Man kann hierüber lachen oder nachdenken

Olaf und die kleinen Fische

von Alexander Wallasch (Kommentare: 12)

Ich bin in der Sozialarbeit tätig, kümmere mich um die Fische, die bodennah im Faulschlamm eines schlecht gepflegten Aquariums um ihr Überleben kämpfen.© Quelle: Mira Liberta

Heute möchte ich Ihnen Mira vorstellen. Vor einigen Tagen schickte sie mir eine kleine Sammlung ihrer wundervoll sanften und nachdenklichen Texte, die ich Ihnen gern immer Sonntags vorstellen möchte. Herzlich, Ihr Alexander Wallasch.

Von Mira Liberta

Politiker könnte man mit Aquarianern vergleichen und die Politik mit Aquaristik. Der Aquarianer sitzt in seinem geräumigen, gut geheizten Wohnzimmer und hält sich dort ein „Zierfischbecken“. Er sollte sich um seine Fische liebevoll kümmern, das Aquarium hegen und pflegen. Er gibt den Fischen ihre Lebensbedingungen vor, er bestimmt die Wassertemperatur und reguliert diese.

Er reguliert auch die Luftzufuhr und sorgt für die Fütterung der Fische. Er hat dafür zu sorgen, dass seine Fische genügend frisches Wasser haben. Trotz alledem lebt er in Distanz zu seinen Fischen. Denn zwischen ihm und den Fischen befinden sich die Glasscheiben des Aquariums. Die Welt seiner Fische ist nicht seine Welt. Wenn ein Aquarianer sein Aquarium schlecht pflegt, sich nicht adäquat um seine Fische kümmert, bildet sich rasch Faulschlamm am Bodengrund, der Sauerstoffgehalt sinkt stetig, vor allem in den bodennahen Wasserschichten, und es werden einige Fische sterben – in den untersten Wasserschichten zuerst.

Aber auch das tangiert einen so gearteten Aquarianer nicht sonderlich. Denn die toten Fische entsorgen sich entweder von selbst, indem sie von anderen Fischen oder Schnecken gefressen werden, oder der Aquarianer fischt sie einfach mit einem Löffel aus dem Wasser und löst das Problem aktiv – am einfachsten mit der Wasserspülung seiner Toilette – und weg ist der Fisch.

Ich bin in der Sozialarbeit tätig, kümmere mich um die Fische, die bodennah im Faulschlamm eines schlecht gepflegten Aquariums um ihr Überleben kämpfen. Täglich unternehme ich Tauchgänge dorthin, um das Schlimmste zu verhindern oder abzumildern. Hierüber möchte ich berichten.

Die letzten verbalen und nonverbalen Ausfälle unseres „Chef-Aquarianers“ Olaf haben mich sehr beeindruckt. Ich möchte seine Ausführung zitieren, welche er schon vor einer Weile im Gespräch über die Nöte und Sorgen der Menschen in unserem Land, nach einem offenem Bürgerdialog, über einen existenzbedrohten Bäckermeister hämisch lachend im äußerte:

„Da wusste ich gar nicht, wie traurig ich gucken sollte!“, so seine Aussage, welche er auflachend und grinsend von sich gab.

Er ist der Typ eines Aquarianers, der sich um die ihm anvertrauten Fische nicht liebevoll kümmert, aber in jedem Aquarienklub kluge Vorträge über die rechte Art der Fischhaltung hält. Daher möchte ich nun gerne ein paar Geschichten aus meinem täglichen Leben zum Besten geben – Geschichten von Fischen im Faulschlamm, denen Luft und Nährstoffe ausgehen, von Menschen um uns herum, über die man sich kaputtlachen kann, es jedoch unterlassen sollte.

Deren Realität ist ebenso unlustig wie die Geschichte des zuvor erwähnten Bäckermeisters, der seine Backstube erst kürzlich von Elektroöfen auf Gasöfen umgestellt hat und sich nun hilflos und ratsuchend an Olaf wandte. Die Wirklichkeit ist kalt und klamm und traurig – jenseits der komfortablen Elfenbeintürme von Bundestag und Bundeskanzleramt.

Es fühlt sich an, als wäre es Nacht. Doch es ist erst kurz nach 18.00 Uhr und stockdunkel, als ich die Tür, welche Haustür und Wohnungstür in Einem ist, ins Schloss ziehe, um die knapp hundert Meter zu meinem Auto zu gehen, vorbei an spärlich beleuchteten Fenstern, die mir doch Einblicke in die Lebenswelten der jeweiligen Bewohner erlauben.

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Ich verlasse das kleine Apartment von Julia, welche gerade unerwartet ihren Vater verloren hat und heillos damit überfordert ist, die erforderlichen Dinge rund um die anstehende Beerdigung zu regeln, weil Julia mit sich selbst überfordert ist. Julia ist krank und lebt von der Grundsicherung. Julia bedankt sich zum Abschied, die Nase hochziehend und schniefend, dass ich so spät und kurzfristig noch vorbeigekommen bin. Julia tut mir leid.

