"Lass Dich nicht verhärten in dieser harten Zeit"

Prof. Patzelt – Das große Interview 2024: Was erwartet Deutschland?

von Alexander Wallasch (Kommentare: 5)

Die Medien haben großen Einfluss darauf, was die Politik machen kann.© Quelle: YouTube Phoenix, Screenshot

Was führte uns zur aktuellen parteipolitischen Lage und welchen Ausblick gibt es für 2024? Alexander Wallasch sprach mit Prof. Werner J. Patzelt unter anderem über neue Parteigründungen, über ein Land am Rande des Nervenzusammenbruchs und über eine CDU auf der Suche nach ihrem Wesenskern.

Dieses Interview erschein zuerst bei Epoch Times

Prof. Patzelt zählt zu den bekanntesten Politikwissenschaftlern in Deutschland. Fast drei Jahrzehnte war er Inhaber des Lehrstuhls für politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden. Prof. Patzelt ist heute auch Forschungsdirektor des Mathias Corvinus Collegium in Brüssel.

Die WerteUnion wird Partei. Wie bewerten Sie diese Neugründung? Welche Chancen räumen Sie ihr ein?

Wie groß Chancen der Neugründung sein werden, kann man erst dann erkennen, wenn wir erste demoskopische Umfragen haben. Jetzt aber lässt sich schon sagen, dass die Gründung dieser neuen Partei schade ist. Ich weiß, dass die WerteUnion sich jahrelang bemüht hat, die CDU auf einen Kurs zurückzubringen, mit dem sie wieder 40 plus x Prozent der Stimmen erringen könnte. Ich weiß auch, dass sich die WerteUnion intensiv bemüht hat, mit dem neuen Vorsitzenden Merz, der immerhin ganz wesentlich dank Unterstützung der WerteUnion zum Vorsitzenden geworden ist, gut zusammenzuarbeiten.

Doch leider hat die CDU – mehrheitlich immer noch von Merkel-Anhängern geprägt – alle Vorschläge und Unterstützungsversuche der WerteUnion an sich abperlen lassen, ja die WerteUnion bekämpft. Also entsteht nun eben eine neue Partei. Sollte sie Erfolg haben, wovon ich nicht überzeugt bin, dann wird die CDU künftig keine Wahlergebnisse mehr klar oberhalb von 30 Prozent erringen können.

Sie haben das Verhältnis der CDU zu Merkel erwähnt. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat zuletzt klargemacht, dass es keine Aufarbeitung der Merkel-Ära geben wird. Er kündigte zudem an, Frau Merkel in den Wahlkampf einbinden zu wollen. Wie sinnvoll ist diese Entscheidung?

Wer ein Gegner der CDU ist, wird sich über diese Entscheidung freuen. Wer ein Sozialdemokrat oder Grüner ist, der immer mit Frau Merkel inhaltlich gut zurechtkam, wird diese Entscheidung sogar für richtig halten. Wem aber an einer starken CDU gelegen ist, die nicht weitere Wähler hin zur AfD oder zu sonstigen Parteien verliert, der wird diese Entscheidung nicht als gut erachten.

Nach 16 Jahren Kanzlerschaft Angela Merkel ist nämlich klar, dass sie entscheidende Fehler auf den Gebieten der Migrationspolitik, der Energiepolitik, der Sozialpolitik, auch der Sicherheitspolitik gemacht hat. Und sich davon nicht zu distanzieren, lässt der CDU viele Mühlsteine am Halse hängen.

Drei Landtagswahlen im Jahr 2024, Ende des Jahres beginnt schon der Bundestagswahlkampf für 2025. Erwarten Sie als Politikwissenschaftler spannende Debatten? Schlägt Ihnen das Herz da höher? Oder haben Sie die Nase mittlerweile voll ?

Als Politikwissenschaftler kann ich genauso wenig von der Politik die Nase voll haben wie ein Sternekoch von gutem Essen! In diesem Jahr werden wir zwar erregte Debatten, aber wohl keine wirklich spannenden Auseinandersetzungen bekommen, weil sich sowohl absehen lässt, was eintreten wird, als auch, wie die Fronten verlaufen.

Die AfD wird in Ostdeutschland zur stärksten Partei werden. Die anderen Parteien werden dann Allparteienbündnisse gegen die AfD schmieden. Und die CDU wird, gar wenn sie mit der Linken koalieren müsste, in dieser Rolle weiter schrumpfen.

