Mir tat es mehr für ihn leid, als für mich. Denn auf den letzten Metern des Lebens erscheint mir Zeit noch einmal als besonders kostbares Gut, was natürlich eine Täuschung ist, denn der Sand im Glas rinnt stur und gleichmäßig durch die engste Stelle dorthin, wo es nirgends mehr weitergeht.
Seine Tochter sei Juristin, erklärte er am Telefon entschuldigend, verlegen, möglicherweise sogar eine Nuance drohend, aber ganz sicher nicht ohne Stolz. Und eben die hätte ihm abgeraten, auf dem zum Abdruck verabredeten Portal zu veröffentlichen. Dort gehe es politisch nicht korrekt zu und Schlimmeres, wusste die Tochter, und der alte Vater hat ganz ängstlich zurückgezogen.
Ich hatte den Text nicht für meine Seite geplant, ich musste die Absage also auch noch weiterreichen. Nun will man einem hochbetagten älteren Herrn keinen Ärger machen. Und noch weniger politische Aufbau- oder Aufklärungsarbeit leisten, um Gotteswillen, nein.
Wo sollte man auch bei jemandem ansetzen, der Ende der 1930er Jahren geboren wurde, zu erklären, was 2023 so verdammt in Schieflage ist? Wo ihm erklären, wie zustande kommt, was seine Tochter da im Wikipedia über besagtes Portal gelesen hat, und weshalb sie den Vater um seine finale Anerkennung bringt, indem sie ihm das Interview versagt?
Ich darf erwähnen, um was es in dem Interview thematisch ging, ohne Rückschlüsse auf den guten Alten zuzulassen: Der Mann war sein Leben lang beruflich im Wald unterwegs und konnte aus diesen fünfzig Jahren Waldstudium aus erster Hand und zuverlässig berichten, dass der Klimawandel definitiv nicht der Killer des Waldes ist oder gar die Borkenkäferplage ausgelöst habe.
Anekdotenreich und mit einer Ring um Ring gewachsenen Liebe zur Natur erklärte er mir mit sich von Minute zu Minute verjüngenden Stimme die uns bekannte Welt noch einmal ganz neu.
Er berichtete detailversessen – nein, detailverliebt! – von der Pflege des Waldes, die so wichtig sei für seinen Erhalt versus der Idee eines Nationalparks, welcher dem Borkenkäfer leichtes Spiel ließ und den Nachfahren nun so eine dystopische Ödnis hinterlässt.
Im Gegenzug erzählte ich dem Alten von meiner Großmutter, die 94 wurde und noch im hohen Alter mit dem Flechtkorb oder wenigstens einem Beutel bewaffnet hinauf zum Friedhof und an den Gräbern ihrer Eltern vorbei in den Wald ging, um Anmachzapfen einzusammeln.
Zapfenstreich
Wenn ich heute diesen Weg hinaufgehe, dann ist der Friedhof verwaist, über die alten Gräber ist nicht nur sprichwörtlich Gras gewachsen, das Grab der Großeltern ist ein Überlebendes, das letzte seiner Art, einfach nur deshalb, weil wir es pflegen und regelmäßig verlängern lassen. Bei uns klebt niemals ein gelber Zettel am Stein, wir wissen, wann es soweit ist, wieder ein paar Jahre nachzubuchen und damit anzuzeigen: Es ist noch jemand da, der sich erinnert. Und der diese Erinnerung auch bereit ist zu pflegen.
Gräber sind den allermeisten eine Bürde geworden, gleich den alten Fachwerkhäuschen. Neulich verschenkte einer sein geerbtes Fachwerkhaus an eine türkische Familie, er war sichtbar froh, dass er es los war, die Nachbarn schauten wochenlang verstört. Aber er war nur froh von diesen Erinnerungen, die ihm Last waren, befreit zu sein. So fuhr er viel schneller zurück in die Stadt, als er gekommen war.
Über all diese Erinnerungen sprach ich mit einem über Achtzigjährigen, der mir bis dato vollkommen unbekannt war und der seinerseits an so vielen Stellen einhaken und mit frisch gewecktem Vergnügen im prallvollen Album seines Lebens blätterte und berichtete.
Bis zurück in seine Kindheit waren wir über die Stunden des Gesprächs hinweggeeilt. Seine Mutter liebte den Wald, sie sangen beim Spazierengehen, und auch diese gebeugte Mutter hatte den Beutel für die Anmachzapfen immer dabei, stellten wir fest, um uns dann für den Moment zufrieden an der Übereinstimmung an ihr aufzurichten.
Nicht falsch verstehen, der Alte war im Gespräch alles andere als ein rührseliger Romantiker oder etwas ähnliches. Phasenweise erzählte er staubtrocken, sehr fachkundig und bemüht, die Datierungen zu seinen Erzählungen richtig zu setzen.
Aber das alles zusammen summierte sich zu einer emotionalen Kraft, aus der wie beiläufig – mir erschien es jedenfalls so – eine große romantische Erzählung entstand, die ich Ihnen nicht jetzt weitererzählen kann, weil eine Juristin vor den linksradikalen Autoren des Wikipedia in die Knie ging und nichts dabei fand, ihren über achtzigjährigen Vater einfach mitsichzureißen.
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Kommentar von .TS.
Sehr schade, eine Einschätzung wie die Lage aus Sicht eines nüchternen erfahrenen Langzeitbeobachters aussieht wäre sicherlich horizonterweiternd gewesen.
Vielleicht bietet sich doch andernorts noch die Gelegenheit den Inhalt des Gesprächs auf einem noch "unverdächtigen" Medium zu publizieren?
Offen bleibt allerdings die Motivation der besagten Tochter:
Wurde sie - eventuell auch nur durch die Berichterstattung - eingeschüchtert? Fürchtet dabei womöglich um die eigene Karriere?
Oder möchte sie nur, eventuell etwas überbehütend, ihren Vater vor Ungemach bewahren?
Ist sie selbst Teil des offiziellen Haltungsmeinungsmonopols?
Oder ist ihr, da Juristin, schon bekannt welche Instrumente das Regime noch alles gegen kritisch gebliebenen Klartext im Koffer hat?
PS: Vermute mal daß es sich bei besagtem Portal um einen Kollegen mit "R" im Namen handelt?