Meine Frau bestellte neulich bei der Bundeszentrale für politische Bildung ein Buch mit Titel „Das Elend der Verschickungskinder – Kindererholungsheime als Orte der Gewalt“. Sie kam darauf, weil sie einen Bericht darüber gelesen hatte und immer wieder der Ort Bad Rothenfelde genannt wurde, den ich ihr gegenüber öfter erwähnt haben soll.
Tatsächlich wurde ich mit meinem Zwillingsbruder im Sommer 1968 für sechs Wochen nach Bad Rothenfelde verschickt, die Kinderärztin in Braunschweig hatte es organisiert und alle notwendigen Formulare ausgefühlt, die Durchschläge liegen bis heute abgeheftet in einem Ordner.
Mein Bruder und ich waren demnach etwas schwach auf der Brust und brauchten Luftveränderung. Die Eltern hatten für diese Zeit der Kinderverschickung einen Urlaub in Italien gebucht, beide waren Kriegskinder. Gemessen an den Schrecknissen, die sie durchgemacht hatten bis hin zu Scheinerschießungen auf der Flucht beim Tschechen, kann man auch von Kriegsüberlebenden sprechen.
Es existiert bis heute ein kleines Fotoalbum mit Bildern aus dem Urlaub der Eltern. Der Umschlag ist aus dickem Plastik mit italienischen Motiven bedruckt. Die Seiten sind aus schwarzem Karton und die Mutter hat mit einem weißen Kreidestift in Schönschrift die Stationen des Urlaubs beschrieben. Der Vater klebte noch unter Wasserdampf abgelöste Etiketten von Weinflaschen, Eintrittskarten für die Oper und eine Hotelrechnung ins Erinnerungsalbum mit hinein.
Ich meine mich noch 54 Jahre später zu erinnern, dass es am Abend klingelte. Ein alter grauhaariger Mann betrat damals die Wohnung, er nahm im Wohnzimmer Platz und wir wurden – was durchaus ungewöhnlich war – aus dem Kinderzimmer dazugeholt. Nach einer halben Stunde verschwand der Mann wieder und wurde auch von uns vergessen, er hatte keine Bedeutung mehr, die kam erst später zurück.
An einem sonnigen Morgen fuhren die Eltern mit uns und einem kleinen Koffer zum Braunschweiger Bahnhof, es hieß, wir verreisen jetzt. Die Mutter hatte Brote geschmiert, ich weiß es noch, als wäre es heute: Es waren Vollkornbrote mit der geliebten Leberwurst ohne Stückchen auf Butter und als Krönung noch dünne saure Gurkenscheibchen obenauf.
Am Bahnhof stand dann plötzlich wieder dieser alte Mann, der Tage zuvor noch im Wohnzimmer saß. Die Eltern brachten uns ins Zugabteil und plötzlich saßen wir drinnen, die Eltern standen aber draußen und der alte Mann hatte den Fuß quergestellt damit wir nicht zur nahen Tür laufen könnten, der Zug fuhr los, die Eltern winkten und wurden dann immer kleiner.
Wir durften unsere Brote nicht essen, der alte Mann meinte: „Erst später.“ Die kleinen Teddybären, die wir mit auf die Reise geschenkt bekommen hatten, hielten wir ganz fest und wollten sie gar nicht mehr weglegen.
Als wir vor der weißen Villa im Grünen standen, deren Außenwände man kaum anschauen konnte, weil die Sonne so grell darauf schien, fing der Bruder wieder an zu weinen. Und ich verstand auch sofort warum: Es war die Angst, was uns wohl ohne die Eltern hinter der großen Holztür erwartete. Der dunkle Gong der Klingel schepperte bis nach draußen, eine Frau mit Haube erschien und der Mann verschwand, die Leberwurstbrote waren in der Tüte mittlerweile ganz weich und wir gerade vier Jahre alt geworden.
Nachdem wir eine gefühlte Ewigkeit in einer Reihe aufgestellt nur so dastanden wie die Orgelpfeifen und ohne uns bewegen zu dürfen, fingen die Allerkleinsten wieder an zu heulen.
