltet, das ebenfalls Teil dieser Verheerungen sein könnte?

Selbst für den Papst ist das „Bellen der Nato an der Tür Russlands“ möglicherweise ein Mitgrund für den Konflikt in der Ukraine. Nur ein alter verwirrter Mann? Nein, denn die anfängliche Zögerlichkeit des Bundeskanzlers ist Beleg genug dafür, dass auch Scholz noch vor wenigen Wochen darüber im Bilde war, was Franziskus hier gemeint haben könnte. Aber dann versammelte sich die Nato in Ramstein und anschließend war Scholz gebrochen.

Scholz sagt in seiner Rede, Präsident Putin setze seinen barbarischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Kampf gegen den Nationalsozialismus gleich. Das sei geschichtsverfälschend und infam. Aber Scholz vergisst dabei, dass Putins Argumente gar nicht die Argumente jener friedensbewegten Deutschen sind, die sich ihr „Nie wieder!“ nicht einfach umdeuten lassen zu einem Auftrag, schwere deutsche Waffen in ein neues europäisches Kriegsgebiet zu entsenden.

Alice Schwarzer schrieb nicht, die Ukraine sei nationalsozialistisch. Das wäre auch ein großer Unsinn. Allein die Existenz des Asow-Regiments, das Mitlaufen von Nationalisten auf Demonstrationen oder die Heldenverehrung eines Kriegsverbrechers geben das nicht her. Nichtsdestotrotz dürfen solche Auswüchse nicht ignoriert werden.

Aber das bleibt zunächst eine innerukrainische Angelegenheit. Jedenfalls solange es nicht um Lieferungen schwerer deutscher Waffen geht, die schon routinemäßig eine besondere Aufmerksamkeit verlangen. Wenn der 8. Mai zu etwas verpflichtet, dann doch wohl dazu.

Der Bundeskanzler sagt, die Deutschen hätten „aus der katastrophalen Geschichte unseres Landes zwischen 1933 und 1945 (…)  eine zentrale Lehre gezogen. Sie lautet: 'Nie wieder!' Nie wieder Krieg. Nie wieder Völkermord.“

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Von „Völkermord“ ist auch die Rede mit Blick auf den brutalen Eroberungsfeldzug Putins in der Ostukraine. Kein geringerer als der ukrainische Präsident selbst hat diese Losung ausgegeben: „Das sind Kriegsverbrechen und sie werden von der Welt als Völkermord anerkannt werden.“

Olaf Scholz hat dieses Narrativ in seiner Rede zum 8. Mai übernommen. Deutschlandfunk sprach darüber mit der Genozidforscherin Kristin Platt. Die sieht zwar klare Indizien für russische Kriegsverbrechen, „aber keine für einen Völkermord".

An dieser Stelle nicht zu vergessen: Redeanlass ist für Scholz das Ende des Krieges vor fast achtzig Jahren. Scholz ist gewählter Bundeskanzler der Deutschen. Aber kein einziges Wort zu den deutschen Opfern von Flucht und Vertreibung. Also keine Antworten für die überlebenden Opfer dieser Verbrechen. Denn den Verbrechen der Nationalsozialisten darf kein Völkermord an den Deutschen der Ostgebiete an die Seite gestellt werden.

Aber was fürchtet man bis heute? So eine Furcht wäre Rassismus, wenn sie sich 2022 an alle Deutschen richtete, als wären sie etwa Träger eines Nazi-Gens als Defekt im Genom.

Olaf Scholz spricht anlässlich des Kriegsendes nicht über jene Millionen Deutsche, für die die Befreiung alles andere als das war, die verhungerten, erfroren und in KZ-ähnlichen Unterbringungen vergewaltigt und/oder erschlagen wurden. Frauen, Kinder, Greise und im Hof junge Männer, die aufgegriffen und wegen ihrer Uniformen erst gepeinigt und dann einfach totgeschlagen und liegengelassen wurden.

Der Sprung in die Gegenwart: Olaf Scholz erinnert zu Recht an die große Hilfsbereitschaft der Deutschen, die sehr wohl unterscheiden können zwischen Wirtschaftsflüchtlingen aus Asien oder Afrika und echten Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine.

