Heimathass mit vergoldetem Schleifchen

Bundespräsident Steinmeier im Originalton: Pervertierte Demokratie von oben

von Alexander Wallasch (Kommentare: 19)

Abrissbirne der Demokratie© Quelle: YouTube/ Kanal: Stadt Donaueschingen Screenshot

Ausgewählte Bürger befragen Politiker: Zum "21. Donaueschinger Regionalgespräch" wird der Bundespräsident als Stargast erwartet. Ein unscheinbarer Termin mit einer Auftaktrede von Steinmeier, die wir hier ungekürzt veröffentlichen. Eine Analyse ist nicht mehr notwendig. Diese Rede darf man getrost als eine Kriegserklärung gegen Land und Leute verstehen.

Was ist Ihre Meinung zu dieser Steinmeier-Rede? Bitte schreiben Sie uns in den Kommentaren, in den sozialen Medien oder per E-Mail. Eine Zusammenfassung Ihrer Beiträge folgt in einem weiteren Artikel.

Frank-Walter Steinmeier ungekürzt und im Originalton:

"Wahlkampfreden hören Sie zur Zeit in Bayern und Hessen. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg stehen die Wahlkämpfer in den Startlöchern. Ich habe Ihnen heute eine eher nachdenkliche Rede mitgebracht, die uns hoffentlich Stoff zur anschließenden Debatte liefert. Beobachtungen, die nicht jeder teilen muss, über die wir uns aber austauschen müssen.

Ich freue mich sehr, heute Abend bei Ihnen zu sein. Das sage ich nicht als Floskel, sondern voller Überzeugung, wenn ich hier in den Saal blicke. Denn ich sehe lauter Menschen, die Verantwortung übernehmen, die hart arbeiten und unser Land am Laufen halten. Sie engagieren sich in der Kommunal- und Landespolitik, Sie arbeiten ehrenamtlich in Vereinen, Sie führen mittelständische Unternehmen und Handwerksbetriebe. Kurz gesagt: Die Mitte der Gesellschaft ist heute hierhergekommen. Darüber freue ich mich. Hier im Südwesten sind wirtschaftlicher Erfolg und Gemeinsinn zu Hause, hier paart sich Pragmatismus mit Innovationsgeist, hier leben und arbeiten Weltmarktführer mit Heimatliebe. Wenn man sich hier umschaut, könnte man also denken: In diesem Land ist alles in bester Ordnung.

Aber, meine Damen und Herren, entschuldigen Sie den harten Gegenschnitt, auch das ist Realität: Im vergangenen Jahr wurden mehr als vierhundert Waffen aus den Händen von Extremisten allein hier in Baden-Württemberg eingezogen. Allein hier im Land wurden im vergangenen Jahr mehr als tausend öffentlich Beschäftigte Opfer von Gewalt – dazu zählen Mitarbeiter in Krankenhäusern und Jobcentern, Lehrerinnen und Lehrer, Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungssanitäter. Da wird einer Bürgermeisterin ein Galgen in den Garten gestellt, weil jemand mit dem Bebauungsplan nicht einverstanden ist. Gemeinderäten werden Fäkalien in den Briefkasten gestopft, weil sie angeblich falsch abgestimmt haben. All das sehen wir auch in den anderen Bundesländern. Aber das macht es nicht besser. Gerade eben haben Rechtsextreme versucht, einen Vorsitzenden Richter in einem Prozess gegen mutmaßliche Mitglieder einer rechtsextremen Kampfsportgruppe per Video einzuschüchtern. Vor kurzem sind eine Lehrerin und ein Lehrer an einer Schule im Spreewald nach fortgesetzten Bedrohungen durch Rechtsextremisten aus Schule und Wohnort vertrieben worden.

Auch das ist unser Land im Jahr 2023. Leider! Das klingt nach einzelnen Fällen. Schlimm genug. Aber es geht längst um mehr! Es sind kleine und große Angriffe auf unser Zusammenleben, auf unsere Demokratie. Und das müssen wir ernster nehmen, als wir es tun!

Denn auch wenn unsere Gesellschaft stark ist, und dafür sind Sie alle der Beweis: Ich glaube, nie war die Gefahr größer, dass unsere Demokratie von innen heraus angegriffen wird.