Es muss also im Heim auch Kinder gegeben haben, die noch jünger waren als vier Jahre. Der Mann im weißen Kittel und die beiden Frauen mit Haube schrien abwechselnd: „Wer hat den Schrank kaputt gemacht? Wer hat den Schrank kaputt gemacht? Ihr bleibt alle so lange stehen, bis der Schuldige vortritt!“ Und wir standen und ich hatte dolle Angst, mir in die Hose zu machen.
Warum kann man sich über 54 Jahre später an solche Details erinnern? Ich weiß es nicht, weiß nicht einmal ob es echte Erinnerungen oder Patchwork-Erinnerungen sind, wir waren ja zu zweit.
Irgendwann trat einer der älteren Jungen nach vorn und gestand mit gesenktem Kopf, dass er es war, dem die Tür des Spieleschranks kaputtgegangen war. Ich glaube, ich hielt ihn damals für den mutigsten Jungen der Welt. Die Reaktion der Erwachsenen war ebenfalls seltsam, denn es brach keineswegs das große Geschrei über dem Jungen zusammen, er wurde sogar dafür gelobt, geständig gewesen zu sein, aber es klang ganz anders, als ein Lob, das man bekam, wenn man zu Hause brav sein Zimmer aufgeräumt hatte.
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Der Entzug des Nachtischs drohte täglich, immer musste man aufpassen, richtig zu essen und vor allem aufzuessen. Wer etwas falsch machte, musste auf den grünen oder roten Wackelpudding mit dem Hauch Vanillesoße obenauf verzichten, die Erwachsenen gaben es einem anderen Kind, das dann zwei essen durfte.
Mein Bruder erzählt bis heute, ich hätte ihn gefragt, ob die Eltern denn tot seien. Er hätte immer beruhigend geantwortet: Nein, die Eltern sind nicht tot. Ich erinnere mich daran nicht. Ebenso wenig, wie ich sagen kann, ob mich beim Aufschreiben die Erinnerung selbst aus dem verschütteten Inneren heraus bewegt oder ob es mir dabei einfach wie jedem Leser einer bewegenden Geschichte geht, nur dass ich sie gerade selbst aus meiner eigenen Erinnerung und der Erzählung des Bruders aufschreibe.
Der Bruder sagt, wie mussten stundenlang im kalten Wasser in Wannen unter den Salzsalinen von Bad Rothenfelde hocken, weil das gesund sein sollte. Ich erinnere mich auch daran nicht. Aber ich weiß, dass wir irgendwann gemeinsam unsere Teddys nahmen und ihnen die glänzenden braunen Augen ausgerissen haben. Die Mutter hat später mit Kreuzstich und dicken blauen oder grünen Wollfäden neue Augen gemacht. Die Wollfadenaugen sahen dann aus wie die Narben auf den Oberarmen von Piraten in einem unserer Bilderbücher.
Als wir einmal zu laut waren, kamen wir in unterschiedliche Zimmer zum Mittagsschlaf. Aber gottseidank nur für die ein paar Stunden. Es gibt noch mehr Erinnerungen, aber sie sind zusammenhangslos. Und es sind immer helle sonnendurchflutete Bilder wie aus einer antiseptischen Klinik im Scheinwerferlicht. In der Erinnerung ist alles überbelichtet wie die Außenfassade des Hauses, bevor wir es zum ersten Mal betraten.
Ich erzählte dem Bruder von dem Buch, welches meine Frau bei der Bundeszentrale für politische Bildung bestellt hatte. Seitdem schickt er mir einen Link nach dem anderen. Bad Rothenfelde war in den letzten Jahren offenbar in aller Munde, ohne dass ich es bemerkt hätte, nur meine Frau horchte auf und bestellte besagtes Buch.
Die Neue Osnabrücker Zeitung (NOZ) titelte von „Heimweh auf Rezept“ und einem „System Kinderkur“. Eine eigens eingerichtete Webseite „Kinderverschickung.de“ titelt „Als ich heim kam, stank ich erbärmlich nach Urin“ und „Selbst ein Toilettengang war mit Angst verbunden.“ Und wieder die NOZ titelte „Ein Alptraum für viele Kinder“ oder „Wie viele wurden bei Kinderkuren in Bad Rothenfelde misshandelt?“
Ruhr24 berichtete vor wenigen Tagen von Entschädigungen für Verschickungskinder nach Nordrhein-Westfalen unter der Schlagzeile: „Verschickungskinder erlitten schlimme Traumata“.