Bislang begreift die CDU einfach nicht, dass – solange sie sich nicht von der Merkel-Ära distanzieren will und nach den ostdeutschen Landtagswahlen erneut Koalitionen mit den Grünen eingehen wird – für die Wählerschaft nun einmal ganz klar ist: Jede Stimme für die CDU ist eine Stimme für die Grünen – oder zumindest dafür, dass die Grünen an der Macht bleiben.

Als einzig spannende Diskussion kann ich mir nach den Landtagswahlen allenfalls eine solche vorstellen, bei der die allenthalben zur Einsicht Kommenden ernsthaft mit jenen streiten, die weiterhin vernagelt sind. Natürlich gilt das nicht nur für die CDU, sondern auch für die SPD. Die wird in Sachsen womöglich gar aus dem Landtag fliegen, spielt sich aber immer noch als Bollwerk gegen alles auf, was ihr nicht gefällt. Sie ist freilich ein Bollwerk mit so geringem Gewicht, dass die Selbstdarstellung als „Bollwerk“ durchaus an Realsatire grenzt.

Dem „Bündnis Sahra Wagenknecht“ wurde im Vorfeld ein Potenzial von zwölf Prozent zugesprochen. Halten Sie das für realistisch?

Bei Potenzialanalysen, wie sie etwa das INSA-Institut durchführt, werden die Leute danach gefragt, welche Partei sie auf gar keinen Fall wählen würden. So kann man erkennen, welchen Prozentanteil eine Partei maximal erreichen könnte. Aber zwischen dem „könnte“ und dem, was in der Wahlkabine tatsächlich geschieht, liegt ein weiter Weg.

Mir scheint im Übrigen, dass aus zwei bis drei Gründen falsche Hoffnungen in die Wagenknecht-Partei gesetzt werden. Die erste falsche Hoffnung kommt von folgender Milchmädchenrechnung: Vernünftiges gäbe es links und rechts; also schüfen linke Sozialpolitik und rechte Migrationspolitik gemeinsam eine vernünftige Partei. Beide Politiken brauche unser Land auch; und somit erweise sich, sozusagen im politischen Mittel, die Wagenknecht-Partei als eine ziemlich normale und obendrein notwendige Partei. Also könnten mit ihr die gefledderten Christdemokraten, die Sozialdemokraten und auch die Grünen gut zusammenwirken, um stabile nicht-rechte Regierungen zu bilden. Derlei erscheint mir ein trügerisches Hoffnungsgespinst. Ich sehe nämlich nicht, wie die grundlegenden Wertansätze beider Politiken zusammenpassen und dann gemeinsam überzeugend vertreten werden könnten.

Die zweite trügerische Hoffnung ist die, dass die Wagenknecht-Partei das lange gesuchte und nun gefundene Heilmittel gegen die AfD wäre. Weil die Wagenknecht-Partei für eine scharfe Begrenzung der Zuwanderung nach Deutschland stünde, gäbe es nun keine guten Gründe mehr, die AfD zu wählen. Wer das meint, der bedenkt nicht, dass viele Leute die AfD genau wegen ihrer Überzeugung wählen, sie sei die einzige wirkliche Alternative zu allen etablierten Parteien.

Und die dritte Hoffnung, meist von Rechten gehegt, geht dahin, dass die Wagenknecht-Partei der Linken das endgültige Aus bescheren werde. Das ist halbwegs realistisch, denn ohne den Wagenknecht-Flügel ist es recht unwahrscheinlich, dass die Linke am Wahltag oberhalb von 5 Prozent gelangen wird und in mehrere Parlamente zurückkehren kann.

Nun hatte auch Ministerpräsident Wüst zuletzt angekündigt, dass er die Grenzen besser schützen will, dass er die Asylverfahren im Ausland durchführen will und so weiter. Aber diese Verschärfung der Migrationspolitik, wenn das Wagenknecht will und mittlerweile auch Wüst, könnten das auch bei Wagenknecht nur Lippenbekenntnisse sein?

Mir scheint, dass das alles zunächst einmal Lippenbekenntnisse sind. Vielleicht bringen aber jene, die sie ablegen, einen vorsichtigen Schritt in die Praxis zur echten Handlungsbereitschaft. Ich verweise da auf die Innenministerin, die zunächst behauptete, stationäre Grenzkontrollen brächten überhaupt nichts – und die jetzt erklärt, sie brächten eben doch ziemlich viel, weshalb sie auch verlängert würden.

