Und es ist nicht schwierig, diese Entfremdung zu beschreiben: Zu viele neue Regeln des Zusammenlebens, zu vieles, das früher richtig erschien, soll plötzlich falsch sein: Falsches Essen, falsche Mobilität, falsche politische Einstellung, falscher Mensch. Und sowieso zu viele Ausländer auf den Straßen.
Man könnte hier auf die Idee kommen, dass die Heimatliebe in den Deutschen nicht so stark verankert sein kann, wenn sie so schnell so schwer zu erschüttern ist. Schnell?
Heute Vormittag telefonierte ich mit meinem ältesten Freund. Er arbeitet seit vierzig Jahren als Schäfer und hat schon lange seine eigene große Schäferei. Der Freund erzählte mir, dass er sich im November einen Traum erfüllen wolle: Er fliegt auf die Philippinen, will sich dort ein BMW-Motorrad kaufen und Land und Leute entdecken. Um irgendwelche Abenteuer – ich fragte natürlich nach – mit Frauen gehe es, wenn, dann wirklich nur am Rande.
Und ich glaube ihm. Denn mein Freund ist tatsächlich, was man eine ehrliche Haut nennt. Und er ist es uneingeschränkt. Er wolle auch keine Fotos mehr machen, alles bleibe im Kopf. Und was verloren gehe, sei eben nicht so wichtig gewesen.
Nun mag es daran liegen, dass ich selbst viele Kinder habe und mich gar nicht mehr daran erinnern kann, mal irgendwas mit mir allein ausgemacht zu haben. Meistens dreht sich bei uns alles darum, gemeinsame Probleme zu bewältigen. So ist es auch mit positiven Erlebnissen. Wenn mich jemand fragt, was unser Rezept ist, wie man in diesen Zeiten eine Familie zusammenhält, dann verweise immer zuerst auf unsere gemeinsamen Urlaube. Sie sind rückblickend der Kitt. Auf sie kann man zurückschauen wie auf etwas Außergewöhnliches, das lange nachhallt.
Ist Familie der Ursprung jedes Heimatgefühls? Da war ich mir heute früh im Gespräch mit meinem Freund gar nicht mehr so sicher. Denn ich entdeckte etwas, dass ich nicht besonders gut beherrsche: Mein Freund hat seine Heimat schon lange in sich selbst gefunden. Das muss er jahrzehntelang auf den Feldern, Wiesen und Deichen allein mit seinen Schafen gelernt haben: Er trägt Heimat ins sich, er ist in ihr zu Hause.
Der Gedanke hat mich nachdenklich gemacht. Ich empfand es zunächst so, als sei da auch viel Einsamkeit im Spiel. Aber der Freund klang dabei alles andere als einsam. Er bezeichnete sein Vorhaben als Erfüllung eines Lebenstraums. Und da wurde mir klar, dass das die Kür sein muss: Die Heimat in sich selbst gefunden zu haben. Das muss ein Verwandter des Satzes sein, mit sich im Reinen zu sein.
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Ich bin auch davon überzeugt, dass das noch etwas anderes ist, als das, was man „innere Emigration“ nennt. Das was ich bei meinem Freund entdeckt habe, kommt mir souveräner, selbstbewusster und stabiler vor, als eine innere Emigration, welche die Haltung von Menschen beschreibt, die sich in Diktaturen als Dissidenten in sich zurückziehen.
Eine Freundin meiner Mutter war die Tochter von Gerta Overbeck, Malerin und Mitbegründerin der Neuen Sachlichkeit. Ihre feinen aber dabei bodenständigen, bisweilen tiefgründigen Bilder begleiten mich schon ein ganzes Leben lang, denn einige davon hängen im Haus meiner Mutter. Aber es sind nicht die Frühwerke der Malerin, sondern Werke aus ihrer inneren Emigration vor den Nazis, einfache Hinterhofszenen, Häuser und Landschaften der Umgebung, mit denen auch ich hier aufgewachsen bin, die ich teilweise wiedererkenne.
Diese Bilder – meistens in viel kleineren Formaten als die Frühwerke der Künstlerin, die ihren Ruhm begründeten – bilden allesamt Heimat ab. Sie sind dennoch Spiegelbild einer Flucht vor der eigentlichen Heimat der Malerin. Sie sind zum Teil sogar von einer merkwürdigen Unbeseeltheit und Teilnahmslosigkeit gezeichnet. Spontan fällt mir die bemalte weiße Kachel mit dem blauen Pferdchen ein. Nur ein paar Striche und fertig. Mehr als Alltagsgrafik, aber außer einer leisen Tristesse ist das nicht mehr als eine bildgewordene innere Emigration.
