Der Käfig war leer, aber es fühlte sich alles andere als befreiend an

Lachen, Weinen und ein dicker Kloß im Hals

von Alexander Wallasch (Kommentare: 1)

Gestern hat mir ein Freund eine Geschichte erzählt, die mich nachdenklich gemacht hat. Ich muss Sie als Leser vorwarnen, was ich erzählt bekam, ist sehr traurig bis erschütternd.© Quelle: Pixabay / Ersin D

Am Vorabend des vierten Advents erzählte mir ein Freund eine eigentlich banale Geschichte, die mir aber keine Ruhe ließ, bis ich sie aufgeschrieben hatte. Ich wünsche allen Lesern und Freunden einen besinnlichen vierten Advent.

Viele erinnern sich kaum noch, das kollektive Gedächtnis ist ein Sieb, aber das Leben vor dem Ukrainekrieg, vor der rasenden Inflation, sogar noch vor der Coronakrise war nicht immer ein paradiesisches Zuckerschlecken. Der Mensch neigt eben dazu, positive Erinnerungen zu verstärken.

Aber schon hier gibt es unterschiedliche Auffassungen. Meine Frau beispielsweise meint, dass stimmt doch gar nicht, die negativen Erinnerungen sind die viel intensiveren. Und ihre Einschätzung ist sogar wissenschaftlich belegt. Eine Studie der Universität Bern will nämlich herausgefunden haben, dass schlechte Ereignisse für die Evolution hilfreicher sind als gute, entsprechend intensiver blieben sie haften. Aber es wird noch interessanter: Forscher der Universität in Austin/Texas wiederum wollen herausgefunden haben, dass man negative Erinnerungen selbstständig löschen kann – und zwar im Schlaf.

Das erstaunliche Fazit hier tatsächlich: Das Vergessen kann individuell und bewusst gesteuert werden. Liegt das subjektive Glücksgefühl des Einzelnen vielleicht darin begründet, wie gut er diese Technik des Vergessens beherrscht?

Wer sich jetzt zu früh freut, den bestraft das Leben: Denn nun sind wir mutmaßlich im Bereich der Verdrängung angekommen. Das Unheil ist also möglicherweise nur zugeschüttet und kämpft sich im ungünstigsten Zeitpunkt an die Oberfläche zurück.

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Jede Verdrängung, jedes gesteuerte Vergessen birgt demnach das Risiko, zum Bumerang zu werden, lässt uns aber eine Weile lang ruhig schlafen.

Oder anders formuliert: Wenn die liebste Katze von ihrem Lieblingsessen Krebs bekommt, lassen wir dieses Leckerli besser weg und geben dem Tier gesundes Essen. Was aber machen wir, wenn uns ein Arzt sagt, der Krebs bräche frühstens nach 25 Jahren aus, warum dem Tier nicht eine ungefährliche Freude bereiten?

Oder wieder zurück zum Verdrängen: Wenn eine böse Erinnerung tatsächlich erfolgreich verschüttet werden kann, warum dann nicht umgehend den Spaten ansetzen?

Gestern hat mir ein Freund eine Geschichte erzählt, die mich nachdenklich gemacht hat. Ich muss Sie als Leser vorwarnen, was ich erzählt bekam, ist sehr traurig bis erschütternd. Aber diese Geschichte passt in die Adventszeit, die in meinem Erleben von einer oft stirnrunzelnden Nachdenklichkeit viel mehr getragen wird, als nur von der viel besungenen Besinnlichkeit.

Mein Freund hat mir von einem Bekannten aus seiner alten ländlichen Heimat erzählt, der nach Jahrzehnten plötzlich vor der Tür seiner Berliner Wohnung stand. Er hätte sich an ihn erinnert und an gemeinsame intensive Momente und Gespräche mit reichlich Erkenntnisgewinn, mit fröhlichen Aha-Erlebnissen und kurzum an eine Zeit der Unbeschwertheit, der Heiterkeit, des ganz entspannt im Hier und Jetzt Verweilens, und sich also auf den Weg gemacht.

Der Anlass des Zusammentreffens nach so vielen Jahren war allerdings kein schöner, der wiedergefundene alte Bekannte war schwer an Krebs erkrankt, gestreut gleich in mehrere Organen, was ja nach aller medizinischer Erfahrung ein deutlicher Hinweis darauf ist, dass es Zeit wird, seine Dinge zu regeln und mit sich und anderen seinen Frieden zu machen.

Der Besuch endete erst nach ein paar Tagen, dann fuhr der Überraschungsgast wieder heim, aber man blieb in engem Kontakt via soziale Medien. Irgendetwas hatte der Besucher bei meinem Freund angerührt und hinterlassen, das ihn nicht mehr losließ. So lange, wie man sich nicht gesehen hatte, hätte es ihm egal sein können, war es aber nicht.