Da heißt es unter anderem vom NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU):
„Sie müssen oftmals bis heute mit den Nachwirkungen umgehen. Es ist höchste Zeit, dieses Leid wahrzunehmen sowie die Ursachen und die Umstände, unter denen es zugefügt wurde, systematisch und umfassend zu erforschen und aufzuarbeiten. (…) Viele Betroffenen leiden noch heute unter den Folgen, die zum Teil jahrzehntelang ignoriert wurden. Deshalb muss der Runde Tisch auch über geeignete Therapieangebote sprechen“.
Die Zeitung berichtet auch von Medikamententests, die an den Verschickungskindern vorgenommen wurden: Lagen da wirklich diese bunten Tabletten neben dem Teller oder ist das schon eine Verknüpfung mit anderen Erinnerungen und Erzählungen? Nein, man kann nicht mal eben wieder vier Jahre alt sein.
Ehrlich gesagt hat es mich überrascht, das alles jetzt nachzulesen. Was kann einem als Vierjährigen passieren, was macht das im späteren Leben und geht es jemandem, der demgegenüber lebenslang in Watte gebettet wurde, besser?
Ein Vierjähriger kann sein Schicksal ja kaum selbst bestimmen. Aber die Lebensumstände eines Vierjährigen bestimmen sein weiteres Leben. Was ist Stockholm-Syndrom, was ist aus der Erzählung anderer dazu gekommen, was ist wahr, was ist wichtig, was ist richtig? Und was ist nicht so schlimm und nur eine Erfahrung von vielen auf dem Weg zum Erwachsensein?
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Kommentar von Wolf Boldt
Ich habe es auch 1976 als 10 jähriger in der DDR erlebt. Das Heim "Kinderkurheim" hieß "Edgar Andre´" und war in Falkensee bei Berlin. Wir wurden nicht geschlagen, aber bedroht, abgeschrien und erniedrigt und natürlich sozialistisch indoktriniert.
Hier hat aber, soweit ich weiß, eine Aufarbeitung stattgefunden. Der Heimleiter und seine Frau standen wohl vor Gericht und wurden verurteilt, habe ich mal irgendwo am Rande mitbekommen.
Aber hier im Bericht vierjährige und jünger. Ich würde sagen, die haben was mit ihren Eltern aufzuarbeiten ...
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Kommentar von Thomas Schöffel
Schlimme Geschichte und auch die Kommentare dazu. Was bin ich froh, sowas nicht erlebt haben zu müssen. Meine kleine Schwester und ich konnten als vier- und fünfjährige so 1966 durch den Zaun in einen Kindergarten schauen. Alles sah so schön aus mit der großen Sandkiste und den vielen bunten Spielsachen und wir baten unsere Eltern, auch dort "mitspielen zu dürfen". Unser Vater hatte im Dorf was zu sagen und so konnten wir kurze Zeit später bereits dabeisein. Aber was für eine Enttäuschung. Die Schwestern oder Aufpasserinnen waren streng, meine Bauklotzritterburg wurde mit einem Handstreich zerstört und nach dem Mittag mußten wir mit vielen anderen Kindern in einem großen Raum schlafen. Das wollten wir nicht, wir fühlten uns unfrei, geschurigelt und wollten nichts wie weg da. Gottseidank haben uns unsere Eltern dann sofort wieder da rausgenommen. Wenn ich mich heute daran erinnere, wie schlimm uns schon dieser eine Tag Kindergarten vorkam, dann tun mir die anderen Kinder sehr leid, die hier die schlimmen Erfahrungen machen mußten. Das schlimmste Erlebnis war, daß meine Schwester und ich mal von einer umherstreifenden Kinderbande in einen Kanalisationsschacht, der gerade neu gebaut wurde, eingesperrt worden sind und dann haben sie schwere Bretter oben draufgelegt, sodaß wir nicht abhauen konnten und sind dann