Aber der Reihe nach:
Mein Eindruck vom Apfeljahr 2022 geht so: Viele Früchte am Baum, leider nicht die größten, dafür aber sehr aromatisch. Eines allerdings wundert mich Jahr für Jahr aufs Neue und in diesem Prepper- und Hamsterjahr noch ein bisschen mehr:
Überall hängen ungepflückte und ungesammelte Mengen an Äpfelbäumen, man kann ja kaum hundert Meter fahren, um schon den nächsten zu entdecken: freistehend in verlassenen renaturierten Gärten, auf für jedermann zugänglichen Apfelwiesen oder beim älteren Nachbarn, der seine heruntergefallen roten Äpfel im Herbst braunschimmelig mit dem Rechen zusammenschiebt, um sie im städtischen Grüncontainer zu entsorgen.
Den Alten kann man verstehen, so ein Überangebot kann überfordern. Aber wo bleiben da seine Kinder und Enkelkinder? Bei Aldi kann man immer noch Äpfel bekommen, sie werden also gekauft.
Vielleicht liegt es ja daran, dass man in der kurzen Erntezeit und bis zum braun werden oder herunterfallen keine fünfundzwanzig Äpfel am Tag essen kann und zudem verlernt hat, was man mit einem Apfel alles anstellen kann.
Wir haben glücklicherweise eine Mosterei in der Nähe, untergebracht in einer alten Burg in einem überschaubaren Dorf am äußeren Rand des Harzes.
Die Burg ist für sich genommen schon ein Erlebnis. Aber kein touristisches im herkömmlichen Sinne. Hier leben Menschen, die in einem großen Kollektiv zusammenzuarbeiten. Und es scheint tatsächlich zu funktionieren, wir sehen Gesichter, die wir schon vor Jahren hier sahen. Hier werden auch Schafsfelle und Käse verkauft, jemand macht Holzarbeiten.
Der Gesamteindruck erinnert dabei weniger an eine professionelle Direktvermarktung wie aus einem grünen Gartenliebe-Hochglanz-Magazin. Das Leben innerhalb der Burg ist eine Zeitreise in eine Landkommune, eine sorgsam konservierte Szene aus der frühen Gründungszeit der Grünen.
Ja, es wirkt chaotisch. Ja, hier und dort fehlen Dachziegel, ein altes Sofa steht im Weg, ein Huhn mit nur einem Auge (oder hat es nur gezwinkert?) läuft vorbei, Unkraut wächst zwischen den uralten Innenhof-Pflastersteinen und unter einem provisorisch zusammengezimmerten vergitterten Auslauf sitzen kleine Küken und dröppeln so vor sich hin, wie es Küken überall auf der Welt veranstalten.
Für den Kurzbesucher ist das alles auf besondere Weise authentisch und mitreißend. Historienfilmer fänden hier ein Set vor, dass ihnen viel Arbeit an der Kulisse spart. Mittelalter mit dem vorsichtigen Selbstvertrauen der Jetzt-Zeit.
Ihre Unterstützung zählt
Viele Menschen tun sich heute schwer damit, über Kultur zu sprechen. Möglicherweise, weil sie darunter etwas intellektuell Bürgerliches oder künstlerisch Elitäres verstehen. Dabei benötigt eine Identifikation mit dem Eigenen gar kein schlaues Bekenntnis oder gar einen Initiationsritual. Hier geht es um das tägliche Erleben und um die Verinnerlichung.
Aber kommen wir endlich zur Mosterei in der Burg an diesem sonnigen Tag voller Geschäftigkeit. Amüsiert wie schon Jahre zuvor, stellen wir fest, dass hier immer noch nur Frauen damit beschäftigt sind, den Most zu machen.
Handwerklich ist das eine Arbeit, die auch ein schwerer Kerl am Abend in den Muskeln spürt.
Und so geht’s: Die Äpfel werden aus den mitgebrachten Kübeln und Tüten von außen in einen Auffangbehälter in der Wand geschmissen, der die Äpfel nach innen führt, wo sie unter lautem Getöse in einen großen silbernen Trichter hinein zerhäckselt werden.
Jetz muss alles schnell gehen, die Äpfel rücken ja von außen immer weiter nach. Zwei Frauen legen eine Sackleinentuch auf eine etwa einen Meter im Quadrat messende Platte, sie öffnen den Trichter für eine bestimmte Menge der kleingehackten Äpfel und verteilen diese gleichmäßig auf dem Tuch, das anschließend eingefaltet und gleich mit der nächsten Platte beschwert wird.
Nach dem Prinzip Torte wiederholt sich dieser Vorgang Schicht für Schicht. Dann wird der Apfeltuchplattenturm in die große Presse geschoben, der Saft wird unter hohem Druck ausgepresst und wandert anschließend unsichtbar in Kanälen im Boden ab.
