"Nie wieder" ist heute!

Was uns das angeht: 9. November 1938

von Alexander Wallasch (Kommentare: 7)

Juden in Polen – Erinnerungsfoto des Landsers in die Heimat© Quelle: privat

Darf man das überhaupt? Über den 9. November ein Stück weit in der Ich-Perspektive schreiben? Ich hoffe es. 1938 war meine Großmutter eine junge einundzwanzigjährige Frau, mein Vater gerade zwei Jahre alt, die Familie lebte gutbürgerlich mitten in Breslau.

Gestern vor sechsundachtzig Jahren brannten in Deutschland Synagogen, wurden Juden aus ihren Wohnungen gezerrt, nahmen sich Juden in Deutschland das Leben oder flüchteten und versteckten sich vor der Gewalt des Pöbels, der marodierend durch die Straßen zog, angeleitet von Schergen des nationalsozialistischen Regimes.

Die Pogrome vom 9. November 1938 waren mit ihren brennenden Gotteshäusern so etwas wie die nationalsozialistischen Leitfeuer hin zur Vernichtung der europäischen Juden.

Aber wie nähert man sich nun als Deutscher fast ein Jahrhundert später so einem Datum an? Die verstorbene Generation der Großeltern sagte: Wir haben davon nichts gewusst und meinte damit die industrielle Vernichtung von Millionen von Juden. An den einstürzenden Synagogen, den zerschlagenen und beschmierten Geschäften, an den Verängstigten, Geschlagenen und Erschlagenen war schlecht vorbeizuschauen. Anschließend wurde es dunkel in Deutschland. Noch dunkler in der Erinnerung.

Und wären anschließend etwa noch Reste eines zivilisatorischen Gewissens geblieben, dann verschwand es kein Jahr später zuerst unter dem Jubel des Eroberungskrieges im Westen oder erfror spätestens in der Eiseskälte des russischen Winters hin zu einer entmenschten Abgestumpftheit oder Gleichgültigkeit und wurde der Einfachheit halber mit dem anonymen deutschen Soldaten zu Grabe getragen, während in Auschwitz die Öfen in den Krematorien auf Hochtouren arbeiteten – die schiere Masse der Vergasten, Verhungerten und Erschlagenen war kaum zu bewältigen, an drei weiteren Orten wurden zusätzliche Verbrennungsgruben ausgehoben.

Am 9. November 1938 organisierte das nationalsozialistische Regime einen umfassenden gezielten Angriff „auf die noch vorhandenen moralisch-ethischen Grundlagen und Reste eines rechtsstaatlichen Bewusstseins der Deutschen“, so der Historiker Jörg Wollenberg. Und der Historiker Wolfgang Benz befand zum 9. November: „Antisemitismus und Judenfeindschaft, wie sie als Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie schon immer propagiert worden waren, schlugen jetzt um in die primitiven Formen physischer Gewalt und Verfolgung. Die ‚Reichskristallnacht‘ bildete den Scheitelpunkt des Wegs zur ‚Endlösung‘ zum millionenfachen Mord an Juden aus ganz Europa.“

Also fragen wir hier noch einmal, wie man sich heute und als Deutscher diesem Datum annährt. Schuldgefühle als Nachfahre der Tätergeneration? Irgendeine besondere noch tragfähige Verantwortung? Ich habe doch mit alledem nichts zu tun, könnte man sagen. Oder gar argumentativ verweisen auf die Auflösung der Nationalstaaten, der Völker, um dann das industrielle Morden der Deutschen entlastend in ein europäisches Gedenken zu überführen.

Aber wie darf, kann oder sollte das funktionieren? Alles spricht dagegen. Zwar kann sich der Autor hier nicht erinnern, weil fast ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende geboren, aber Erinnerungen werden doch vererbt in Form von raren exklusiven Erzählungen und seltener noch untermauert von Fotografien.

1938 war meine Großmutter eine junge einundzwanzigjährige Frau, mein Vater gerade zwei Jahre alt, die Familie lebte gutbürgerlich mitten in Breslau. Oma wurde weit über 90 Jahre alt, also hatten wir Enkelkinder Zeit genug, Fragen zu stellen. Auch die, wie das denn nun mit den Juden in Breslau war. Ja, kam da die Antwort, als Kind hätte sie mit den so hübschen blauäugigen Nachbarskindern gespielt, die immer fragten, ob das Essen denn koscher sei. Auf unsere Frage, was denn aus denen geworden ist, hieß es lapidar, die waren dann auf einmal alle weg. Die Juden waren weg, das Leben ging weiter in Deutschland. Hatte die Oma denn überhaupt nichts mitbekommen?

Doch. So erzählte sie weiter, dass sie auf Arbeit bei Bernhard Wedler (Fahrräder und mehr) im Büro einmal auf die Toilette ging und merkwürdige Geräusche vom Hof hoch hörte und dass sie beim Hinunterschauen dort Familien eng an eng mit Koffern versammelt sah. Das mögen wohl Juden gewesen sein. Mehr gab es da nicht zu erzählen. Der Opa wusste noch weniger, er sei ja im Krieg gewesen. Dafür konnte er die Geräusche der Stalinorgel so gut nachmachen, dass ich es heute auch noch kann. „Tagelang pfiff die Stalinorgel über uns hinweg, dass wir uns im Graben bald alle einsch … manche Kameraden haben danach geweint wie kleine Kinder.“

Und dann war da noch die alte magere Tante mit der durchsichtigen Haut, die ins Altenheim kam, die noch auf dem alten Bett der Wohnung saß, in der sie über ein halbes Jahrhundert gewohnt hatte und die uns von da aus zusah, wie wir ihren Hausrat und ihre Möbel langsam entsorgten und Kleinteile in große blaue Müllsäcke schmissen.

