Abgefilmt bis ins Detail wurde hier ein Ereignis, das schon über zwanzig Jahre zurückliegt: Die Filmaufnahmen einer Katastrophe von 1999, so auch der Titel der Netflix-Serie: „Absolutes Fiasko – Woodstock ‘99“.
Netflix will der Frage nachgehen: „Woodstock 1969 war der Inbegriff von Musik und Frieden. Doch dessen Revival von 1999 ging mit Raserei, Randale und großem Unheil einher. Was ist hier nur schiefgelaufen?“
Kurz zusammengefasst: Musiker, die schon in Woodstock 1969 dabei waren, stellen sich den heute erwachsenen Kindern der Zuschauer von damals. Nein, der „Teilnehmer von damals“ muss man sagen, denn das Publikum selbst stand im Mittelpunkt dieser Explosion des Wassermannzeitalters.
Woodstock 1969 ist zum Mythos geworden. Aber wenn sich jemals die Kinder und Enkel von den Mythen ihrer Väter und Mütter eindrucksvoll befreit haben, dann kann man es in dieser dreiteiligen Dokumentation miterleben und bleibt anschließend noch wie betäubt davon im Fernsehsessel kleben.
Wer „Absolutes Fiasko – Woodstock ‘99“ nur als ein Spektakel der Zerstörungswut unter Drogen und Alkohol versteht, der hat diesen kontaminierten Love & Peace-Mythos von Woodstock '69 nicht verstanden. Ein Mythos, der tief eingesickert ist in das Selbstverständnis einer dominanten Generation, die heute auch in Deutschland an den Schalthebeln der Macht sitzt.
Noch 2006 beispielsweise kommentierte die Grüne Claudia Roth den Abschluss eines grünen Zukunftskongresses ihrer Partei so: „Es war ein Theorie-Woodstock mit praktischen Ergebnissen.“ Und der berichtende Tagesspiegel ergänzte so ein klein wenig ketzerisch:
„Von dem Rockfestival im amerikanischen Woodstock war 1969 ein Aufbruchssignal für eine ganze Generation ausgegangen, ein Anspruch, den die Grünen bei nüchterner Betrachtung wohl nicht an die von ihnen organisierte, dreitägige Marathondebatte stellen würden, die fast 2.000 Teilnehmer nach Friedrichshain ans Spreeufer lockte.“
„3 Days of Peace & Music“ lautete das Motto von 1969, dreißig Jahre später wurde daraus in Rome/New York ein Schlag mitten ins Kontor des mittlerweile etablierten grauschläfrigen Hippie-Establishments.
Im Schnelldurchlauf: Zunächst fängt alles ganz friedlich an, in der Tradition ihrer Hippieeltern ziehen die vermeintlichen Hippiemädchen und -jungen an den Kameras vorbei – die Veranstalter hatten wohl auch hier geplant, mit ihren bewegten Bildern in die Filmgeschichte einzugehen, die Rollen landeten aber zunächst in den Giftschränken und wurden jetzt erst als Mumien wieder ausgegraben – Zombiezelluloid.
Man sieht viele schöne Menschen, attraktive Frauen und sportliche Männer, es ist warm, die Kleidung spärlich – also alles dabei, was man sich von so einem Hippie-Revival wünschen würde. Sogar der alte Barde Arlo Guthrie sitzt noch mit im Hippie-Party-Revival-Boot.
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Aber der Wirt hat die Rechnung nicht mit dem Gast gemacht.
Die Rebellion beginnt da, wo sich die Veranstalter 1999 gedacht hatten, ein paar Bands einzuladen, welche von den nunmehr erwachsenen Kindern der 69er-Hippies auch zu Hause im CD-Spieler liegen. Ausgerechnet Korn, Limp Bizkit und die Red Hot Chili Peppers sollen die Mischung ausmachen – das Rezept für einen gigantischen Molotow.
Dann passiert es: Als Korn auf die Bühne kommt, explodieren 300-400 Tausend Zuschauer, als hätte Sänger Jonathan Davis ein Streichholz in ein bereits kochendes Meer aus Kerosin geschmissen.
Der Brandsatz war allerdings schon im Vorfeld von den Veranstaltern selbst gelegt worden.
Das Musik-Magazin laut.de schildert es seinen Leser so:
„Damals, so wird berichtet, war die Stimmung schon vor dem Festival nicht die beste: Extrem hohe Temperaturen bei gleichzeitig teuren Eintritts- und Verpflegungspreisen sorgten für Wut. Auch war das Gelände nicht auf eine so hohe Besucher*innenzahl ausgelegt. Sanitäre Anlagen oder kostenloses Trinkwasser waren Mangelware. Nach dem Wochenende wurde auch bekannt, dass die Location, ein ehemaliges Air Force-Gelände, direkt neben einer Giftmülldeponie lag und die Veranstalter deshalb nicht auf das Grundwasser zurückgreifen konnten.“
Sicher gibt es heute unter anderem via Youtube viele Bilder von Zuschauermassen bei Rockkonzerten. Aber was sich da 1999 in Rome/New York zeigte, das hatte eine ganz andere Qualität: Eine organische Masse von Leibern – wegen der unerträglichen Sommerhitze Männer und auch viele Frauen oben ohne – formte sich zu einem wogenden Ozean, wie von unsichtbarer Hand gesteuert.