Was verändert sich da? Warum erleben wir Dinge, die der politischen Kultur in diesem Land lange fremd waren? Warum verschieben sich die früher anerkannten Grenzen zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen – und das nicht nur in den sozialen Medien? Wir müssen etwas genauer hinschauen, auf das, was uns auseinandertreibt – und was aus Unzufriedenheit Wut macht und im Extremfall zu Hass führt. Ich will sprechen über drei Dinge: Populismus, Spaltung und Rückzug.

Und ich fange bei uns selbst an. Wer kennt ihn nicht: diesen Impuls, wenn nichts vorwärts geht und keiner weiß warum. Fast jeder wird dann schon einmal den Wunsch verspürt haben, die komplexen Probleme, die gewachsenen Verkrustungen, die widersprüchlichen Regelunge, das ganze Dickicht, die gewachsene Unübersichtlichkeit sollte einfach ein für alle Mal beseitigt werden.

Ich kann mir vorstellen, was Sie, die Bürgermeister, gerade alles auf Ihren Marktplätzen zu hören bekommen. Die Unternehmer in ihren Betrieben. Die Angestellten von ihren Kollegen. In den letzten Jahren hat sich eine Krise an die nächste gereiht, viele Menschen haben ganz konkrete Sorgen. Sie fragen sich: Kann ich demnächst noch meine Rechnungen bezahlen, wie teuer wird das Heizen im kommenden Winter? Gerät da gerade etwas ganz grundsätzlich aus dem Gleichgewicht, wenn die Mieten weiter steigen, wenn keiner mehr Lehrer werden will, wenn das Gesundheitswesen unter Überlastung ächzt und wenn uns allenthalben Fachkräfte fehlen? Berechtigte Fragen sind das, aber darüber hinaus baut sich etwas auf, das mehr ist als nur ein Grummeln gegen Berlin. Es wächst eine Mischung aus Angst und stiller Wut, und auf den Marktplätzen kann man diese Mischung manchmal erleben. Will mir der Staat morgen verbieten, meinen Garten zu wässern, in den Urlaub zu fliegen, mit meinen Freunden ein Steak auf den Grill zu werfen?, heißt es dann. Populisten schüren diese Ängste, beuten sie aus, sie verkürzen Zusammenhänge oder verbreiten Falschaussagen – immer mit dem Ziel, daraus politisches Kapital zu schlagen. Das gipfelt dann in der wilden Annahme, dass die Politik vielleicht gar einen großen, geheimen Plan verfolge. Die These von der großen Verschwörung ist schnell bei der Hand. Populisten triumphieren, wenn Menschen sich Sorgen machen.

Sie erinnern sich an einen Wahlkampf vor sieben Jahren in den USA, der uns fassungslos gemacht hat, und an eine Präsidentschaft Trump, die Europa und die USA für kurze Zeit entfremdet hat. Vielleicht haben wir bei uns in Deutschland zu lange geglaubt, dass wir die besseren Demokratien seien, dass unsere Geschichte uns ein für alle Mal gelehrt habe, nicht den einfachen Antworten aufzusitzen, nicht den Sündenbock zu suchen. Die Realität auch in unserem Land zwingt uns, darüber neu nachzudenken. In einer Gesellschaft, die unter Veränderungsdruck steht, ist offenbar auch heute noch der einfachste aller Reflexe die Suche nach schlichten Lösungen und vermeintlich Schuldigen. Und die sind in der Regel schnell gefunden: mal der Föderalismus, mal die Parteien, mal Koalitionen, mal deren Repräsentanten oder gleich die ganze „Elite“ aus Politik und Wirtschaft. Da ist eine große Sehnsucht nach dem einen Hebel, den wir bloß umlegen müssten, um alle Herausforderungen zu bewältigen. Populisten bedienen diese Sehnsucht. Sie gaukeln uns vor, es gebe ihn, diesen Hebel. Und die gewählten Politiker seien nur zu blöd, ihn zu bedienen.

Sie und ich wissen: Die Wirklichkeit in einer pluralen Gesellschaft mit einer Vielzahl von unterschiedlichen, teils auch gegensätzlichen Interessen ist komplizierter. Populisten öffnen ein Ventil für die Wut und die Angst, sie bieten aber keine Lösungen an. Wer einmal genau hinschaut, der sieht doch, dass Populisten immer dann nicht mit von der Partie sind, wenn es um das Aushandeln von Lösungen geht. Dafür braucht es Geduld, Hartnäckigkeit und die Bereitschaft, Kompromisse zu akzeptieren. Populismus hilft uns nie, um vorwärts und zueinander zu kommen. Er sucht die Antworten auf die Fragen der Zukunft in der Vergangenheit. So gewinnen wir die Zukunft nicht!