Man darf Olaf Scholz hier zustimmen:

„Mit offenen Armen haben wir hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen. Hunderttausende, die vor der Gewalt in ihrer Heimat bei uns Zuflucht finden. Hilfsorganisationen leisten erste Unterstützung, Schulen und Kitas richten Willkommensklassen ein, Bürgerinnen und Bürger nehmen Geflüchtete bei sich zuhause auf. Für diese enorme Hilfsbereitschaft überall in unserem Land danke ich Ihnen von Herzen!“

Der Bundeskanzler erwähnt, dass deutsche Waffenlieferungen in die Ukraine im großen Umfang weitergeführt werden: „Das setzen wir fort.“ Aber wenn schon Waffenlieferungen – müssten diese nicht zwingend mit dem Willen zu Verhandlungen verbunden werden?

Wer Waffen schickt, die nicht mehr nur der Abschreckung dienen, der muss im gleichen Maße Engagement zeigen, wenn es darum geht, Aggressor und Angegriffene an den Verhandlungstisch zu bringen. Wo sind diese deutschen unbedingten Bemühungen?

Scholz sagt:

„Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr diese Entscheidungen viele von Ihnen bewegen. Schließlich geht es buchstäblich um Krieg und Frieden. Um unsere historische Verantwortung.“

Nochmal: Es geht hier nicht um eine deutsche Verantwortung. Wenn man überhaupt von Verantwortung reden will, dann kann es nicht eine noch 2022 behauptete deutsche Kollektivschuld für den zweiten Weltkrieg sein.

Einer Schuldfrage werden sich die deutschen Politiker individuell stellen müssen, wenn es darum geht, zu fragen, wie man diesen Krieg auf dem europäischen diplomatischen Parkett hätte verhindern können. Und was das mit Russland und der transatlantischen deutschen Politik zu tun haben könnte.

Ein ganzes Volk in Haftung und Verantwortung zu nehmen, weil das Deutsche Reich unter der Herrschaft der Nationalsozialisten vor über 80 Jahren einen Weltkrieg entfesselt hat, ist schlichtweg falsch. Und es dient heute allein dem Ziel, eine Verantwortung der deutschen Außenpolitik unter Merkel und Scholz zu negieren.

Scholz bekräftigt in seiner Rede die Bündnistreue zu Partnern „in Europa und jenseits des Atlantiks“. Und er bekräftigt, dass Freiheit und Sicherheit für die Ukraine gegen den Aggressor siegen werden. Gut so.

Scholz formuliert zum Ende seiner Ansprache ein „Vermächtnis des 8. Mai“. Das bestände darin, über „Unfreiheit, Gewalt und Diktatur“ zu triumphieren. Über Gewalt hat der 8. Mai allerdings nicht sofort triumphiert. Erst, nachdem sich die Befreier an den Frauen ausgetobt hatten und hunderttausende deutsche Flüchtlinge und Vertriebene ermordet am Straßenrand lagen.

Ja, auch aus dieser Erfahrung speist sich das deutsche „Nie wieder!“ Olaf Scholz hat seine Landsleute am 8. Mai vergessen. Und wenn es um „Unfreiheit“ geht, die Bürger der DDR gleich noch obendrauf.

Oder wie es Katrin Göring-Eckardt für n-tv formulierte: „Deutschland ist in der Bringschuld.“ Die Grüne forderte ebenfalls: „Wir garantieren das in unseren Kräften Stehende zu tun, um die ukrainische Kultur, Sprache und Identität zu erhalten“.

Ist es jetzt und anlässlich des 8. Mai revanchistisch oder revisionistisch, daran zu erinnern, dass die Kulturen der Schlesier, der Ostpreußen, der Sudetendeutschen und anderer Volksgruppen durch Flucht- und Vertreibung ohne Gedenken einfach erloschen sind?

Alice Schwarzer hat mit ihrem offenen Brief couragiert vorgelegt. Aber wo bleibt jetzt der Appell der Deutschen zum 8. Mai an den deutschen Bundeskanzler und seine Regierung:

Fangt endlich an zu verhandeln. Nutzt eure Kontakte. Beendet diesen Krieg in der Ukraine. Stoppt, was der Aggressor Putin final losgetreten hat. Und wenn es nötig ist, liefert Waffen, welche die Verhandlungspositionen verbessern helfen. Aber dieser Wahnsinn muss enden. Und das kann nicht auf dem Schlachtfeld sein.

Der Boden in der Ukraine ist noch getränkt vom Blut eines Krieges, der am 8. Mai 1945 endete. Auch mein Großvater vergoss sein Blut bei Charkow. Er war kein Nazi. Er überlebte Krieg und Kriegsgefangenschaft.

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