Aber nur, um wenig später erhitzt und vorgefiltert in Halbwannen wieder aufzutauchen, aus denen dann per Schlauch die Flaschen per Hand heiß befüllt und verdeckelt werden. Jeder bekommt hier den Saft aus genau jenen Äpfeln, die er auch mitgebracht hat.
Beim Einfüllen in den Häcksler bekamen wir ein individuelles Holzstück mit der Nummer neun, damit uns nachher nicht das falsche Kind in die Wiege gelegt wird.
Was hier besonders auffällt, sind die eingespielten Prozesse. Hier hängt vieles schief, hier wird nicht für die Kulisse gearbeitet, sondern konzentriert dafür, dass die Äpfel zu Saft werden und die Erwartung einer bestimmten Haltbarkeit erfüllen. Rituale sind hier solche, die sich an der Jahreszeit und der Apfelernte orientieren.
Auf der Rückfahrt knacken und knallen die Deckel auf den Flaschen im Kofferraum. Die Abkühlung verringert die Ausdehnung, der Deckel ploppt so nach innen, später beim Öffnen des Saftes knackt es wieder, wenn der Unterdruck so aufgehoben wird.
Ihre Unterstützung zählt
Ins Glas gegossen ist das kein Apfelsaft, wie man ihn im Discounter bekommt. Nein, nicht einmal der im Bioladen kommt an diesen Saft heran. Die Mühen des Sammelns, der Akt des Pressens und diese lebendige mittelalterliche Kulisse sind auf magische Weise auch Teil des Geschmackserlebnisses geworden.
Und dann lagen da noch diese kleinen geviertelten Laibe Schafsgouda mit der dicken grauen Rinde in einem Körbchen auf dem groben Holztisch. Ich fragte eine der Frauen, ob ich das Käseviertel bei ihr bezahlen darf, sie lächelte freundlich und zeigte auf eine kleine zerschrabbelte Kinderspardose nahe beim Käsekörbchen, also schob ich das Geld hinein und den Käse einfach in die Tasche.
Diese besondere Mischung aus Vertrauen und dem steten Unwillen, diesen Bezahlvorgang zu professionalisieren, schafft eine vertrauliche Atmosphäre und ein Einvernehmen.
Dieses Einvernehmen einzufangen und festzuhalten, ist übrigens ein Grundrezept der Direktvermarktung. Werbeagenturen tun viel dafür, dieses Gefühl professionell in die Massenprodukte ihrer Kunden zu implizieren.
Hinten im Auto knackt und knallt es jetzt, als wäre ein Knallfrosch unter einer Wolldecke explodiert. Wir überlegen, kurz anzuhalten und den Saft jetzt sofort und einfach warm zu probieren, aber dann fahren wir doch weiter.
So ein Vorrat muss auch ein bisschen bevorratet werden und darf nicht holterdiepolter einfach weggetrunken werden. Die Wertschätzung für die einfachen Dinge ist gerade neu erwacht. Und darüber freuen wir uns gemeinsam.
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Kommentar von Hildegard Hardt
Kindertage entstanden vor meinem Auge, als ich diesen Artikel las. Wir waren für fünf Jahre vor den Bombenangriffen aus Berlin nach Gransee geflohenden und lebten auf einem kleinen Bauernhof. Großmutter kochte für alle, Mutter nähte für die Bauern, Vater arbeitete auf dem Feld und im Stall und ich lernte so einiges im Hausgarten. Auch Obstpflücken gehörte und ich erinnere mich noch, daß mir auf den hohen Leitern immer ziemlich schwummerig wurde.
Im Frühherbst haben wir auch Apfelsaft gemacht, aber wir hatten keine so noble Anlage, sondern das ging so: Im Waschkeller stand auf einem Holzbock ein großer hölzener Waschkübel. In ihn stellte Vater einen Holzblock, schüttete die gewaschenen Äpfel hinein und zerhackte sie mit Getöse in möglichst kleine Stückchen.
Die Saftpresse war damals das Eigentum mehrerer Kleinbauern und wurde auf einem niedrigen Pferdewagen hingefahren, wo man sie gerade brauchte. Nach dem Pressen - Vorgang wie oben geschildert - wurde der Saft in den kupfernen Waschkessel geschüttet, unter dem ein Holzfeuer brannte und einmal aufgekocht. Die Vitamine waren dann zwar nicht mehr ganz vorhanden, aber darüber machte man sich keine großen Gedanken. - In Flaschen abgefüllt, Deckel drauf, Etikett mit Datum aufgeklebt und ab in den Vorratskeller.
Drei Tage hatten wir meist zu tun, anschließend vom vielen Waschen runzlige Hände und einen ordentlichen Muskelkater. Aber als wir später im Westen waren, hat mir kein Apfelsaft mehr so gut geschmeckt, wie der selbstgemachte. - Oder verkläre ich nur die Kinderzeit?