Dann wäre da noch die 96 Jahre alte Tante. Sie ist geistig und körperlich noch gut auf der Höhe, wie man so sagt. Sie meint aber immer öfter, langsam keine Lust mehr zu haben. Sie kenne sich nicht mehr aus, dass sei nicht mehr ihr Land. Die Tante hat als junge Frau den Krieg erlebt, die furchtbaren Vertreibungen, den Wiederaufbau, die Wiedervereinigung. Sie lebt weiter in der gewöhnten Umgebung, in der Wohnung, die sie über ein halbes Jahrhundert mit ihrem Mann geteilt hatte, ihre Schwester wohnt ein Haus weiter.
Hat sich die Tante entfremdet, weil sich das Land zu schnell verändert hat? Oder ist das einfach der Zahn der Zeit samt aller Herausforderungen des Alterns? Passiert diese Entfremdung automatisch und unweigerlich? Dafür spricht, dass die Tante öfter davon erzählt, dass die meisten ihrer Freunde und Bekannten schon verstorben sind, sie sei irgendwie übriggeblieben.
Von der Tante würde ich dennoch Ähnliches sagen, wie über den besten Freund. Beide sind auf besondere Weise in sich verankert. Sie tragen, was andere im Äußeren und den Menschen suchen, in sich selbst. Klingt das nicht beneidenswert: in sich selbst zu Hause zu sein?
Wie eingangs geschrieben, lese ich es seit Jahren in den Kommentaren: „Das ist nicht mehr mein Land, das ist nicht mehr meine Heimat.“ Und ich weiß natürlich auch, was damit gemeint ist. Die Gänge in die Stadt werden seltener, die Entfremdung wird größer, Gewohnheiten gehen verloren, angefangen damit, dass der Zwangsgebührenfernseher kalt bleibt.
Hier ließe sich einwenden, dass man mit dem Fortschritt gehen muss. Aber die Digitalisierung, die Veränderung des Mobilitätsverhaltens oder die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens an sich, sind das eine. Auf der anderen Seite steht eine ideologisch-politische Agenda, die von der Massenzuwanderung bis zur Klimaapokalypse suggerieren will, dass es sich um Veränderungen handle, denen gegenüber man sich nicht sperren könne und dürfe.
Aber mindestens die illegale Massenzuwanderung ist kein Naturereignis, sondern von Ideologen gemacht. Menschengemacht. Wer hier seine angestammte Heimat bedroht sieht, der neigt nach den vielen Jahren einer fortwährenden Zuwanderung zur Resignation: Das ist nicht mehr meine Heimat.
Wie wertvoll ist es dann, wenn man seine Heimat in sich trägt, samt Wertekanon und aller Liebe zum Eigenen? Wie man lernen kann, was dem einen gelingt und dem anderen weniger, dass bleibt allerdings ein Geheimnis – vielleicht sogar die Challenge des Lebens.
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Kommentar von Red Marut Jr.
Auch für mich, einem in Deutschland Geborenen und um die 30 Jahre jünger als ihre Tante ist das Land, in dem ich zu überleben versuche, und gefühlt tagtäglich härter mir entfremdet worden.
Das vergehende Land Deutschland sollte und soll uns „alten“ entfremdet werden, das wir tagtäglich mehr, selbst im dörflichen Großmarkt von immer mehr fremden Sprachen und Menschen, Sitten und "gesellschaftlichen Umgangsformen" uns verloren fühlen sollen, ja Angst bekommen. Das haben "sie" echt gut hinbekommen.
Und überhaupt, "unser Land"? Echt jetzt? Mal ehrlich, dies Land ist es seit 1945 nicht mehr "unser Land". Diejenigen, denen es seitdem "gehört", die seitdem über uns den Daumen heben oder senken wollen mit diesem, von ihnen besiegten Land und Leuten Profit machen. Selbst wenn ihr Besitz in der Mitte Europas durch einen weiteren, vielleicht letzten Krieg absolut zerstört würde. Ist denen doch egal. Völlig wumpe ist denen das.
Und da diejenigen, die von uns gewählt wurden/werden, hier wenig bis gar nichts zu sagen haben (einfach mal das dumme Gesicht von Scholz ins Gedächtnis rufen, als Biden ihm erklärte, das die Pipeline wegkommt) und diejenigen, die in Deutschland etwas zu sagen haben, zu clever sind um.