Immer Stück für Stück führten wir ihr die Sachen vor und sie sagte mit geröteten Augen immerfort nur: „Weg damit, bloß weg damit.“ Aber wir schmissen nicht alles weg. Eine kleine Pappkiste mit Fotos trug ich auf dem Weg zum Container ins Auto und nahm sie mit nach Hause.

Ich erzähle es deshalb, weil da eben nicht nur Familienfotos vor dem Weihnachtsbaum, Bilder vom Skiausflug 1933 oder solche des Onkels in strammer Uniform zu finden waren, sondern auch ein Bild, dass mir bis heute Rätsel aufgibt und über das es keine Erzählung der Familie gibt. Wurde vergessen, es zu vernichten, als es höchste Zeit wurde, solche Aufnahmen zu entsorgen? Warum wurde es aufgehoben? Als Erinnerung? Aber an was?

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Das kleine Foto hat einen weißen gestanzten Zierrand. So etwas gibt es heutzutage nicht mehr. Die Fotoautomaten hinten an der Stirnwand bei Rossmann drucken ohne Rand aus. Schon gar nicht mit so einem Fotorand, der an das Papier unter der tiefgefrorenen Sonntagstorte von Coppenrath & Wiese erinnert.

Auf der Schwarzweißaufnahme zu sehen sind fünf kahl rasierte Männer, im Hintergrund weitere Männer im Anschnitt. Sie stehen auf schlammigem Boden um einen alten Blecheimer herum. Kaputte alte Mäntel, ausgelatschte alte Stiefel; von einigen lösen sich die Sohlen.

Die Männer halten helle Schalen in der Hand, der Inhalt des Eimers ist nicht zu erkennen. Auf der nur minimal vergilbten Rückseite dieser Fotografie stehen drei Worte in Kugelschreiber aufgeschrieben. Offensichtlich in Frauenhandschrift nach dem Krieg aufgeschrieben, wenn stimmt, dass es Kugelschreiber für Normalsterbliche (was für ein falsches Wort in diesem Kontext!) erst später zu kaufen gab.

Da steht also in schöner Frauenhandschrift als Erklärung, was auf der Fotografie zu sehen ist: „Juden in Polen“. Und wer das Bild betrachtet, dem muss hier unweigerlich klar sein, dass es sich dabei nicht um irgendwelche Juden, irgendwo wohnhaft in Polen, handelt, sondern um eingesperrte, kahl geschorene Männer in Bedrängnis und großer Not.

Eine Aufnahme, mutmaßlich aufgenommen zwischen den Novemberpogromen in Deutschland und der millionenfachen industriellen Vernichtung der Juden in den Jahren bis 1945 vor der Befreiung der letzten Überlebenden aus den Konzentrationslagern. Nur was hat dieses Foto in der Fotokiste meiner Tante verloren, zwischen Margarinebildchen „Deutsche Kolonien“ und dem Onkel in langer Badehose im Garten bei der Pflaumenernte?

Meine Mutter war 1945 neun Jahre alt. Sie überlebte die Flucht, die Scheinerschießungen der Tschechen und sie entging nur knapp dem Tod durch Vergiftung, weil ihre Mutter das Gift im tschechischen Lager in letzter Minute doch nicht verteilte, so, wie es weitere Mütter mit ihren Kindern auf dem Stroh nebenan taten.

Das wenige, dass sie zur Vernichtung der Juden sagen kann, hat sie uns erzählt. Davon, dass sie an einem Bahnhof die Mutter fragte, was das denn für Leute seien in den Viehwaggons, aber keine Antwort bekam. Waren es Juden? Oder Kriegsgefangene? Und sie erzählte weiter, dass sie lange nach dem Krieg einmal Anne Frank las. Und dass es ihr plötzlich kalt den Rücken herunterlief, als ihr bewusst wurde, dass das ein Mädchen war wie sie. Zur selben Zeit und in etwa gleich alt. Ein Mädchen, ermordet im März 1945 im KZ Bergen-Belsen.

Gestern vor sechsundachtzig Jahren brannten in Deutschland die Synagogen. Dann verschwanden die Nachbarn meiner Großmutter, mein Vater war zwei Jahre alt, auf dem Hof des Breslauer Fahrradwerkes wurden Menschen zum Abtransport zusammengetrieben, mein Opa zog in den Krieg, während einer meiner Onkel offensichtlich verstörende Filme nach Hause schickte, die hier entwickelt und noch mit einem filigranen Zierrand versehen wurden. Es muss also auch ein Fotolabor draufgeschaut und nichts dabei empfunden haben, dieses Werkzeug anzusetzen, das diesen Zierrand stanzt.

Eingangs stand die Frage, wie nähert man sich als Deutscher fast ein Jahrhundert später so einem Datum an und welche Gefühle hat man als Nachfahre der Tätergeneration? Gibt es heute noch eine tragfähige Verantwortung? Können wir Nachgeborenen sagen, wir hätten doch mit alledem nichts zu tun? Oder tragen wir mit der Erinnerung der anderen auch eine Verantwortung in uns? Eine, die so schwer wiegt, dass auch dieser Text hier als kleines Wagnis erscheint. Darf man das überhaupt? Über den 9. November ein Stück weit in der Ich-Perspektive schreiben? Ich hoffe es.

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