Der parteipolitische wichtige Punkt ist hier: Jeder, der sich angesichts des Merkel’schen Treibenlassens und der von Sozialdemokraten sowie Grünen unterstützten Migrationspolitik inzwischen der AfD zugewandt hat, wird diesen Positionswandel von Faeser, Wüst und anderen dahin gehend wahrnehmen, dass endlich auch diese Leute aufgewacht sind, also nunmehr das wollen, was die AfD schon lange vorschlägt. Und somit gäbe es ohnehin keinen guten Grund, die AfD nicht mehr zu wählen, denn allein die Wahlkreuze bei der AfD hätten die anderen Parteien überhaupt erst auf einen vernünftigen Kurs gebracht.

Das aber heißt: Wer zu spät auf das einspurt, was er eher hätte begreifen können und sollen, der tut sich keinen parteipolitischen Gefallen. Wer zu spät kommt, den bestraft nun einmal das Leben. Vielleicht aber entsteht jetzt endlich politischer Konsens für eine vernünftigere als die bisherige Migrationspolitik.

Müssen wir nur eine Politikwende hinbekommen, um Dinge zum Besseren zu verändern? Oder liegt bereits ein Fehler im System vor?

Unser politisches System ist gut gebaut. Es gibt aber einige Verbesserungsmöglichkeiten – zwar vor allem daran, wie Deutschlands Politiker dieses System benutzen, doch auch an seiner Konstruktion. Von den letzteren will ich zwei nennen.

Die erste Verbesserungsmöglichkeit wäre die Einführung von gesetzesaufhebenden Referenden. Man kann sie auch, wie in sächsischen Debatten, einen „zwingend von der Politik zu berücksichtigenden Volkseinwand“ nennen.

Worum geht es? Das Parlament hat, im üblichen Zusammenwirken mit der Regierung, ein Gesetz beschlossen. Anschließend gibt es – von dringlichen Gesetzen abgesehen – eine Frist von etwa Hundert Tagen, in denen eine Antragsinitiative eine verfassungsmäßig vorgegebene Anzahl von Unterschriften für das Begehren sammeln kann, eine Volksabstimmung über das bereits beschlossene Gesetz durchzuführen. Kommen ausreichend viele Unterschriften zustande, dann findet eine Volksabstimmung mit der einfachen Frage statt, ob dieses Gesetz wirklich in Kraft treten soll oder nicht.

Das Wesentliche an diesem Verfassungsinstrument ist keineswegs die tatsächliche Durchführung einer Volksabstimmung, sondern deren grundsätzliche Möglichkeit. Denn sobald es diesen verbindlichen „Volkseinwand“ gibt, muss die Politikerschaft in Rechnung stellen, dass neue Gesetze nicht nur „verfassungsgerichtsfest“ sein müssen, also dem geltenden Verfassungsrecht nicht widersprechen dürfen. Vielmehr müssen sie auch, wie man in der Schweiz sagt, „referendumssicher“ sein. Die Folge wäre, dass der Bundestag umstrittene Gesetzesvorhaben nicht mehr zum tatsächlich geltenden Recht machen könnte, falls eine parlamentarische Mehrheit gegen eine Bevölkerungsmehrheit stünde. Letzteres gehört zwar sehr wohl zur repräsentativen Demokratie, hat aber in einer Demokratie eine politisch überzeugend begründbare Ausnahme zu sein.

Zweitens bräuchten wir veränderte Rekrutierungsmuster unseres politischen Personals. Dieses besteht mehr und mehr aus Leuten, die seit Jugendtagen wenig anderes als Politik betrieben haben. Das hat unsere Politikerschaft mehr und mehr zu einer abgehobenen politischen Klasse gemacht. Vieles veränderte und verbesserte sich da, wenn man Vorwahlen für alle Parlamentsmandate einführte.

Das sähe so aus: Wer Kandidat für eine Landtags- oder Bundestagswahl werden will, muss sich erst einmal das Recht zur Kandidatur erstreiten – und zwar nicht in Parteikreisen bei den Nominierungsversammlungen, sondern vor der Bevölkerung bei Vorwahlen, die in jedem Wahlkreis zur Kandidatenkür abgehalten werden, und an denen sich die gesamte Wählerschaft des Wahlkreises beteiligen kann.

Um ein solches Verfahren einzuführen, müsste man nicht einmal die Verfassung ändern, sondern nur das Parteiengesetz und die Wahlgesetze. Als Folge würde die heute nicht seltene Karriere zur Ausnahme, dass man vom Kreißsaal über den Hörsaal in den Plenarsaal gelangt. Auch hätten endlich solche Leute eine Chance darauf, erst in einem solchen Alter in hauptberufliche politische Mandate anzustreben, in dem man schon außerhalb der Politik bewiesen hat, dass man fachliche Qualifikation und politische Führungsfähigkeiten besitzt.