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will niemandem raten, seine Unzufriedenheit herunterzuschlucken. Im Gegenteil. Ja, man darf mit Fug und Recht zu jeder Zeit unzufrieden sein mit dem, was eine Regierung beschließt. Und man kann mit Fug und Recht von den verantwortlich Handelnden erwarten, dass sie ihre Entscheidungen erklären. Will sagen: Nicht jede kritische Frage ist schon verantwortungsloser Populismus. Aber das Wichtige ist: Erlauben Sie niemandem, Ihre Unzufriedenheit auszunutzen, um pauschal gegen „die da oben“ zu hetzen. Nicht nur, weil Sie hier im Saal – die meisten jedenfalls – mitgemeint sind, wenn am Stammtisch von „denen da oben“ geredet wird. Wenn die Autorität demokratischer Institutionen und der Respekt vor demokratischen Verfahren erst einmal zerredet und diskreditiert worden sind, werden daran auch Wahlen mit anderen Mehrheiten nur schwer etwas ändern können. Meine dringende Bitte: Reden wir mit Verantwortung über eine Demokratie, die uns siebeneinhalb Jahrzehnte getragen hat, mit der wir Krisen bewältigt, Wiedervereinigung geschafft und Europa gestaltet haben.

Es gilt im Großen wie im Kleinen: Es gibt Gründe für Unzufriedenheit, aber verharren wir nicht darin. Formulieren wir Forderungen statt Denkzettel. Diskutieren wir es aus. Wo immer möglich: miteinander, weniger gegeneinander.

Lassen wir uns die Demokratie nicht von wenigen kaputtmachen. Wir haben nämlich keine zweite. Und denken wir immer daran: Demokratie ist nicht endgültig, sie ist immer im Werden, aber nie auf Ewigkeit garantiert. Sie ist allerdings die einzige Staatsform, die sich selbst korrigieren kann. Autokratische Systeme können das nicht, weil sie „sich nicht irren können“. Demokratie lebt jedoch nicht von den Paragraphen des Grundgesetzes, sondern sie lebt vom Willen und vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger.

Die Hartnäckigkeit, mit der Sie hier im Südwesten Wohlstand erarbeitet haben, immer wieder Innovationen erschaffen haben – nutzen wir diese Hartnäckigkeit für die Lösung der Probleme unserer Zeit. Dafür brauchen wir Sie alle. Bringen Sie sich ein! Treten wir den Vereinfachern gemeinsam entgegen, mit den Antworten, die die Vereinfacher nicht haben! Ich bin froh, Sie dabei an meiner Seite zu wissen.

Unser Land ist stark, weil es so vielfältig ist. Viele kamen schon in den 1960er und 1970er Jahren aus Südeuropa als damals sogenannte Gastarbeiter hierher, viele ausländische Studentinnen und Studenten studieren an Ihren Hochschulen im Land, Flüchtlinge, zuletzt insbesondere aus der Ukraine, sind dazugekommen. All die starken Unternehmen Ihres Landes haben jahrzehntelange Erfahrung darin, die unterschiedlichen Erfahrungen der Menschen im Land zu ihrem Besten zu nutzen. Und doch bringt unsere offene Gesellschaft auch Stress mit sich: neue Rollenbilder, Traditionen, die unter Druck geraten, Minderheiten, die ihren Platz einfordern, unterschiedliche Wertvorstellungen, die aufeinanderprallen. Das ist anstrengend, für jeden von uns.

Die einen reagieren darauf mit Verständnis und Mitgefühl, andere mit Abschottung, Abwertung und Ressentiment. Ohne Frage müssen wir in Europa endlich zu einer Verständigung kommen, wie wir Migration nach Europa so steuern, dass Überlastung einzelner Länder vermieden wird. Und es ist zynisch, dass einige Länder sich bisher einer fairen Regelung immer noch verweigern. Aber es geht auch nicht, dass die Menschen mit Migrationshintergrund missbraucht werden, um Unzufriedenheit ganz anderen Ursprungs loszuwerden. Mindestens ist auffällig, dass der Protest manchmal dort sehr laut ist, wo der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund ausgesprochen gering ist. Am Samstag rede ich in einem islamischen Kulturzentrum in Köln, und ich ahne jetzt schon, was sich an unerträglicher Hetze am Wochenende auf meinem Instagram-Account ansammeln wird.