Ein leises „Hallo!“ lässt mich erschrecken. Direkt neben der Eingangstür von Julia befindet sich die Eingangstür von Natascha, welche im Dunkeln, in der Hocke rauchend, genau vor dieser sitzt. Natascha hat die kleine, völlig überteuerte Wohnung erst vor kurzem bezogen. Die Wohnung stand länger leer, denn niemand war bereit, den überzogenen Preis hierfür zu zahlen.

Mit Natascha ist hier jedoch wieder Leben eingekehrt, manchmal ein wenig zu viel. Die Wände sind sehr dünn, die Wohnungen nur spärlich möbliert, so dass es widerhallt, was zu häufigen Streitigkeiten zwischen den Nachbarn führt. Die sprachlichen Barrieren kommen dazu. Ich lächle Natascha an und frage sie auf Russisch, wie es ihr geht.

Natascha freut sich immer, mich zu sehen, gibt es hier doch nur wenige Leute in ihrem direkten Umfeld, die sie verstehen oder mit denen sie sich austauschen kann. Sie kommt aus der Ukraine. Natascha lächelt zurück und erwidert, dass es ihr soweit gut geht, ebenfalls auf Russisch.

Ich hebe kurz meine Hand und winke ihr zu: „Dann bis nächste Woche!“, antwortet sie mir, kleine Rauchwolken ausstoßend, und winkt ebenfalls mit der Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger.

Ich ziehe meinen Mantel fester zusammen. Es war kalt in Julias Wohnung. Julia hat Sorge vor der Nebenkostenabrechnung und weiß jetzt schon nicht mehr, wie sie die gestiegenen Energiekosten bezahlen soll. Julia hat eine genetisch bedingte degenerative Erkrankung des Bewegungsapparates, eigentlich braucht sie Wärme.

Ich gehe weiter, vorbei an Knuts Wohnung. Knut ist kognitiv stark eingeschränkt – leidet an sogenannter „intellektueller Minderbegabung“ – und arbeitet in den Werkstätten für behinderte Menschen. Knut liegt, die Wolldecke bis zum Kinn hinaufgezogen, auf dem Sofa und schaut fern. Seine Katze liegt dicht neben ihm und leistet ihm Gesellschaft, eine andere hat er nicht. Knut bemerkt nicht, dass ich vor seinem Fenster innehalte. Er scheint versunken in das Fernsehprogramm. Ich denke noch kurz, dass er vielleicht mehr Unterstützung gebrauchen könnte. Die Jalousie ist halb runtergerissen und es sieht sehr verkramt aus. Mit einem Lächeln bedenke ich den einsamen Knut und ziehe weiter.

Das Apartment von Sabine und Kai ist unbeleuchtet. Die beiden sind ein fleißiges Pärchen und zusammen als LKW-Fahrer auf Achse. Sie sind kinderlos und kommen nur am Wochenende nach Hause. Ich bewundere sie. Die ganze Woche über teilen sie sich eine Fahrerkabine, um dann das Wochenende auf knapp dreißig Quadratmetern zu verbringen. Aber möglicherweise erscheinen ihnen dreißig Quadratmeter groß nach der Enge des Fahrerhäuschens. Sie fahren durch halb Europa und doch ist ihre Welt so klein daheim. Am Wochenende feiern sie ihre Hochzeit mit den Nachbarn in einer kleinen Runde, in einer der letzten Gaststätten, welche die letzten Jahre überlebt und noch geöffnet haben, wenngleich inzwischen auch unregelmäßig.

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Die Wohnung an der Auffahrt zur Straße wirkt wie ein Aquarium. Große, unverhüllte, breite Fenster lassen mich in das Wohnzimmer von Helmut schauen. Helmut lebt ebenfalls allein. Auch er schaut fern. Er sitzt auf seinem Sofa, eine Schale zwischen den Händen, die er immer wieder zum Mund führt. Vielleicht eine heiße Brühe oder Suppe, überlege ich. Inzwischen ist der Bewegungsmelder angesprungen und gibt mich preis.

Helmut nickt mir kaum merklich zu. Ich fühle mich ertappt und lache ihm entschuldigend zu. Jetzt lachen wir beide, für den anderen jeweils stumm hinter der Glasscheibe. Auch Helmut ist erst kürzlich hier eingezogen. Auch diese Wohneinheit stand lange leer, noch länger als die Wohnung von Natascha. Es ist die älteste und am wenigsten isolierte Wohnung in diesem Strang. Der Backstein wirkt wie aus den sechziger Jahren, die großen Fensterfronten erinnern an die Bauweise der achtziger Jahre. Helmut lebt von seiner Erwerbsminderungsrente, er hat kein Geld für Jalousien oder Gardinen, unabhängig von den gestiegenen Preisen und Kosten. Die Energiekosten werden Helmut erschlagen. Damit wäre das Problem gelöst.