Ach egal. Meine angestammte Heimat, die Heimat meiner Familie seit vielen Generationen ist seit vielen Jahren jetzt schon polnisches Staatsgebiet. Wurde damals halt so bestimmt. Da haben Millionen Deutsche auch nichts zu sagen gehabt. Schon damals wurde über Land und Volk der Daumen gesenkt und dementsprechend hatten die Deutschen sich „zu fügen“.
So wie heute eben immer noch. Tja. Selbst schuld?
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Kommentar von Perry Moppins
Ähm. Nö!
Ich will mein Land zurück, das Land meiner Ahnen, meiner Vorfahren, alles redlich erarbeitet.
Und das darf zurück in die Hände Jener, die die deutsche Heimat achten, ehren und pflegen.
Was spiegelbildlich jeder anständige Mensch in jeder Heimat dieser Welt genauso sehen dürfte.
Die Völker dieser Erde leben nicht aus Jux und Dollerei in ihren Heimaten, die leben nicht aus geraubtem Geld von Anderen und jetten damit um die Welt. Das tun Grüne, Liberale, Globalisten und natürlich die alle betrügenden Hyperbonzen.
Ich bin für Ordnung, Frieden, Gerechtigkeit und Anstand in den Heimaten der Erde. Und, genau so und nicht anders wird es kommen. Läuft. Unumkehrbar. Alle Heimaten dieser Erde werden gerecht und in Frieden wiederhergestellt werden, auch die deutsche Heimat.
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Kommentar von Jürgen Frohwein
Vor Jahren als ich regelmäßig vom Berliner Umland nach Berlin im Rahmen des Broterwerbs fuhr war an einem desolaten Bahngebäude das Grafitto zu lesen "Fremd im eigenen Land". Dieser Schriftzug stimmte mich täglich auf die Berliner Verhältnisse ein. Dazu diese Aussichtslosigkeit je auch nur das allergeringste ändern zu können. Welch große Erleichterung jedesmal spät nachmittags wieder auf dem Lande zu Hause zu sein. Emigrieren war wegen diverser familiärer Konstellationen unmöglich, dazu das höhere Alter und die minimalen Chancen den Lebensunterhalt im Ausland zu verdienen. Aber ich hätte es gerne getan, heute noch lieber als damals. Schicksalsergeben hoffe ich das bittere Ende in unserer Gesellschaft nicht mehr erleben zu müssen.
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Kommentar von Ego Cogito
Defätismus ist unsere Krankheit. Es fehlt der Überlebenswille und die Selbstbehauptung früherer Generationen. Eine westdeutsche Kleinstadt veranstaltet jährlich ein Festival mit der Überschrift "Heimat Europa", das passiert, wenn man die eigene Heimat nicht mehr achtet, eine wohl eher deutsche Attitüde die den Eingangssatz begründet. Nur das Volk kann die Fehler der Regierung korrigieren, bei Wahlen und wenn diese unterlaufen werden, dann muß halt Flagge gezeigt werden, in diesem Falle die Schwarz-Rot-Goldene, mit Nachdruck. Der Parteienstaat tut ein übriges, verfolgt er doch nur eigene Interessen der Machtausübung und Eigenversorgung und leistet jeden Kotau an Dritte schon im vorauseilendem gehorsam.
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Kommentar von Libkon
Hallo Herr Wallasch,
ich(62) mach das nun das zweite Mal mit.... diese innere Emigration (anderer ). Dieses zurückziehen in die niesche
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Kommentar von F. Lo
„… lese ich es seit Jahren in den Kommentaren: ‚Das ist nicht mehr mein Land, das ist nicht mehr meine Heimat.‘ Und ich weiß natürlich auch, was damit gemeint ist. Die Gänge in die Stadt werden seltener, die Entfremdung wird größer, Gewohnheiten gehen verloren, angefangen damit, dass der Zwangsgebührenfernseher kalt bleibt.“
Ich glaube ja, dieses Phänomen der inneren Emigration, hier gemeint: der Rückzug ins Private, die Distanz zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, das subjektive Gefühl des Heimat-Verlustes, ist inzwischen recht weit verbreitet, resultierend aus Frust, Enttäuschung, Resignation darüber, wie sich das Land gewandelt hat, ebenso Empörung darüber, dass sich Teile der Wähler inzwischen von Andersdenkenden als rechtsextrem bzw. demokratieunfähig beschimpfen lassen müssen(?). Es freut sich halt nicht jeder so stark wie Katrin Göring-Eckardt über „drastische Veränderungen“, die er nicht eingeplant hat.