weggelaufen. Später konnten wir uns aber selber befreien. Auch so gab es Angst im Dorf. Die Gebrüder Weich oder Kreuzfeld hatten einen ganz furchtbaren Ruf. Auch so schreckliche Kinderbanden. Denen lief man am besten nicht über den Weg. Die suchten immer Streit. Dort, wo die wohnten, im Asyl, da traute sich kein normales Kind hin. Einmal mußte ich als Mutprobe mit dem Fahrrad durch die Asylstraße. Ich fuhr so schnell ich konnte, Steine flogen um meinen Kopf und Holzstöcke wurden geworfen, damit sie in die Fahrradspeichen kamen und ein böser Hund wurde mir auch noch hinterhergehetzt. Ich habe es aber bis zur Ausfahrt in den Berliner Ring geschafft. Noch heute, als über 60-jähriger Mann vermeide ich die "Asyl"-Gegend in meinem Heimatdorf, obwohl es das dort gar nicht mehr gibt. Was Erwachsene nie wahrhaben wollen, ist diese tiefe Ernsthaftigkeit, mit der Kinder ihre Eindrücke bekommen. Schon als Kind war mir klar, daß das die Erwachsenen nicht kapieren. Nie haben sie uns Kinder richtig ernstgenommen, sondern alles immer so als kindischen Kram beiseitegewischt. Mit meiner Angst vor Roger, das war so ein Junge, der mich als Feind ausgeguckt hatte, war ich ziemlich allein. Es wäre unmöglich gewesen, das den Eltern zu erzählen. Die hätten nur ein paar oberschlaue Bemerkungen gemacht, aber nichts vernünftiges, was mir geholfen hätte. Als ich gemerkt hatte, daß dieser böse Junge offenbar weggezogen war, konnte ich das erste mal seit langer Zeit wieder frei im Dorf rumlaufen ohne Angst zu haben. Bis dahin hatte ich dann lieber zuhause Bücher gelesen, da mußte ich nicht nach daußen. Und auch heute noch sehe ich dasselbe Schema. Die meisten Erwachsenen, so schlau sie sich auch geben, haben vom Kindsein überhaupt keinen Plan.
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Kommentar von Anne Wand
Auch ich war mit meinem Bruder in so einer Verschickung, auch wenn ich mich nicht mehr an vieles erinnern kann, ein paar Sachen sind hängengeblieben.
Wir waren in Norderney , ich so 6 oder 7 Jahre alt, mein Bruder 10 Jahre, Essen war schrecklich, nachts herrschte absolute Ruhe wenn nicht wurde man, von Nonnen, an den Ohren aus dem Bett gerissen und musste stundenlang im kalten Flur, nur mit der Unterhose bekleidet stehen, ist mir persönlich so passiert. Ein anderer Junge wurde geschlagen weil er ein nerviges Lied öfters absang. Ich habe auch eine Postkarte rausgeschmuggelt und um sofortige Abholung gefleht, keiner kam, nur mein Opa wollte mich holen wurde aber von meiner Mutter daran gehindert Sie war wohl auch als soziale Aufsteigerin, die dazugehören wollte, dem Zeitgeist zeitlebens brav hinterhergelaufen und hat Obrigkeiten bis jetzt nie kritisch hinterfragt. Das und manch andere Sachen haben mich zum Rebellen werden lassen und aufgrund der Erfahrung mit den Nonnen und dem elterlichen Zwang, unter Androhung von massiver körperlicher Gewalt, jeden Sonntag zur Kirche gehen zu müssen, eine tiefe Verachtung für die katholische Kirche und der heuchlerischen "Gläubigen" hinterlassen.
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Kommentar von Andreas Boerner
Ich war in Wyk auf Föhr - das totale Ausgeliefertsein! Das hat mich fürs Leben geprägt- äußerlich eine gewisse, innerlich eine kompromisslose Überlebenshärte. Welch Verbrechen!!!
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Kommentar von Andrea
Ich war auch dort!!! 1974!!! Ich verdrängen es weiter!!!