Wann genau sich eine kollektive Aggression aus den Tiefen der Wellentäler seinen Raum suchte, darüber rätseln die Zeugen in der Dokumentation bis heute. Die sich immerzu noch steigernde Bedrohlichkeit ist eine perfekte Dramaturgie. Der eindringlich wie aufputschende Soundteppich aus E-Gitarren und Drums beginnend mit der Band Korn hätten die besten Hollywood-Regisseure kaum besser hinbekommen.
Aus der Distanz der Jahre ein archaisches Schauspiel von maximal ästhetischer Schönheit. Wer die Details dieser Explosion allerdings genauer untersucht – die Doku schreckt hier vor nichts zurück – der erfährt auch von sexuellen Übergriffen, Vergewaltigungen, Drogenexzessen und üblen Verletzungen. Die Masse ist hier schon längst vollkommen außer Kontrolle. Mittelalter auf Ecstasy.
Als es nach der ersten Nacht endlich dunkel wird, bewegen sich Zigtausende in eine Art Rave-Area, auch das dem Geschmack der 90er Jahre geschuldet und ohne sich etwa ein Beispiel am Original von 1969 zu nehmen. Auch in diesem Bereich eine brutale Enge und ein Wahnsinn in Bildern, ein wie aus einem Fiebertraum von Hieronymus Bosch hochgewürgter Hexenkessel.
Ein Teilnehmer berichtet davon, dass er damals mit einer Taschenlampe die Wände dieser Area abgesucht hätte. Und im Lichtkegel sah er in langen Reihen Frauen an der Wand stehen, die sich im Schutz der Dunkelheit zur infanalischen Musik den Männern hinter ihnen hingegeben, Drogen wurden überall verteilt wie Bonbons, jeder griff zu, alle flippten aus.
Am dritten Tag dann die vollständige Auflösung in einem finalen Akt der Zerstörung des Veranstaltungsortes, überall wird alles niedergebrannt, ein Auto fährt ein paar Tage später durch das Gelände, eine Fahrerin fragt entsetzt: „Ist das Bosnien?“
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Aber das Erstaunliche – und es mag auch an der zeitlichen Distanz liegen – ist doch ein ästhetischer Gesamteindruck. Dieses schreckliche Kunstwerk aus Menschenmasse, Testosteron, martialischer Musik vor allem von Korn und von Limp Bizkit, deren Sänger Fred Durst zum Zeremonienmeister der Zerstörung wird, ist vor allem eines: bildhaft einzigartig mit einem Bannstrahl mitten in den Wohnzimmersessel. Wären es fünf Folgen, sie wären auch ohne Unterbrechung durchgelaufen.
Das live von Woodstock 1999 berichtende MTV-Team wird später zur eigenen Sicherheit von Helikoptern ausgeflogen, ein Technikturm muss notgeräumt werden, als die Massen ihn einfach entern – hier hätte Brad Pitt die besseren Aufnahmen für seinen Zombie-Schocker „World War Z“ einsammeln können.
2022 und nach zwei Jahren Pandemie und der Wut so vieler, nach zwei Jahren, in denen sich viele fühlen wie gelähmt, hat diese direkte und unmittelbare körperliche Antwort der 300.000 in Rome/NY auf diese desaströse Veranstaltung eine explosive Kraft über zwei Jahrzehnte hinweg.
Ein „Fiasko“, als das Netflix diese Dokumentation ankündigt und verkauft, ist es ganz sicher gewesen. Aber dieses seltsamerweise in Vergessenheit geratene Woodstock ist noch etwas ganz anderes:
Ein weltepisches Kunstwerk der düstersten Art. Und aus dem Blickwinkel von 2022 eine Warnung an alle Unterdrücker der Demokratie und Freiheit: Unterschätzt die Eigendynamik der Massen nicht.
Woodstock 1999: Live-Auftritt Limp Biszkit 1999
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Kommentar von Susann Liehr
Die Eigendynamik der Masse war vielleicht 1969 noch vorhanden.
Die Meute von heute fühlt sich wohl in ihrer Unfreiheit. Die Mehrheit
der ahnungslosen "Leute" hat noch nicht einmal ansatzweise verstanden
was Phase ist. Aber wer weiß, vielleicht fällt ihnen gerade noch rechtzeitig
ein was Menschlichkeit und Menschenwürde ist. #humanworldorder