Von Vox über RTL bis Sat.1 – es gibt hier eine Reihe von Fernsehformaten, deren Sendezeit und -ort man hier nicht noch näher bewerben muss bis hin zu RTL2, wo beispielsweise die Welt über „Naked Attraction“ schreibt: „Das Konzept ist so bizarr, dass man kaum glauben kann, dass es von irgendwem genehmigt wurde.“ In Kurzversion erzählt: Nackte Menschen werden von unten hoch aufgeblättert und von der Moderatorin beispielsweise so kommentiert: „Oh, schau mal, ganz symmetrisch hängt er da“ oder „Ob das ein Blutpenis ist“?
Jetzt sind das erwachsene mündige Bürger, die sich dort auf den Zustand ihrer intimsten Körperregionen reduzieren lassen. Zwar mag bei dem einen oder anderen die geistige Verfassung in Frage zu stellen sein, aber was soll's, der Zuschauer kann angesichts solcher Erniedrigungen wegschalten. Anstand und Moral in der neuen Welt von Tinder – die Konsequenzen seines Tuns hätte jeder Teilnehmer im Vorfeld überdenken können: Selbst schuld.
Aber angesichts dessen, was dem deutschen Partysänger Ikke Hüftgold bürgerlich Matthias Distel bei Sat.1 passiert ist, sind solche pubertären Penisvergleiche moralisch geradezu integer: Es geht um die Vorführung von schwer missbrauchten Kindern in der Sat.1-Sendung „Plötzlich arm, plötzlich reich“. Es geht um eine mutmaßlich vollkommene Enthemmung der Produktionsfirma Imago TV, jedes einzelnen beteiligten Mitarbeiters vom Beleuchter bis zur Regie und einen, diese Produktion in Auftrag gebenden Sender Sat.1, der das Unaussprechliche gewagt hat und das Leid missbrauchter Kinder zusätzlich ausgeschlachtet und eine Familie der allergrößtes Leid widerfahren, ist noch über einen materialistischen Vergleich des Lebenskomforts gedemütigt hat.
Besagter Partysänger Matthias Distel und seine Familie sollten bei „Plötzlich arm, plötzlich reich“ die besser Situierten darstellen, einer Tauschfamilie kam die Rolle jener Bürger zu, die das Leben beschissen, hat. Das ist so ungefähr der reduzierte Inhalt dieses Trash-TV bei Sat.1 samt Wohnungs- bzw. Häusertausch. Ganz entfernt mag das eine Art Aschenputtel-Märchens ein, aber was der im Vorfeld leider maximal naive Sänger nicht ahnen konnte: Märchenhaft war hier gar nichts mehr, die Familie des Sängers stand schon nach zehn Minuten Dreh weinend vor der Kamera in der Wohnung der armen Leute.
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Und was hier maximal schockiert hatte war nicht die Armut selbst, nicht die Umgebung, in der die Kinder der Tauschfamilie aufwachsen. Die Tränen flossen laut Distel, als er „in der Wohnung einen Kalender sah, der die letzten sechs Monate der Familie dokumentiert. Jedes Familienmitglied hatte seine eigene tägliche Spalte. Die zwei jüngsten Kinder sowie die Mutter befinden sich laut Eintragungen auf diesem Kalender in psychologischer Behandlung.“
Aber es sollte noch schlimmer kommen. Denn Distel erfuhr nach eigenen Angaben noch vor laufender Kamera „dass die Kinder in der Vergangenheit durch ihren eigentlichen Vater schwerste Kindesmisshandlungen erlitten haben sollen.“ Der prominente Künstler brach daraufhin nach etwas mehr als zwei Tagen die Dreharbeiten ab. Später erfuhr er zudem, dass die Produktionsfirma „über die Behandlung der Kinder Bescheid wusste!“. Und dennoch wurden die Dreharbeiten angesetzt.
An der Stelle muss man die Frage stellen, warum es Menschen wie Distel für ein bisschen Ruhm mehr überhaupt so weit kommen lassen. Der Sänger lebt ja von der Aufmerksamkeit der Fernsehzuschauer. Ihm zugutehalten muss man den Abbruch der Dreharbeiten zum Schutz der Kinder. Distel zog die Reißleine auch seines eigenen Irrweges.