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Kommentar von Barbara Blume
Dieser Artikel hat mich ziemlich schockiert und weckte Erinnerungen, die meinen
3 1/2 J. jüngeren 1950 geborenen Bruder betreffen. Er hatte als Kind mehrmals eine Lungenentzündung und wurde deshalb in ein Kinderheim im Schwarzwald (Nähe Titisee) geschickt. Er war damals ca. 3 o. 4 Jahre alt. Unsere Eltern haben ihn selbst dorthin gefahren, da sie schon ein Auto hatten (ich war nicht dabei).
Den Schilderungen unserer Eltern nach, hat er natürlich beim Abschied sehr geweint
u. wollte nicht dort bleiben.
Ich weiß nicht mehr wie lange er dort verbringen musste, aber ich glaube, meine Eltern mussten ihn etwas früher als geplant abholen
Das Kinderheim wurde nachher immer als "rotes Kinderheim" bezeichnet und immer wenn er nicht brav war (das war leider sehr oft), wurde "das rote Kinderheim" erwähnt.
Scheinbar hatte er sehr große Angst, dort wieder hin zu kommen und war dann erst mal wieder brav.
Ich habe nie mitbekommen, dass er etwas über den Aufenthalt erzählt hat (war ja noch sehr klein), aber er hatte panische Angst vor "dem roten Kinderheim".
Das alles ist jetzt wieder bei mir hoch gekommen und hat eine ganz neue schrecklich Bedeutung bekommen. Unsere Eltern waren sehr liebevoll und haben sicher auch nichts Schlimmes mitbekommen, sonst hätten sie ihn nicht dort gelassen.
Vielleicht hing das spätere Verhalten meines Bruders, dass für uns alle (auch für mich als große Schwester) oft sehr anstrengend war und bis in das Erwachsensein reichte, mit den Erlebnissen "im roten Kinderheim" zusammen ?
Danke für den Artikel, Herr Wallasch!
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Kommentar von Maria M. Lena
Als seinerzeit, 1964, unter Einjährige, ohne aktive Erinnerung daran, in der DDR in die Wochenkrippe abgeschoben, rührt mich Ihr Artikel zu Tränen. Auf Wolken gebettet war ich nie, auch nicht nach meiner Umsiedelung, nach der Wende, in den Westen. Was aber als Säugling, Kleinkind, und älter, einem angetan werden kann, und wird, hat durchaus, je nach weiterem Umfeld, Einfluss auf jegliche und weitere Entwicklung. Ab Zeitpunkt x hat man es aber selbst in der Hand, vllt nur schwierigere Startbedingungen. Bei Ihnen hat es doch geklappt :-) Ja, bei mir weitestgehend auch ;-)
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Kommentar von Nordlicht
Meine erste Kinderverschickung fand 1958 statt, ich war 9 und wurde dort 10. Das Heim war irgendwo bei Berchtesgaden, und es war für mich schrecklich. Grantige alte Schwestern in Tracht, streng überwachte Mittagsschafzeit, wer sich umdrehte wurde bemeckert.
Das zweite Mal, ein Jahr später, ging es in den Schwarzwald. Ich erinnere mich an abenteuerliche Ausflüge und junge Betreuerinnen. Toll.
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Kommentar von H. Jacobsen
Meine Eltern hatten auch die Empfehlung mich in so ein „Erholungsheim“ zu schicken. Ich war die kleinste meines Jahrgangs und sehr dünn. Ich wollte aber da nicht hin und habe das auch sehr lautstark kundgetan. Meine Eltern, beide viel zu viel Arbeit, hatten keine Lust auf die Diskussionen mit mir und schoben das Thema solange beiseite bis es kein Thema mehr war.
Wenn ich das so lese, dann kann ich heute noch stolz darauf sein, mich in dieser entscheidenden Frage durchgesetzt zu haben.
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Kommentar von Antonius Kellner
Sehr geehrter Herr Wallasch, da ist lustig. Ich wohne in der Nähe von Bad Rothenfelde. Nach zwei Lungenentzündungen bin ich 1969 mit sechs Jahren für sechs Wochen nach St. Blasien im Schwarzwald gekommen.
In Bad Rothenfelde hätten mich meine Eltern besuchen können. War wohl nicht gewollt.
Auch da war es genau wie Sie hier beschrieben haben. Déjà-vu.
