Morgen wirst Du 95 Jahre alt, wie geht es Dir?
Mir geht es erstaunlicherweise gut, wenn man von einigen Dingen absieht, was eben einfach nicht mehr so klappt. Aber man muss eben zu allem etwas mehr Zeit haben, und zwischendurch setze ich mich hin. Gerade beschäftige ich mich mit schwedischen Gedichten, Sprachen machen mir nach wie vor großen Spaß.
Was ist Deine früheste Erinnerung?
Weißt Du, das ist der Vorteil vom Alter. Wenn man jetzt zurückdenkt, dann muss man ja nicht unbedingt das Negative immerzu durchdenken, sondern man kann zurückdenken an schöne Augenblicke, manchmal auch an wundersame – nicht nur wunderbare, sondern auch wundersame – die man selber gar nicht so verstanden hat. Also das Alter hat auch seine Vorteile.
Und was ist Deine früheste Erinnerung?
Ein wenig waren wir ja bevorzugt durch das Leben unserer Eltern. Vater und Mutter haben viel von der Welt gesehen. Sie sind beide nicht nur in ihren Geburtsorten geblieben. Und das bedeutete, dass es auch für uns viele interessante Erinnerungen gab. Mutter erzählte öfter von ihrer Großmutter Antonie, die ein paar Jahre in St. Petersburg gelebt hat. Und Vater erzählte von seinem Vater oder von seinen vier Brüdern. Die fünf Söhne hatten mal einen Uhrenkasten irgendwo gefunden und sind dann damit Kahn gefahren.
Dein Vater war ja ein Weltreisender mit seiner Arbeit als Koch und Herrschaftskoch …
Ja, aber das waren wohl auch „Hummeln im Hintern“. Denn seine vier Brüder haben das nicht so gemocht. Vater wollte eigentlich nach Amerika auswandern. Aber da bekam er keine richtige Möglichkeit, sich als Koch die Überfahrt zu verdienen. Da er aber etwas sehen wollte von der Welt, hat er die Ostasien-Linie der Hapag genommen und ist so bis nach Japan gekommen.
Würdest Du lieber in einer anderen Zeit leben?
Nein, ich bin jetzt sehr zufrieden. Im Moment geht mir viel durch den Kopf, was ich alles 1945 erlebt habe. Es gibt bestimmte Abschnitte meines Lebens: Da ist einmal die Kindheit, die war sehr schön, bis der Krieg kam. Und dann kam die Flucht mit allem, was dazugehörte. Schließlich folgten die Jahre beim Bauern auf den Lehrhöfen. Als Nächstes war ich fünf Jahre in Schweden. Und dann folgten über dreißig Jahre Siemens in Deutschland. Jetzt bin ich schon so viele Jahre ein fauler Rentner.
Hast Du denn einen Tipp für Leute, die auch so alt werden wollen, wie man das schafft?
Nein, das habe ich nicht. Ich glaube schon, dass da sehr viel abhängt von den Genen. Dann hängt es wohl auch davon ab, wie man gezeugt wird, ob das ein Notfall war oder wie meine Mutter sagte: Sie hat sich so auf ihr erstes Kind gefreut. Und das erste Kind war ich.
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Wenn Du heute wüsstest, Du wirst 110 Jahre alt, was würdest Du da denken?
Nein, bitte nicht. Ich komme ja mit den Gegebenheiten in der heutigen Zeit nicht mehr zurecht. Ich verstehe vieles nicht mehr, und zwar nicht vom Verstand her gedacht, sondern von meinem Gemüt oder von der Seele her. Vieles von dem, was heute so üblich ist, begreife ich nicht mehr.
Also kann man sagen, man fühlt sich im Alter auch ein bisschen fremd in seinem eigenen Leben?
Ja, ich sage immer mal wieder, das ist nicht mehr meine Welt, da kann ich nicht mehr mitspielen.
Hast Du irgendwo den Zug verpasst in die Moderne? Oder glaubst Du, das ist im Alter automatisch so, dass man sich fremd fühlt?
Das hat nichts mit mir als Person zu tun, sondern viel mehr mit den Jahren, die vergehen. Wir haben noch ganz andere Ideale vorgelebt bekommen.
Wenn sie beispielsweise heute immerzu reden, dass sie alles Mögliche wieder verwenden wollen und so, „Recycling“ und was sie alles für Schlagwörter dafür haben, dann muss ich sagen, das war für uns doch selbstverständlich, dass wir sparsam mit Wasser umgehen usw.
Wir mussten Wasser noch von einer Quelle im Park holen, weil die Pumpenrohre plötzlich alle verrostet waren. Und die Lebensmittel gab es im Krieg nur gegen Karten. Alles wurde sehr sparsam verwendet. Und wenn Gemüse übrig war, dann gab es eben einen Teller Suppe davon.
Freust Du dich gar nicht, dass Du heute auch mal eine Kiwi essen kannst und einkaufen kannst, was Du magst?
Vor allem, dass ich es mir leisten kann! Es war ja früher auch vieles da, aber ich konnte es mir nicht leisten, oder ich wollte es mir nicht leisten. Wenn zum Beispiel jemand sagt, ich muss immer mal schön essen gehen, das war für mich nie so eine große Freude. Ich esse auch gerne zwei Mal das Gleiche.