Sie kennen es noch aus den 1970er-, 80er-Jahren: Die Grünen haben Volksentscheide schon früh befürwortet. Aber sie bleiben auf der Strecke …

Das ist immer daran gescheitert, dass Parteien, sobald sie an der Macht waren, sich gegen Begrenzungen der Macht von Parteieliten und Parlamentsmehrheiten gesträubt haben. So etwas verlangen in der Regel Oppositionsparteien – und meinen es anscheinend auch da eher taktisch als ernsthaft. In Sachsen etwa war die Einführung des Volkseinwands Teil des derzeit geltenden Koalitionsvertrags und zuvor Teil des Wahlprogramms der CDU. Diese Reform wurde dann während der ganzen Wahlperiode verschleppt, weil die Grünen und die Sozialdemokraten natürlich merkten, dass in einem Land mit rechter Bevölkerungsmehrheit dieses Verfassungsinstrument linke Gestaltungspolitik sehr erschwert.

Und das heißt: Statt sich zu überlegen, wie man linke Politik insgesamt wählerattraktiv machen könnte, richtet sich das Sinnen und Trachten darauf, sich die Verwirklichung der eigenen parteipolitischen Vorlieben mit passenden Verfahrensregelungen zu erleichtern.

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Oft ist die Rede davon, der Ostdeutsche wäre sensibler für eine Verletzung der Demokratie. Aber die Westdeutschen haben eine jahrzehntelange Demokratieerfahrung, die der Ostdeutsche nicht hat. Ist die nichts wert?

Natürlich sind westdeutsche Demokratieerfahrungen viel wert, einschließlich des gewachsenen Vertrauens darauf, dass unsere Demokratie im Wesentlichen funktioniert! Das gibt gerade angesichts neuer politischer Herausforderungen ein ganz anderes Grundgefühl.

Doch hinsichtlich des Ostens muss man bedenken, dass – insbesondere bei der älteren Bevölkerung – zwei Erfahrungen auch über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung weiterhin da sind. Erstens ist das die Erfahrung, wie ein Staat, der sich selbst als gesichert glaubte, sich als eine große Industriemacht sah und obendrein über gigantische Repressionsmittel verfügte, trotzdem innerhalb weniger Monate zusammenbrach. Und zwar deshalb, weil nicht nur in den Augen eines großen Teils der Bevölkerung, sondern ganz tatsächlich vieles an der Politik dieses Staates falsch und nicht nachhaltig war!

Deshalb sagen sich nun viele in Ostdeutschland: Wir wollen nicht noch einmal erleben, dass unser System deshalb zusammenbricht, weil die politische Klasse einfach nicht einsehen will, dass derart schwere Belastungen auf der Bevölkerung und dem System liegen, dass die Bevölkerung und das System diese auf Dauer nicht tragen will und auch nicht tragen kann.

Dahin gehende Risiken wurden besonders stark seit dem Einsetzen der Migrationspolitik von 2015 und als Reaktion auf die weithin akzeptierte Ansage empfunden, man könne Migranten ohnehin nicht aufhalten – und also müssten sie, falls sie das wollten, eben nach Deutschland gelangen können. Das wäre im Übrigen, bei gutem Willen der länger schon im Land Lebenden, auch gar kein sonderliches Problem …

Und zweitens wird nun immer wieder die ostdeutsche Erfahrung aktiviert, dass es mit großen sozialen und persönlichen Kosten verbunden sein kann, seine Meinung so zu sagen, wie man sie wirklich hegt. In der DDR nämlich wusste ein jeder um den Unterschied zwischen dem, was man in der Öffentlichkeit oder am Arbeitsplatz äußern sollte, und dem, was man besser im Familien- und Freundeskreis besprach. Mit dem Übergang zur Bundesrepublik Deutschland war die Hoffnung verbunden, derlei Vorsicht brauche es künftig nicht mehr. In einem freien Land könne man nämlich über alles frei reden, ohne üble Folgen befürchten zu müssen.

Nun aber zu erleben, dass immer wieder Leute für behauptete politische Unkorrektheit exemplarisch medial bestraft werden, ja dass man im eigenen Alltag immer wieder schräg angesehen oder gar ausgegrenzt wird, wenn man sich politisch unerwünscht äußert: Das enttäuscht und empört gar nicht wenige Ostdeutsche, nämlich als widerwärtige, im neuen System niemals erwartete Erfahrung.

