Wanderer in den antiken Ruinen wunderbarer Erinnerungen

Auf Luftmatratzen unter uralten Olivenbäumen

von Alexander Wallasch (Kommentare: 1)

Es waren wundervolle Tage der Leichtigkeit, der Arglosigkeit und ja, auch der Blauäugigkeit in vielerlei Hinsicht.© Quelle: Youtube/ Rick Steves' Europe Screenshot

Wenn es etwas geben könnte, das man am Älterwerden bedauern darf, dann vielleicht den Verlust an Blauäugigkeit und Naivität. Daran musste ich denken, als der Journalist Jan Fleischhauer unter anderem davon berichtete, dass er mit der Familie gerade Urlaub auf dem Peloponnes macht.

Nicht etwa, weil Fleischhauer sich seine Blauäugigkeit erhalten hätte, ich bin nur wenige Jahre jünger. Nein, ich beneidete ihn, weil er an einem Ort urlaubt, der für mich auch voll solcher wunderbaren von Blauäugkeit geprägter Erlebnisse ist, andere würden für sich von „Gottvertrauen“ sprechen.

Das erste Mal fuhr ich mit den Eltern nach Griechenland. Der Vater war archäologisch interessiert und hatte umfangreich Camping-Sachen in den neuen Volkswagen Varriant eingeladen, bis hin zur doppelten Gas-Kochstelle.

Wir reisten so von einer antiken Ausgrabungsstätte zur nächsten, wochenlang hatte der Vater daheim nach Feierabend akribisch die Reiseroute geplant, zwischendurch wurden vom Vater gnädigerweise kurze Strandtage eingebaut, wo wir uns dann den Staub aus den Haaren spülen und die Sonnenbrände der sengenden Mittagshitze zwischen den antiken Säulen abkühlen konnten.

Gemeinsam mit Zwillingsbruder Gregor kraxelten wir in Mykene am Hang unterhalb dieser unglaublich stabilen hohen Mauern herum und brachten dem Vater stolz ein paar uralte Pfeilspitzen mit, die wir beim Buddeln als Hortfund aus dem Boden geholt hatten.

Für die Süddeutsche Zeitung schrieb ich 2011 über ein weiteres bleibendes Erlebnis solcher Familienausflüge:

Mit unserem Vater durchstreiften wir „Sommer für Sommer Kleinasien und Griechenland und landeten schließlich in Epidauros. Dieses herrliche antike Theater mit dem weiten Blick über die uralten Olivenhaine hinweg auf die Berglandschaft der Argolis im Sonnenuntergang; fünf Stunden lang unter freiem Himmel mit Zehntausenden Gleichgesinnten aus aller Welt ,Die Troerinnen' auf Altgriechisch. Ich war acht Jahre alt. Und die Wiege des Guten lag für mich nicht in Bethlehem, sondern in diesem Moment ganz im Herzen Europas.“

Ich frage mich bis heute, wo unsere Mutter – heute 87 – damals das Urvertrauen hernahm, als sie mich, gerade 16 Jahre alt geworden, nur mit einem Interrail-Ticket bewaffnet, mit dem Zug nach Griechenland reisen ließ.

Aber warum lange Rätsel raten, ich rief sie eben beim Schreiben einfach an und sie antwortete mir:

Ich hatte das Vertrauen, weil Du dahin gefahren bist, wo Du schon mit uns warst und ihr wart ja zu dritt. Ach, und ich wollte als junge Frau auch verreisen, aber ich konnte es nicht, wie sollte ich es Euch verbieten? Erschrocken habe ich mich erst, als Ihr später über Eure Erlebnisse erzählt habt.“

Natürlich fuhr ich nicht allein, die frühen 1980er Jahre waren die Zeit der Cliquen und Gruppierungen, Einzelgänger gab es keine, jeder gehörte einer Gruppe an, war entweder Punk, Popper, Rocker, oder Späthippie wie wir. Und Späthippie hieß eben vor allem auch, den Zugang zu diesen mittelgescheitelten Schönheiten in den Afghanröcken mit dem betörenden Patchouli-Duft zu haben.

War es mir schon schleierhaft, dass meine Mutter mir die Reise erlaubte, war es geradezu spektakulär, dass dieser bodenständige Ex-Bürgermeister eines kleinen Braunschweiger Vorortes es seiner sechzehnjährigen Tochter erlaubte, mit uns zu reisen, und das, obwohl er uns zuvor selbst in Augenschein genommen hatte, denn wir mussten uns im Hause vorstellen, der Vater wollte wissen, welchen Schurken er seine hübsche Tochter anvertraute.

Jeder hat seine Geheimnisse, ich will Sie mit meinen nicht belästigen. Aber glauben Sie mir, es waren wundervolle Tage der Leichtigkeit, der Arglosigkeit und ja, auch der Blauäugigkeit in vielerlei Hinsicht.

So lagen wir auf unseren Luftmatratzen unter uralten Olivenbäumen ganz weit oben auf einem Plateau des terrassenförmig angelegten Campingplatzes nahe Olympia und schauten in die Sterne. Rechts am Hang leuchteten kalkweiß im Mondlicht ein paar Säulen der antiken Ausgrabungen. Ja, doch, es konnte rückblickend kaum kitschiger sein. Aber es war einhundertprozentig wahrhaftig, es war für diesen sechzehnjährigen Jungen wunderbar und es passierte real, das pubertäre Kopfkino war zum Liveerlebnis geworden.