Es gibt leider meines Wissens bislang keine (seriöse) psychologische Untersuchung dazu, wie viele Bürger auf Distanz zur Politik gehen im Sinne von „Das ist nicht mehr mein Land“. Ein Gefühl, dessen Richtigkeit einem von offizieller Seite sogar bestätigt wird. Schließlich hat es uns Naika Foroutan vom staatlich unterstützten und mit finanzierten DeZIM ja bereits im FOCUS schriftlich gegeben: „Viele Menschen meinen, ihr ‚eigenes‘ Land nicht mehr wiederzuerkennen. Zu Recht, … Dieses Land gehört an sich niemandem“.
Nur, was geschieht, wenn (mutmaßlich) nennenswerte Teile der Einwohner sich schulterzuckend ins Private verabschieden und tendenziell die Augen, Ohren vor der Politik, dominierenden Medien verschließen. 1. Das Engagement für Politik schwindet insgesamt. 2. Andererseits überlässt man den Aktiven, sich lauter Artikulierenden in der Öffentlichkeit den Raum, sie können sich als vermeintlich übergroße Mehrheit feiern und sich besser durchsetzen, weil weniger Widerstand laut wird. Beweis: Es gibt ständig irgendwo Demos gegen Rechts, aber keine Demos gegen Demos gegen Rechts. So mancher schmollt im stillen Kämmerlein, weil er keine Ahnung hat, mit welcher Art von Zivilcourage er unerwünschte Entwicklungen und Zustände stoppen kann.
Die Heimat in sich selbst finden, gelingt wohl auch nicht jedem. Die ARD hat 2015 mal eine Themenwoche Heimat gemacht, dabei wurde deutlich, wie schillernd das Heimatgefühl ist. Einer Infratest-Umfrage zufolge hat es zu tun (Aspekte mit großer Zustimmung) mit Menschen, die ich liebe und mag, wo ich lebe/Ort, an dem ich aufgewachsen bin, Wohlfühlen/Geborgenheit/Sicherheit, Landschaften/Städte/Umgebung, Kulturelles – z.B. Sprache, Mundart, Traditionen, Gebräuche usw. Ja, Heimatgefühl ist, wie es der Name sagt, ein Gefühl, aber Gefühle basieren nun mal in hohem Maß auf der Umgebung des Fühlenden, die Heimat und Vertrautes ausstrahlen muss.
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Kommentar von andreas h
Es ist sicher etwas anderes mit seinen Schafen zu leben, als in der Welt herumzurasen und schlechte Nachrichten zu sammeln.
Die Grundsatzfrage scheint mir, warum der eine das eine und der andere das andere tut. Ich denke immer, es hat mit der Kindheit zu tun. Was man da gelernt und getankt hat, bleibt das ganze Leben, und bestimmt die Sicht auf die Welt.
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Kommentar von Schwar Zi
Sehr geehrter Herr Wallasch,
irgendwie stimme ich Ihrem Freund, aber mehr noch ihrer Tante zu! Es ist nicht mehr mein Land. Und ich bin 50 und sage dies trotzdem...
Ja, die Migrationtswellen der letzten Jahre waren nicht einfach, aber es ist nicht die Migration allein die mir Sorgen bereitet, es ist vielmehr der Umgang damit und auch in anderen Bereichen. Ehrlichkeit und Redlichkeit haben inzwischen ebenso ausgedient, wie Patriotismus, Nationalstolz und grundlegende Werte wie Ordnung, Pünktlichkeit, Disziplin, Worttreue ect. Wir erleben eine egoistische und tief gespaltene Gesellschaft.
Und wer mir nicht glaubt, eine kurze Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln genügt um meine These zu untermauern. Diese Rücksichtslosigkeit, der mangelnde Respekt...ich,ich,ich... Ich erinnere mich nur zu gerne an eine Busfahrt in Bulgarien, an eine betagte Frau mit ihrem Einkauf auf dem Rückweg vom Markt und wie respektvoll die Schüler im Bus waren. Und ebenso die Erwachsenen...
Ja Deutschland hat sich verändert Frau KGE, aber ich freue mich nicht darüber, ich schäme mich dafür.
Beste Grüße aus Mitteldeutschland