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Auch in unseren Parlamenten, vom Gemeinderat bis zum Bundestag, ist Unsägliches sagbar geworden. Seit der Corona-Pandemie und dem Streit ums Impfen ist vieles neu in unserem Land. Da verunglimpfen Agitatoren auch in Stadtratssitzungen unsere Demokratie als „System“, als „Unrechtsregime“ oder gar als „Diktatur“. Die Erinnerungskultur, die doch Teil unseres nationalen Selbstverständnisses geworden ist, wird angegriffen, ein Ende des „Schuldkultes“ wird neuerdings propagiert. Aber auch: Ganze Gruppen werden pauschal verunglimpft und einzuschüchtern versucht.

Ich mache mir Sorgen um diese sprachliche und intellektuelle Verrohung: Wenn es auf einmal üblich wird, über Minderheiten herzuziehen, wenn Kinder an unseren Schulen als „Kopftuchmädchen“ bezeichnet werden und man mit aggressiver Missgunst und Neid über ukrainische Flüchtlingsfamilien spricht, dann öffnet das die Tür für Hass und Hetze. Und für ein Klima, in dem Extremisten Rechtfertigung für Gewalttaten suchen – Halle und Hanau sind uns in Erinnerung.

Aber auch viele Kommunalpolitiker wissen, wovon ich spreche. Da wird das Demonstrationsrecht missbraucht, um Kommunalpolitiker unter massiven Druck zu setzen, indem man sie bis vor ihre Privathäuser verfolgt und dort bedroht – das war so in Altenburg, wo die Demonstranten gegen die Coronamaßnahmen beim Bürgermeister daheim klingelten und dessen Kinder in Angst und Schrecken versetzten. Hier müssen Versammlungsbehörden alle Möglichkeiten ausschöpfen. Und auch im Gemeinderat, wenn dort verbale Grenzen verletzt werden, müssen die anderen über Parteigrenzen hinweg zusammenstehen und laut werden. Jedes einzelne dieser Beispiele mag uns für sich genommen nicht als brandgefährlich erscheinen. Aber die Gefahr ist real. Wenn Extremisten auf diese Weise einen Fuß in die Tür der Demokratie bekommen, können sie sich in unserer Mitte breitmachen.

Wer hasserfüllt spricht, der hilft nicht der Demokratie, sondern dem Hass. Wer den politischen Gegner zum Feind stilisiert, der hat nichts anderes im Sinn, als alle anderen mundtot zu machen. Wer Fake News verbreitet, macht dies zur Durchsetzung seiner eigenen Interessen, der will die Gesellschaft daran hindern, fair und vernünftig im größtmöglichen gemeinsamen Interesse zu entscheiden. Wer spaltet, will den Zusammenhalt zerstören, der unser Land – nicht nur hier in Donaueschingen – immer stark gemacht hat.

Das sind keine neuen Erkenntnisse. Wir haben das alles schon alle gewusst. Aber vielleicht müssen wir uns wieder erinnern, was uns stark gemacht hat: Einsatz und Engagement, Selbstbewusstsein, Zuversicht, der Blick über den eigenen Tellerrand hinaus.

So unterschiedlich wir auch sein mögen: Die Vorstellung, dass es jenseits unterschiedlicher Einzelinteressen darüber etwas gemeinsames Ganzes gibt – das ist der Schlüssel für ein friedliches Miteinander. Und Sie hier in Donaueschingen wissen das aus Ihrem Alltag: Dieses Miteinander ist, gerade in Zeiten des Fachkräftemangels und des Innovationswettlaufs, auch Voraussetzung für unseren wirtschaftlichen Wohlstand. Stärken wir also alles, was uns verbindet!

Was wir brauchen, ist eine starke Mitte, die sich zu Wort meldet. Allein hier im Saal ist mit Ihnen allen so viel Lebenserfahrung, so viel Fachwissen, so viel Klugheit und Geschick versammelt. Heben wir diesen Schatz, und erheben Sie Ihre Stimme – denn wir brauchen Sie.