Du wohnst noch in Deiner Wohnung …
Ja, ich möchte aus meiner Wohnung getragen werden und nicht aus irgendeinem Heim, wo ich mich über die Leute und ihre Tischmanieren aufrege.
Für welche technische Erneuerung bist Du besonders dankbar, was es früher nicht gab?
Eigentlich für alles, was man so im Haushalt an kleinen Geräten hat. Da bin ich schon froh darüber. Ich war auch sehr froh, dass ich mir das Auto leisten konnte. Wer hat denn früher schon ein Auto gehabt? Der Arzt und der Kaufmann. Später in Schweden habe ich eine Deutsche beneidet, die hatte auch einen Führerschein und fuhr das Auto der Familie, bei der sie gearbeitet hatte.
Was wünschst Du den Deutschen für ihre Zukunft?
Dass sie vielleicht mal wieder ihre alten Vorstellungen von den Dingen haben. Ich ärgere mich im Augenblick sehr, dass sich alle Welt aufregt, dass die Russen die Krim haben, und was sich die Russen da alles von der Ukraine genommen haben. Ich höre allerdings nie, dass sich jemand aufgeregt hat, dass Schlesien besetzt wurde von den Polen. Die haben noch bis zwei Jahre nach dem Krieg die deutsche Bevölkerung rausgeschmissen.
Dann müsstest Du doch eigentlich auf der Seite der Ukrainer stehen …
Ich finde das auch alles nicht richtig. Und vor allem wissen wir gar nicht genau, was da eigentlich los ist. Mein Vater sagte immer, die Russen liegen uns näher als andere Völker. So zum Beispiel die Amis, die in ihrer Art in der Hauptsache verdienen und Geschäfte machen wollen. So sind ja die Russen nicht. Die sind auf eine andere Art ein bisschen primitiv, das haben wir ja auch erlebt.
Glaubst Du an ein Leben nach dem Tod?
Nein. Das hast Du übrigens beim letzten Mal schon gefragt. Und ich habe geantwortet: Stell Dir einmal vor, ich wäre im Himmel und würde dann auf alle die Leute treffen, die uns mal schikaniert haben. Da denke ich als Erstes an die Tschechen oder auch manchen Nachbarn von früher, die da so hässlich zu unseren Eltern waren. Und die soll ich dann da oben alle wieder treffen? Also der Gedanke ist mir ganz fremd, obwohl ich ja sonst zu den Christen zähle, wenn ich auch kein Kirchgänger bin.
Wenn Du sagst, die haben Euch schikaniert, dann sind die vielleicht auch gar nicht da oben, sondern eher da unten …
Die werden ja von irgendeiner Seite dafür gelobt worden sein, sonst hätten sie das doch gar nicht gemacht.
Danke für das Gespräch und herzliche Glückwunsche zum 95.sten!
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Kommentar von Bernhard Rossi
Tante Anneliese trägt das Herz auf dem richtigen Fleck! Chapeau und alles Gute!
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Kommentar von Kolmogorovw
Sonst lassen wir mal unseren Zerberus frei !!
Letzte Frage für heute:Wem gehört der Punkt?
Kommentar nr 13
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Kommentar von Kolmogorovw
Sonst lassen wir unseren Zerberus frei !!
a!=!a
Kommentar nr 12
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Kommentar von Kolmogorovw
Sonst lassen wir den Zerberus frei
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Kommentar von Kolmogorovw
...die größte Aufgabe...
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Kommentar von Kolmogorovw
...ein Kreis hat keinen Anfang und kein Ende... ...das ist für mich das größte Problem
err: . ..sol:wrap-around
"Grenzen"müssen in"Art"und"Weise"klar definiert sein
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Kommentar von peter struwwel
Es ist ein berührender Text, der aber auch wieder einmal bestätigt, daß das Alter
nur ein Zustand ist - jedenfalls keine Krankheit.
Was übrigens im Zusammenhang mit ein wenig älter gewordenen Menschen nie
zur Sprache kommt, ist die Tatsache, daß zwar dem Körper die "Vermoosung" nicht
erspart bleibt, unser Blick jedoch das ganze Leben über alterslos ist.
Eine ebenfalls über neunzigjährige Dame drückte das einmal so aus: immer wenn
sie ihrem Spiegelbild begegnet, fragt sie überrascht "wer bist du denn?" Sie blicke
ständig aus den Augen einer Vierzehnjährigen.
So gesehen, liebes Geburtstags"kind", möchte ich mich ebenfalls, wenn auch als ein
Fremder und daher ganz im bescheidenen Hintergrund, Ihren wohl sehr vielen
Gratulanten anschließen (dürfen).
Und weiterhin gute Lichtverhältnisse für Sie. Behalten Sie das Leben im Auge.
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Kommentar von Ulf Küch
Ich habe das Interview mit einer Träne im Auge gelesen.
Meine Mutter war auch Jahrgang
1928 und wurde knapp 93 Jahre alt.
Sie war bis zu ihrem "vorzeitigen" Tode, den ich der damaligen Hysterie um Covid 19 und der Tatsache, dass sie isoliert wurde, zuordne, geistig topfit.
Auch mit ihr zu sprechen war hochinteressant und sie ging mit ihren Lebenserfahrungen grundsätzlich in Demut um.
Ich wünsche der alten Dame alles Gute und möge es so kommen, wie sie es sich wünscht.