Ich drücke auf meinen Autoschlüssel und höre das vertraute Klicken der Zentralverriegelung. Bevor ich losfahre, werfe ich einen Blick auf mein Handy. Ein verpasster Anruf von Rosi.

Rosi heißt eigentlich Roswitha, jedoch nennt sie niemand so. Sie hat mir eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen. Rosi möchte wissen, wann ich morgen zu ihr komme und ob ich mich darum gekümmert habe, dass jemand kommt, um ihre laufende Spülung zu reparieren. Wenn der Spülkasten nur ihr einziges Problem wäre! Rosi lebt in einer kleinen, dunklen, schimmeligen, viel zu engen Wohnung, die keine zwanzig Quadratmeter misst. Nein, es ist keine Wohnung. Es ist ein Loch, vollgestopft mit all ihren Habseligkeiten. Ihr Rollator steht zusammengeklappt in einer Ecke, da sie ihn in dieser Rumpelkammer nicht benutzen kann. Rosi ist gangunsicher. Aber in der Enge ihrer Räumlichkeiten ist es fast unmöglich zu stürzen. Also auch hier, Problem gelöst.

Das Problem ist gerade vielmehr Rosis Durchblutung. Rosi ist alt und friert ständig. Da helfen auch keine Wollpullover und Strickjacken. Das Frösteln kommt von innen, Rosis Gefäße sind dicht. Rosi ist krank, körperlich und psychisch, sie möchte jedoch in keine Pflegeeinrichtung.

Rosi versteht nicht, dass fünfundzwanzig Grad nicht mehr zulässig sind. Also schaue ich Woche für Woche und Tag um Tag nach Rosi, drehe pflichtgemäß und mit einem entschuldigenden Lächeln ihre Heizung runter und ziehe ihren Zorn auf mich, wohlwissend, dass sie diese wieder aufdreht, sobald ich weg bin. Eine Familie hat Rosi nicht. Ich rufe Rosi kurz zurück und beschließe dann, mich jetzt erst einmal um meine eigene Familie zu kümmern. Mir ist kalt, schweinekalt.

Später am Abend telefoniere ich mit meinen Eltern. Sie haben sich vor ein paar Monaten eine neue Gasheizung einbauen lassen müssen. Da sie in einem sehr alten Haus leben, war das die einzige finanzierbare Möglichkeit. Eine Wärmepumpe bot keine Alternative. Sie hätte neben dem energetischen Nonsens den finanziellen Ruin bedeutet. Und so sitzen meine Eltern nun in ihrem Häuschen, bekleidet mit Pullovern und Strickjacken unter einer dicken Decke und schauen „Lanz“ oder „Anne Will“. Die neue Gastherme ist ausgestellt, solange es noch irgendwie geht. Wenn sie heißes Wasser brauchen, erhitzen sie es mit einem Wasserkocher. Zusätzlich haben sie sich elektrische Wand-Paneele gekauft, die sie jetzt ebenfalls nicht nutzen, da die Strompreise ebenso gestiegen sind.

Meine Eltern haben ihr Leben lang gearbeitet. Ist es fair, dass ihnen ein solches Dasein im Alter beschieden ist? Und jetzt frage ich: Sind das alles diese bauchmuskelzerrenden Geschichten, die unseren Olaf zum Lachen animieren?

Einen Moment bitte, eine kleine Geschichte habe ich noch: Meine Schwiegereltern haben ebenfalls fleißig bis zur Altersrente gearbeitet. Mein Schwiegervater wird demnächst siebzig und arbeitet immer noch zusätzlich in einer Firma, welche Dächer und Keller saniert und abdichtet. Dieses hat zwei Gründe: Zum einen findet die Firma keine neuen fachkundigen Mitarbeiter unter all den Arbeitslosen, zum anderen sind meine Schwiegereltern auf diesen Zuverdienst angewiesen.

Auch sie mussten sich vor ein paar Jahren eine neue Gastherme einbauen lassen und konnten sie sich nicht in Gänze leisten, so dass wir ihnen unter die Arme gegriffen haben. Das ist selbstverständlich, das macht man so innerhalb der Familie. Es ist jedoch nicht selbstverständlich, wenn man nach einem vollen Arbeitsleben nicht von seiner Rente leben kann und daheimsitzt und frieren muss.

„You´ll never walk alone!“ ist ebenso eine Farce wie der heuchlerisch gezollte „Respekt“ auf Wahlplakaten. Viele Menschen in unserem Land fühlen sich verhöhnt, allein gelassen und ausgelacht.

Und so ergeht es den Menschen wie den Fischen. Wenn man sie nicht erhört und ihre Bedürfnisse stillt, gerät alles aus den Fugen. Im übertragenen Sinn versinken die Menschen in den politischen Strudeln und Fluten oder dem Schlamm am Boden, unschuldig, dem Wirken des Aquarianers hilflos ausgesetzt.

Nun kann man hierüber ebenfalls lachen oder nachdenken.

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