Doch, einmal da regte sich etwas in den gepolsterten Vitra-Stuhl-Reihen in Reichstagsblau hinter dem Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz, der immer noch so wirkt, als sei er sein eigener Wiedergänger.
Konkret wurde es zappelig, als es darum ging, über die Impfpflicht abzustimmen, und Bundesgesundheitsminister Lauterbach schon insgeheim mit der großen Einheitsfront für den Zwangsstich mit dem so enttäuschend wirkarmen und umstrittenen mRNA-Stoff gerechnet hatte.
Aber der Unionsfraktion schwante wohl, dass das Maß damit endgültig voll wäre, wenn sie hier weiter die Demokratie ad absurdum führen. Also brachten CDU/CSU einen eigenen Vorschlag ein, der ebenfalls abgelehnt wurde, also war die Impfpflicht zunächst vom Tisch.
Darauf hätten sich diese möchtegernrebellischen Merkelnachfolger nun ausruhen und weiter jede echte Opposition blockieren können. Aber einer muss ja immer aus der Reihe tanzen und diese pseudooppositionelle Gemütlichkeit stören. In diesem Fall war das Tino Sorge, der gesundheitspolitische Sprecher der Union.
Dem Magdeburger Juristen mit Konrad-Adenauer-Stiftung-Stipendiat platzte der Kragen und er schrieb einen gepfefferten Brief an den amtierenden Gesundheitsminister. Nun könnte man denken, das Parlament wäre der bessere Ort für so eine Auseinandersetzung als der Postkasten.
Jedenfalls veröffentlichte die Welt – möglicherweise zur Enttäuschung von Sorge – den Brief hinter der Bezahlschranke, deshalb wollen wir aushelfen und ihn ebenfalls veröffentlichen, aber ohne dass dieses seltene Dokument eines Missklangs zwischen den etablierten Parteien Extrakosten verursacht.
Ihre Unterstützung zählt
Von einem „Brandbrief" ist jetzt die Rede. Das allerdings ist merkwürdig für eine eigentlich doch zur täglichen parlamentarischen Normalität gehören müssende Watschen gegen die Regierung.
Der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion lässt kein gutes Haar am Gesundheitsminister. Hier Sorges Brief ungekürzt und als seltenes Dokument einer Oppositionsarbeit aus der Nach-Merkel-Unionsfraktion im Deutschen Bundestag. Die Überschrift lautet bei Sorge: „Vertrauensverlust in der Gesundheitspolitik verhindern“.
„Sehr geehrter Herr Minister Lauterbach,
am Montag dieser Woche zogen Sie zum wiederholten Mal einen Gesetzentwurf Ihres eigenen Hauses zurück: Nachdem der Vorstoß zur Ex-Post-Triage ein verheerendes Echo fand, mussten Sie öffentlich versichern, diese käme nun doch nicht.
Ihre neuerliche Kehrtwende ist nur eines von zahlreichen Manövern, die in der Fachwelt, im Gesundheitswesen und vor allem bei den Bürgerinnen und Bürgern für wachsende Verunsicherung sorgen:
- Im März legte Ihr Ministerium einen Gesetzentwurf zur finanziellen Stabilisierung der GKV vor – nur um ihn wenige Tage später, wie nun auch bei der Triage, zurückzuziehen. Eine Neufassung steht bis heute aus.
- Obwohl sich der von Ihnen behauptete Mangel an Impfstoff als unbegründet erwies, orderten Sie im Frühjahr massiv nach. Das Ergebnis: Überschüsse von etwa 70 Millionen Dosen und zusätzliche Kosten von knapp 3 Milliarden Euro. Kritische Nachfragen dazu bezeichnen Sie lapidar als „Parteipolitik“.
- Am Ostersonntag schürten Sie medial Angst vor einer Corona-„Killervariante“, die sich seriös nicht prognostizieren lässt. Wie Sie das Land aber konkret für eine mögliche Herbstwelle wappnen wollen, lassen Sie indes offen.