Ja doch, ein kurzes Nachdenken darüber was man da bereit ist zu tun, hätte ausreichen können nicht an so etwas teilzunehmen. Möglicherweise führten Einnahmeausfälle durch die Corona-Auftrittsbeschränkungen zum Rotieren des moralischen Kompasses – der sofortige Abbruch der Dreharbeiten war aber dann die Notbremse für Distel. Seine Anklage auf Video per Instagram erscheint zutiefst glaubwürdig, so wie er Zeugenaussagen und Dokumente für seine Aussagen gesammelt hat, die möglicherweise am Anfang von rechtlichen Schritten gegen die Verantwortlichen TV-Macher stehen könnten.
Was macht Sat.1? Der Sender geht in die Offensive und bedankt sich bei Distel für die „Hinweise“, wie man es bei Sat.1 nennt. „Unmittelbar nachdem wir seine Mail erhalten haben, haben wir begonnen, mit der Produktionsfirma und der Familienhilfe zu reden, um der Familie zu helfen und um die Zusammenhänge aufzuarbeiten.“
Fast achtzehn schmerzliche Minuten lang dauert das Instagram-Statement aus der weißgetünchten Edelküche von Distel alias Ikke Hüftgold. Im Hintergrund moderne Kunst, wie sie wohl ohne einen Abbruch der Sendung nach Idee der Produktionsfirma Imago TV die traumatisierte Mutter mit den vom Vater misshandelten Kindern in Erstaunen hätte versetzen sollen.
Distel nennt im Video, woran er ursprünglich teilnehmen wollte, ein „soziales Tauschexperiment“. Den Tausch der Wohnorte, das Nachleben der Leben der anderen. Was sowas wie die Distanz vom Millionär zum Flaschensammler meint, wurde jetzt vom Partysänger zur psychisch schwer verletzten Familie neu vermessen. Auf einer Skala von 1-100 müsste der Schamfaktor der Produzenten und des Senders eigentlich durch die Decke gehen: Ein krasses Beispiel auf jeden Fall dafür, wie Reichtum tatsächlich bisweilen zustande kommt und was für ein moralisch verdrecktes Milieu sich in einer Produktionsfirma ausbreiten kann.
Distel weist darauf hin, dass alle am Dreh beteiligten Personen zuvor überprüft, wurden samt ihrer Lebensumstände. Distel spricht von neun Drehtagen, die eingeplant gewesen sind. Und er erzählt von einer stattlichen Gage. Ober er die Summe aus Scham oder vertraglichen Gründen nicht nennen mag, erzählt er nicht. Distel nutzt die Minuten aus, die Vorkommnisse sehr akribisch nachzuerzählen, er liest aus rechtlichen Gründen ab, will wohl Klagen der Produktionsfirma bzw. von Sat 1vermeiden. Abgebrochen hätte er den Dreh letztlich aus „ethisch-moralischen“ Gründen.
Schon zehn Minuten nach Betreten der Wohnung stand Familie Distel also weinend vor der Kamera in der fremden Wohnung. Auch die Redakteurin wäre irgendwann in Tränen ausgebrochen, so Distel, alle konnten es kaum fassen, dass in diesem Haushalt vier Kinder leben sollten.
Der Party-Sänger erzählt weiter, man hätte dann nach und nach die Räumlichkeiten erkundet. Spätestens hier allerdings muss man stutzen. Denn warum wurde die Wohnung nicht sofort verlassen? Welche Neugierde hielt davon ab? Eine geschlagene Stunde (und dann noch zwei Tage) hielten sich Familie Distel und das Drehteam gemeinsam in der fremden Wohnung auf, die schon nach zehn Minuten alle zu Tränen gerührt haben soll. Erst dann wurde die Kamera ausgeschaltet.
Aber Familie Distel blieb weiter in der Wohnung, wie Distel via Instagram berichtete! Auf der Inspektion durch die Wohnung fand man dann einen Kalender, dessen Einträge das Leben der Familie in den letzten sechs Monaten dokumentiert. Die Mutter und die beiden jüngsten Kinder (acht und zehn Jahre alt) befinden sich laut Eintragungen im Kalender – so Distel – in psychologischer Behandlung. Auch darüber hätte die Produktion schon zuvor Bescheid gewusst.