Ich kann schon verstehen, dass diese Bitte nicht nur Begeisterung hervorruft. Die meisten haben genug zu tun mit den Sorgen des eigenen Lebens, der Familie, den Kindern, dem Job. Vielen fehlen Zeit und Energie, um sich zu beteiligen an Diskussionen, die gefühlt ewig dauern und doch zu wenig führen. Manch einer schweigt inzwischen lieber, weil er sich darum sorgt, ob er noch die richtige Sprache findet, ob er für einen Fehltritt am digitalen Pranger endet. Und wer hat schon Lust, sich in eine politische Diskussion zu begeben, wenn Streit und Krawall dominieren, wenn wir erlauben, dass wenige Laute die vielen Leisen niederbrüllen, wenn junge Leute, vor allem Frauen, sich in der Kommunalpolitik nicht mehr engagieren aus Angst, dass sie und ihre Familien angefeindet und angegriffen werden?

Demokratie wächst von unten auf. Wir brauchen die Jungen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen in den Kommunen und dafür Zeit und Arbeit zu investieren. Und die Älteren können sagen: Es lohnt sich! Nicht nur für die Demokratie, sondern auch für die Erweiterung des eigenen Horizonts. Die Dinge von mehreren Seiten betrachten zu müssen, berechtigte Interessen auszugleichen, Kompromisse zu schmieden, das schult auch fürs Leben. Das bringt einen weiter.

Und wenn es nicht das Mandat im Gemeinderat ist, dann kann es ja ein Ehrenamt sein. Viele Organisationen, Vereine und Initiativen klagen über Nachwuchsmangel. Die Millionen dort Engagierter sind das Rückgrat unserer Demokratie; dieses stabile Rückgrat brauchen wir dringender denn je, deshalb habe ich ja sogar die Idee einer sozialen Pflichtzeit in die Diskussion gebracht. Wer auf all das immer nur sagt: was geht mich das an?, dem müssen wir antworten: „Was geht mich das an?“ – dieser Satz ist eigentlich kein demokratischer Satz. Demokratie kann nur funktionieren, wenn sie die Sache aller ist! Deshalb bin ich unterwegs im Land. Deshalb gehe ich mit meinem Format „Ortszeit“ jeweils für drei Tage in kleinere und mittelgroße Städte, tauche ein in das örtliche Gespräch, rede mit den Menschen, diskutiere und werbe für Respekt für die Demokratie mit all ihren Unzulänglichkeiten. Und ich werbe für Engagement, damit wir das, was noch nicht gut ist, besser machen. Was ich dort sage, sage ich auch hier: Stärken wir denen den Rücken, die das Kreuz für unsere Gesellschaft breit machen! Übertönen wir die Schreihälse mit den vielen verschiedenen Stimmen einer starken, einer erfolgreichen Gesellschaft, die zusammenhält. Das, meine Damen und Herren, ist unsere Verantwortung in diesen Zeiten, das ist die Verantwortung einer starken Mitte, die nicht zulässt, dass unsere Demokratie kaputtgeredet wird!

Nicht nur die Regierenden in Land und Bund, auch die Mitte unserer Gesellschaft trägt Verantwortung für unsere Demokratie. Aber ein Blick in diesen Saal genügt, und ich weiß: Wir haben allen Grund zur Zuversicht!

Ja, wir leben in einer Zeit von vielen aufeinanderfolgenden Krisen, weltweite Finanzkrise 2008/2009, Eurokrise 2011, die eine Million Flüchtlinge 2015/2016, dann die Pandemie; die war noch nicht zu Ende, da begann der russische Angriffskrieg; jetzt die Preissteigerungen und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen. Und dazu all die Zukunftsaufgaben, der klimafreundliche Umbau unserer Wirtschaft, die digitale Erneuerung, der demographische Wandel. Große Aufgaben stehen an, um unser Land wieder auf den Wachstumspfad zu bringen. Große Aufgaben, die viele wichtige Branchen unseres Landes besonders fordern, die Geld kosten, die mühsam sind.