- Statt die vollständige Evaluation von Corona-Maßnahmen durch den Sachverständigenausschuss voranzutreiben, bremsen Sie einen klaren gesetzlichen Auftrag aus und kritisieren diejenigen, die unbequeme Fragen stellen.
- In aktuellen Haushaltsberatungen blockiert Ihre eigene Koalition Gelder Ihres Ministeriums, um Sie dazu zu zwingen, die Cannabis-Legalisierung an die Spitze Ihrer Agenda zu rücken – ungeachtet der viel dringenderen Themen.
Sehr geehrter Herr Minister,
die Gesundheitspolitik unseres Landes steht still – und dies ausgerechnet in einer Phase, in der besonnene politische Entscheidungen gefragt sind. Wir erleben eine Gesundheitspolitik der Volten und Kehrtwenden, ein rastloses Hin- und Her von Ankündigungen und Rückziehern. Dies führt zu einem Vertrauensverlust – nicht nur bei den Bürgerinnen und Bürgern, sondern auch in der eigenen Koalition und bei betroffenen Institutionen, die an wegweisenden Entscheidungen nicht beteiligt werden.
Das Bundesgesundheitsministerium, das in der letzten Legislaturperiode zeitweise jeden Monat ein Gesetz vorlegte und teilweise gleichzeitig die Corona-Pandemie unter Hochdruck bewältigte, ist seit Ihrem Amtsantritt selbst mit einem zusätzlichen Staatssekretär in lähmender Stagnation gefangen.
Mehr noch: Statt im Ausschuss für Gesundheit mögliche Fehler einzuräumen, drohten Sie Ihren eigenen Beschäftigten zuletzt unverhohlen mit „personellen Konsequenzen“ im Falle von „Indiskretionen“. Welche Botschaft damit an die seit Jahren über Volllast arbeitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verbunden sein soll, entzieht sich meiner Kenntnis. Klar ist aber: Ein Minister sollte sich immer vor die eigenen Mitarbeiter stellen. Muss er ihnen nach wenigen Monaten im Amt drohen, hat er sein Haus nicht unter Kontrolle.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, bleiben Sie dem Gesundheitsausschuss des Bundes- tages fern – im Gegensatz zu Ihrem Amtsvorgänger in der letzten Legislatur. Nach Ausbruch der Pandemie entsprach es der guten Übung, dass er dem Ausschuss trotz zeitgleich stattfindender Kabinettssitzungen oft und ausführlich für Fragen zur Verfügung stand.
Seit Antritt der neuen Bundesregierung tagte der Gesundheitsausschuss an 16 Tagen, von denen Sie an gerade einmal 5 Tagen teilnahmen. Für einen konstruktiven demokratischen Umgang zwischen Parlament und Regierung und einen fairen Streit zwischen Regierung und Opposition ist das deutlich zu wenig.
Durch dieses Handeln droht das Ansehen der Politik insgesamt Schaden zu nehmen: bei den Gesundheitsberufen, in den Einrichtungen, vor allem aber bei den Versicherten, Patientinnen und Patienten und Pflegebedürftigen. So kann und darf es nicht weitergehen. Ich richte daher folgenden Appell an Sie:
Beenden Sie den Stillstand in der Gesundheitspolitik, schaffen Sie wieder mehr Vertrauen in Ihre Arbeit. Bringen Sie endlich die gesetzgeberischen Vorhaben auf den Weg, die 2022 wirklich drängen, insbesondere: schnelle finanzielle Planungssicherheit für Krankenkassen und die Pflege, frühzeitige Pandemie-Vorsorge statt Panikmache für den Herbst – und ein Haushaltskonzept, das nicht der Cannabis-Klientelpolitik zum Opfer fällt, sondern für das Gesundheitssystem die wirklich wichtigen Schwerpunkte setzt.
Und nicht zuletzt: Bitte stellen Sie sich öfter der konstruktiven Debatte im Gesundheitsausschuss und im Parlament. Als größte Oppositionsfraktion stehen wir dafür gern bereit und sind sicher: Es würde der Gesundheitspolitik und den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land guttun.
Mit freundlichen Grüßen
Tino Sorge MdB“
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