Die Krankheit schritt voran, die Chats und Gespräche wurden intensiver, je näher das Schicksal des wiederentdeckten Freundes aus Jugendtagen heranrückte. Dann brach der Kontakt ab. Für ein paar Wochen, vielleicht bald ein Vierteljahr. Und als er schon nicht mehr damit gerechnet hatte, meldete sich der Bekannte meines Freundes eines Nachmittags wieder.

Er erzählte, was ihm in den vergangenen Monaten widerfahren war: Er hatte einen letzten Versuch unternommen und noch einmal in einer Spezialklinik eine neuartige stationäre Chemotherapie begonnen. Zuvor hatte er noch kurz mit seinen Geschwistern und seiner alten Mutter gesprochen.

Und hier muss man etwas über den Mann wissen: Er hatte lange, sogar fast sein ganzes Erwachsenenleben, immer wieder mal wegen verschiedener Delikte im Gefängnis gesessen. Seiner Familie hatte er also viel Kummer gemacht, entsprechend waren die Verbindungen auf Eis gelegt, brüchig oder schon ganz zerbrochen.

Als er nun den Weg in die Klinik antrat und nach dem wirklich allerletzten Strohhalm griff, kam er am Abreisetag mit einer Bitte zu seinen Geschwistern, wohlwissend, dass er mutmaßlich jedes Anrecht verspielt hatte, überhaupt noch um irgendetwas bitten zu dürfen.

„Besucht meinen Vogel alle zwei Tage und gebt ihm zu essen und zu trinken, wenn ihr es schafft, bitte.“

Er ließ den Zweitschlüssel für sein Einzimmerapartment bei der alten Mutter und trat seinen vielleicht letzten Gang an.

Aber das Wunder geschah. Der behandelnde Arzt zeigte sich so erstaunt wie er selbst. Der Doktor meinte nur, als er die Aufnahmen sah: „Ich habe davon gehört, dass so etwas immer mal wieder geschehen soll, aber mir ist es noch nicht untergekommen.“ Die Tumore in seinem Kopf waren quasi verschwunden oder zumindest deutlich verkleinert.

Er wurde entlassen und fuhr heim. Die letzten paar hundert Meter ging er schneller, schloss die Tür auf, aber er spürte es schon, bevor er es sah: Sein Kamerad, sein geliebter Vogel war verschwunden. Er versuchte seine Geschwister zu erreichen, aber es ging einfach niemand ans Telefon.

Die nächste Szene spielt bei seiner 87-jährigen Mutter, die in Tränen ausbricht, als sie ihn wiedersieht. Der Bekannte meines Freundes fragt die alte Dame, was denn bloß mit seinem Vogel passiert sei. Immer noch weinend sagt sie: „Deine Geschwister dachten doch, dass du bald stirbst, dass Du nie mehr nach Hause kommst, da haben sie den Käfig und das Fenster aufgemacht.“ Nach diesen Worten hält sie die Hand vor den Mund, als wäre es gerade erst passiert und der Vogel nur einen Flügelschlag entfernt irgendwo da draußen. Und fast entschuldigend fügt die Mutter ganz leise an: „Es war ja noch so warm draußen.“

Als der Geheilte später meinen Freund anrief und die Geschichte erzählte, sagte er zum Abschluss mit großer Ernsthaftigkeit in der Stimme: „Jetzt habe ich nur noch Dich.“ Dann legte er auf. Sie hatten sich vor ihrem letzten Treffen Jahrzehnte aus den Augen verloren.

Mein Freund und ich mussten – ich gestehe es freimütig – lachen, bis uns die Tränen kamen, als er mir diese Geschichte erzählte. Diese Geschichte von einem Wunder. Von einer Spontanheilung. Vom Überleben.

Vom tragischen Schicksal eines Menschen, dem in seinem Leben nicht viel Gutes passiert ist, dem aber im düstersten Moment seiner Existenz auf einmal all das Glück widerfährt, das anderen verwehrt bleibt. Ein schöneres Happyend kann der beste Drehbuchschreiber kaum erfinden. Aber dann wird sein Vogel in die Freiheit entlassen. Eine vermutlich tödliche Freiheit allerdings.

Ich rufe meinen Freund etwas später noch einmal an, weil es mir einfach keine Ruhe lässt. Ich will wissen, was es für ein Vogel war. Ich hoffe insgeheim sogar auf einen Namen. Er überlegt einen Moment, aber es will ihm einfach nicht einfallen. Und dann weiß er warum: Er hatte seinen verlorenen und dann wiedergefundenen Jugendkameraden einfach nicht danach gefragt.

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