Die Wiedergewinnung von ausreichendem Wachstum ist kein Selbstläufer. Aber sollten wir nicht mit etwas mehr Selbstbewusstsein an die Aufgaben gehen? Wir sind mit fast sechs Millionen Arbeitslosen in das Jahrtausend gestartet. Die Last, Arbeitslosigkeit zu finanzieren, nahm gänzlich den Spielraum für Zukunftsaufgaben, internationale Wettbewerbsfähigkeit ging verloren. Auch aus dieser essenziellen Krise haben wir uns befreit. Es folgten eineinhalb Jahrzehnte im Rückenwind, die vieles möglich gemacht haben, auch Reserven für spätere Krisen geschaffen haben, durch die wir besser gekommen sind als viele unserer europäischen Nachbarn. Und jetzt: Ja, wir stehen vor Jahren mit Gegenwind. Das ist schwerer. Und die wirtschaftliche Lage ist nicht einfach. Aber die Segler unter Ihnen wissen: Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel richtig setzen!

Und das Gute ist: Wir haben ein Bild vor Augen, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen kann und muss. Unser Land, unser erfolgreiches Wirtschaftssystem soll bis Mitte des Jahrhunderts vollständig klimaneutral sein – und gleichzeitig wollen wir eine starke Industrienation bleiben, technologisch führend und weltweit vernetzt, aber eben auch widerstandsfähig und weniger verwundbar. Wir reduzieren einseitige Abhängigkeiten gegenüber anderen Ländern. Wir nutzen den digitalen Fortschritt, indem wir ihn zu unser aller Wohl gestalten. Ich bin mir sicher: Viele der Unternehmen hier in Donaueschingen haben sich schon auf den Weg gemacht.

Wie wir diesen Umbau schaffen können, darum muss sich unsere politische Debatte drehen. Um konkrete Lösungen, um technische Innovationen, darum, wie wir unser Leben verändern können und wollen. „Werkstatt des Wandels“ heißt eine Reihe, mit der ich Beispiele für eine gelingende Transformation besuche – in ganz Deutschland. Ob grüner Stahl bei Thyssen im Westen in Mülheim oder Elektromobilität bei VW im Osten in Zwickau, das ganze Spektrum von Maschinenbau bis KI in Baden-Württemberg – unsere technologische Basis für den Wandel ist da. Und wir dürfen auf dem Weg die Menschen nicht aus dem Blick verlieren, auch die nicht, die unsicher sind und Zweifel haben. Denn klar ist auch: Wir werden den Wandel nur schaffen, wenn alle etwas zu gewinnen haben.

Diese Herausforderungen verlangen uns eine ganz neue Art der Beweglichkeit ab – jedem und jeder Einzelnen von uns. Auf dem Weg zu unbekanntem Gebiet müssen wir in der Lage sein zur vielfachen Veränderung. Hier im Südwesten sehe ich, dass wir das können. Denn in den vielen kleinen, mittleren und gar nicht so kleinen Unternehmen, die es hier gibt, wird genau das schon lange gelebt. Hier, wo die vielen Weltmarktführer seit Jahren das Ranking der Patentanmeldungen in unserem Land anführen. Wer mit seinem Produkt bestehen will, muss ständig danach trachten, es zu verbessern und zu modernisieren. So gesehen, tragen Sie hier die Idee der permanenten Erneuerung quasi in ihrer DNA. Daher bitte ich Sie: Helfen Sie mit, diese Veränderungsbereitschaft und Zuversicht in unsere Gesellschaft zu tragen!

Wir müssen keine Angst davor haben, dass unser Land nicht in der Lage wäre, den Umbau zu meistern. Wir haben so viel technisches Know-how, Ingenieure und Facharbeiter – wir sollten wissen, mit welchen Schritten wir uns in die richtige Richtung bewegen.

Und ich bin fest davon überzeugt: Nur die Demokratie ist so beweglich, dass wir diese Veränderung, diesen Umbau meistern können. Denn besonders in Zeiten von großen Umbrüchen, in denen wir neue Antworten auf neue Herausforderungen brauchen, da brauchen wir die Debatte, den Wettstreit, die Kritik und die Möglichkeit zur Selbstkorrektur. Und: Nur wenn Sie sich daran beteiligen, kommt am Ende eine gute Lösung für alle raus. Meine Losung bleibt: Die Zukunft ist kein Schicksal. Machen wir was draus! Möglichst gemeinsam!"

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