Matthias Distel begann in der Nachbarschaft zu recherchieren, berichtet er via Instagram. Am Folgetag stand das Drehteam um 6:30 Uhr vor der Tür, Distel hatte also samt Familie die Nacht dort verbracht. Nach zwei Tagen wurde Distel laut eigener Aussage vom Drehteam darum gebeten, seine „Stimmung doch bitte ins Positive zu drehen, damit die Geschichte in ein Happy End gedreht werden konnte.“ Ihm wurde zeitgleich erzählt, die Tauschfamilie wurde sich bei ihm in Limburg sehr wohl fühlen und hätte „eine tolle Zeit.“
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Über ein im Redaktionsplan stehendes Gespräch vor laufender Kamera mit einer Freundin der Familie erfuhr Distel dann von schwersten Misshandlungen an den Kindern durch den „eigentlichen Vater“. Diese Auskunft führte nach zwei Tagen endlich zum sofortigen Abbruch der Dreharbeiten seitens Distel.
Laut Distel wussten „ausnahmslos alle beteiligten Redakteure sowie der Aufnahmeleiter“ spätestens am ersten Drehtag, „dass mit schwer traumatisierten Kindern gedreht wurde.“ Distel nennt hier explizit auch die Geschäftsführung von Imago TV namentlich und befindet, diese Person „musste diese Information gehabt haben.“
Es ist sichtbar schwer für Distel dies zu erzählen. Eine Redakteurin sei weinend zusammengebrochen und hätte ihm eine Nachricht vom vorherigen Tag gezeigt, wo sie die Zustände angemahnt und ihren Unmut geäußert hatte, dass hier mit traumatisierten Kindern gedreht wurde.
Aber es kommt noch viel viel schlimmer. Denn die Redakteurin erzählte Distel daraufhin auch, was wirklich und real parallel in der Wohnung von Distel passiert wäre. Distel und die Redakteurin telefonierten mit den Aufnahmeleiter bei der anderen Familie in Distels Wohnung. Und der begann zu erzählen, was Distel in seinem Instagram-Video aus der Erinnerung nur emotional sehr angefasst und unter Tränen wiedergeben kann:
Ein Junge hätte mehrfach seinen Kopf an Distels Zimmerwand geschlagen, um sich selbst zu verletzen. Auf dem Weg zum Außendreh hätte sich dieser Junge eingekotet. Der andere der jüngeren Geschwister hätte auf dem Balkon im vierten Stock gestanden und dem Drehteam mitgeteilt, dass er sich jetzt umbringen würde. Auch hätte es mehrere Schlägereien der beiden jüngeren Kinder gegeben.
Der Aufnahmeleiter in Distels Wohnung erzählte, dass jeder dieser Vorfälle der Chefetage der Produktionsfirma direkt übermittelt wurden. Das Format wurde nicht abgebrochen. Der Dreh wurde fortgeführt.
Distel fasst zusammen:
„Ethik, Moral, Anstand und das Kindeswohl wurden dabei vollkommen und in meinen Augen vorsätzlich ignoriert.“
Und weil mit dem weiterführenden Bericht des Künstlers längst auch der emotionale Anschlag für den Autor hier weit überschritten ist, nur so viel: Distel spricht mit dem ältesten Sohn der Familie, der berichtet, dass die Stuhlinkontinenz des Jüngsten ursächlich auf Verletzungen aus dem Missbrauch am Kind zurückzuführen seinen. Zudem lägen schwere Rückenverletzungen durch Tritte des leiblichen Vaters vor.
Weitere Einzelheiten seien noch unvorstellbarer, so Distel. Die Familie durfte dann noch einen weiteren Tag in der Wohnung von Distel bleiben, um die Kinder nicht weiter zu traumatisieren.
Aber was ist in diesem Land los? Was sind das für Menschen in so einer Produktionsfirma, was sind das für Menschen bei Sat.1, die glauben, die Sensationsgier der Massen mit so unerträglichem Elend befriedigen zu müssen oder zu dürfen? Hier haben offensichtlich nicht nur einer, hier habe viele Menschen aus Geldgier oder Angst um ihren Job brutal weggeschaut. Party-Sänger Ikke Hüftgold hat diesen unfassbaren Mist zunächst ebenfalls mutmaßlich aus Geldgier mitgemacht. Aber dann hat er sprichwörtlich in letzter Minute Menschlichkeit, Mitgefühl und Mut bewiesen.
Entlang der Aussagen von Distel sind die Produktionsfirma und dieser Sender drei Etagen tief unter dem Gully angekommen: Widerlich ist noch eine zu geringe Bezeichnung für diese ungeheuerliche Entmenschlichung der schon von Distel aufgezählten Verantwortlichen. Die erste Entschuldigung von Sat.1 ist ungenügend. Da muss wesentlich mehr folgen. Ein Umdenken.
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