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Es mag weit hergeholt klingen, aber ich glaube, ich stand damals noch unter dem unsichtbaren Schutz des elterlichen Reisens. Ich erzählte der Freundin und dem ebenfalls mitreisenden Freund in einer schmaleren Version, aber mit der gleichen Inbrunst, die der Vater an den Tag gelegt hatte, die Hintergründe der antiken Stätten. Jedenfalls bastelte ich mir etwas zusammen, was mir davon hängengeblieben war, mit dem innigen Wunsch, hier eine vergleichbare Magie zu erzeugen, die der Vater in mir zu erzeugen in der Lage gewesen war.

Jetzt folgt der ganz große Zeitsprung hin zur Frau, den mittlerweile vier Kindern und der Flugreise nach Athen, um von dort mit dem am Flughafen gemieteten VW-Bus bis in einen der südlichen Zipfel des Peloponnes zu fahren, wo wir via Internet ein Haus mit Meerblick gemietet hatten.

Insbesondere an diesen Urlaub musste ich denken, als Jan Fleischhauer, selber kinderreich, im Focus in einem Teaser zu seiner neuen Kolumne erwähnte, er sei gerade mit den Kindern auf dem Peloponnes unterwegs.

Sofort kamen die vielen Bilder zurück, hochgespült aus dem Steinbruch der Erinnerungen. Und es ist hier wie immer: Ohne echten Ärger keine große Freude, die anstrengenden, die stressigen und gefährlichen Momente sind notwendigerweise Spiegelbilder der großen Leichtigkeit.

Meiner Frau beispielsweise, ich habe eben extra noch einmal nachgefragt, gruselt es bis heute, wenn ich Sie an diese „schreckliche Fahrt“ – ich bin führerscheinlos – erinnere, die wir auf meinen Vorschlag hin unternahmen und die uns stundenlang auf hohe und steile, wie schier endlos erscheinende Küstenserpentinen führte, während meiner Frau immer wieder das Bein so wehtat oder ihr einschlief, was beim ständigen Bremsen und Anfahren deutlich hinderlich war.

Die Kinder saßen voll Urvertrauen auf den hinteren Bänken und beschäftigten sich mit Büchern und Heften, während ich den Leihbus samt Inhalt in jeder weiteren der unzähligen 170-Grad-Kurven immer wieder neu den Hang hinabstürzen sah und mir sogar überlegte, was man den Kindern noch als allerletzte liebevolle Botschaft nach hinten rufen könnte, bevor für alle alles vorbei war.

Ja, es war für einen Familienvater ganz besonders blauäugig, nicht nachzuschauen, wie anstrengend diese Strecke vom Strandhaus nahe Gythio bis hin nach Messene insbesondere für die tapfere Fahrerin werden sollte.

Aber ein Reisebericht im Internet nennt diesen Ort ohne jede Übertreibung „die schönste Ausgrabungsstätte Griechenlands“. Das Erlebnis war unbeschreiblich, die Ausgrabung selbst kaum fertiggestellt, die Grabungskanten überall sichtbar und neben uns auf dem gesamten Areal kein weiterer Besucher.

So standen wir in einem kleinen Theater auf einem über zweitausend Jahre alten frisch freigelegten und noch zugänglichen Mosaikboden, meine Tochter lehnte weiter oben an der Säule eines Stadions, dass jenes im antiken Olympia an Imposanz um Längen übertraf.

Und dann unweigerlich wieder das Theater von Epidauros, die große Klammer, die meine Erinnerungen auf magische Weise bis heute zusammenhält.

Ich wollte es genau wissen und rief eben während des Schreibens meinen ältesten Freund Jürgen an, der damals, gerade 17 geworden, ebenfalls Mitreisender mit Interrail-Karte war. „Ja“, bestätigte er, „wir mussten viel anschauen, was Du schon mit deinem Vater gesehen hattest, aber es war ganz interessant“, lachte er am Telefon und verabschiedet sich schnell, er ist Schäfer geworden und die Tiere büchsen ihm gerade aus, da muss er rasch mit seinen Hunden hinterhereilen.

Frau und Kinder hatten die Serpentinen nach Messene also überlebt und wir landeten auf der Rückfahrt Richtung Athen in Epidaurus. Auch diesen anstrengenden Abstecher hatte ich der fahrenden Frau ebenfalls noch zugemutet.

Die Kinder saßen hoch oben auf den steinernen Rängen dieses gigantischen Amphitheaters und schauten hinab auf das Halbrund oder in die Weite der offenen Landschaft, während ich schon wieder in irgendwelchen Vergleichen kramte, wie ein Wanderer sprichwörtlich in den antiken Ruinen wunderbarer Erinnerungen.

Wem das jetzt alles zu negativ oder gar sentimental erschienen ist, bitte, so war es an diesem sonnigen Sonntag wirklich nicht gemeint. Meine Frau und ich haben für den Erinnerungsspeicher unserer Kinder wieder ganz eigene Akzente gesetzt, wir haben später noch Schweden und vor allem Norwegen für uns entdeckt.

Und was Norwegen angeht, würde ich ohne zu zögern diesen Moment im Motorboot mit den vier Kindern weit draußen hinter dem Leuchturm, als mit einem Mal bald gleichzeitig jeder einen Fisch an der Angel hatte und alle so glücklich waren, wohl als den schönsten Moment in meinem Leben bezeichnen und dann fielen mir doch gleich wieder zehn weitere ein.

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