Mit sechs Jahren war ich so in der mittleren Altersklasse. Disziplin wurde groß geschrieben, aber wie soll man sonst mit 120 Kindern umgehen. Es mussten auch untereinander gewisse Rangordnungen geklärt werden. Es ist für die Erzieher nicht einfach mit einem Trupp Kinder klarzukommen die sich such untereinander nicht kennen. Mißhandlungen gab es keine, allerdings hatte ich großes Heimweh. Mein Großvater hatte mir gesagt, wenn du Striche auf die Postkarten macht, holten wir dich wieder. Wir haben jeder Woche eine Postkarte geschrieben. Eine, ich meine Krankenschwester, die Frauen hatten weiß an, schrieb den Text an der Wand vor. Wer konnte malte es ab. Die Adresse schreib sie. Meine Striche wurden von Woche zu Woche länger aber keiner kam. Das hat etwas mein Vertrauen in meinen Großvater untergraben.
Ein Mal in der Woche durften wir Fernsehen. Eine halbe Stunde. Exakt. Zur festgelegten Zeit. Das war eine große Sache für mich, hatten wir doch zu Hause keinen Fernseher. Das dumme an der Sache. Wir haben immer die letzte viertel Stunde von Lassie geschaut und dann die erste Viertelstunde von Fury. Dann war die halbe Stunde rum und der Fernsehen wurde ausgeschaltet.
Es war nicht schön wegen dem Heimweh. Die Leute haben aber ihr bestes gegeben. Ich war allerdings alt genug um zu verstehen warum ich dort war. Bei den kleineren war das anders.
Als ich nach Hause kam hatten wir auch einen Fernseher. Mein Vater wollte die Mondlandung sehen.
Antwort von Alexander Wallasch
Sie sind ein wunderbarer Erzähler, danke dafür!
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Kommentar von Thomas Kohlrausch
In der DDR war es ähnlich. Ich wurde 1976 als 10jähriger zu einer vierwöchigen "Kur" geschickt, da ich sehr untergewichtig war. Diese Kur (Volkersdorf bei Dresden) war die Hölle. Wir wurden geohrfeigt, wenn wir unsere Teller nicht leergegessen hatten. Wir durften nicht vom Tisch aufstehen, bis der Letzte seinen Teller leergegessen hatte. Es war eine Mastkur - ein Qual, die zudem keinerlei Erfolge zeitigte. Wir lernten schnell voneinander, dass und wie man sich nach den Mahlzeiten durch Erbrechen der aufgenommenen Nahrung wieder entledigte ... Wurden wir dabei erwischt, wurden wir geschlagen. Bis heute hat sich niemand für die Aufarbeitung dieser Vorfälle interessiert.
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Kommentar von Axel Berger
Bei meinen Eltern, die beide nicht mehr leben und die ich nicht fragen kann, war es ganz sicher ein teures Heim aus der Oberklasse. Trotzdem bis heute eine meiner schlimmsten Erinnerungen überhaupt. Es war Zeitgeist, das sei "gut für Kinder", und meine Mutter ist als soziale Aufsteigerin, die dazugehören wollte, dem Zeitgeist zeitlebens brav hinterhergelaufen.
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Kommentar von Peter Löcke
Kinderverschickungsheime? Es gibt eine wenig diskutierte Parallele ins Jetzt. Es gibt nicht nur körperliche und sexuelle Gewalt. Auch längere Isolation, der Entzug von sozialen Kontakten ist eine Form von Gewalt. Viele Heimkinder haben dadurch Traumata und andere lebenslange Störungen entwickelt. Darüber wurden Bücher geschrieben. Dafür gibt es einen Fachbegriff: Soziale Deprivation. Steht auch in jedem Lehrbuch für Altenpfleger. In jedem Lehrbuch steht, dass man soziale Deprivation verhindern muss, weil das alte Menschen krank macht und schlimmstenfalls tötet.
Der Begriff "Soziale Deprivation" ist auch unter anderen Namen bekannt wie "Schutzmaßnahmen" oder 2G-Plus-Regel. Gewisse Geheimdientse wenden diese "Schutzmaßnahmen" als Foltermethode an. Wenn jemand nämlich dauerhaft in Einzelhaft ist, dreht er durch. Denken Sie mal darüber nach, Sozialminister Karl-Josef Laumann.