An beiden Problemstellen helfen westdeutsche Erfahrungen nicht weiter. Wir hatten nämlich bis zu den jetzigen Erwartungshaltungen hinsichtlich von politischer Korrektheit keine ähnlichen Herausforderungen und wir haben auch nie den Zusammenbruch eines Systems erlebt.

Viele Westdeutsche haben 40, 50 Jahre lang diskutiert, debattiert und sich die Köpfe gegenseitig eingeschlagen in diesem demokratischen System. Da erschienen viele Fragen als abschließend beantwortet. Das fing schon mit dem Zusammenleben mit den türkischen Mitbürgern an. Das war ja auf eine Weise feinjustiert. Darf man die westdeutschen Errungenschaften so sehr in den Schatten stellen?

Es sind einfach nicht die gleichen Erfahrungen in denselben Sachbereichen. Richtig wäre es, beide ost- und westdeutsche Erfahrungen nebeneinanderzulegen und miteinander zu verbinden. Dann würden sie einander gut ergänzen. Aber leider wird meist der eine Erfahrungskomplex gegen den anderen ausgespielt. Die Wessis sagen den Ossis: Ihr könnt da nicht mitreden – und die Ossis geben das Gleiche zurück. Daran ändert anscheinend auch der Generationenwechsel nicht viel.

Treiben die Medien die Politik vor sich her oder andersherum? Was ist der aktuelle Stand?

Natürlich haben die Medien großen Einfluss darauf, was die Politik machen kann. Nicht nur werden ständig demoskopische Umfragen zur Akzeptanz politischer Vorhaben und Entscheidungen durchgeführt oder Ranglisten des Vertrauens in Politiker und Parteien erarbeitet. Beides hat Einfluss auf die Handlungsspielräume und Handlungskraft von Politikern.

Außerdem beeinflussen die Medien – ganz stark vor Wahlkämpfen – den Meinungstrend dahin gehend, welche Themen man als Politiker oder Partei mit wohl welcher Resonanz auf welche Weise ansprechen kann. Und vor allen Dingen prägen die Medien, was die Leute über Politik und ihre Handlungsumstände wissen. Für die allermeisten Leute spielt sich Politik nämlich außerhalb ihrer eigenen Lebenswelt ab, gelangt also nur über die Medien zu ihrer Kenntnis.

Und weil die Bürgerschaft inzwischen den Eindruck gewonnen hat, nicht mehr von allen Medien in zufriedenstellender Breite über das informiert zu werden, was politisch wichtig ist, hat eine Flucht aus den bislang gemeinsamen Medien eingesetzt, also aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und aus der bisherigen Qualitätspresse. Mehr und mehr kapseln sich Leute in solchen Privatwirklichkeiten ein, die nur über die von ihnen bevorzugten Webseiten zugänglich sind. Diese Art der Pluralisierung hat zur üblen Kehrseite eine Art Zerfall der Öffentlichkeit samt Verblassen einer gemeinsam als so-und-nicht-anders wahrgenommenen Wirklichkeit. Beides prägt, was Politik machen kann.

Sehr wichtig scheint mir außerdem der folgende Rückkopplungseffekt zu sein, dessen sich insbesondere Angela Merkel höchst wirkungsvoll bedient hat. Wenn ich als Spitzenpolitiker ausgewählten Journalisten, die mich mögen, exklusive Interviews gebe, dann gewinne ich wunderbare Möglichkeiten der Selbstdarstellung. Wenn ich außerdem durch ständige demoskopische Befragungen, wie sie nach Kohl auch Merkel in Auftrag gegeben haben, verlässlich mitbekomme, wie die Leute quer übers Land denken und wofür sie ansprechbar wären, dann kann ich durch Auftritte in millionenfach gesehen Talkshows genau dazu passende Schlüsselworte und Schlüsselargumente setzen.

Auf diese Weise präge ich selbst die Diskussionslage und die Bevölkerungsstimmung mit. Demoskopisch bestätigt, lasse ich letztere in meine eigene parteiinterne und regierungsinterne Willensbildung einfließen und sichere mir Popularität. Das alles kann dann bis zur für glaubwürdig befundenen Behauptung führen: Nach all dem, was uns die Demoskopie und Wissenschaft zeigen, ist die folgende Politik derzeit alternativlos!

Das ist zwar ein Kurzschluss, doch er hat dank solcher Einbeziehung von – bekanntlich stark mit den Grünen sympathisierenden – Medien und den entsprechenden Medienwirkungen insbesondere die grüne und sozialdemokratische Politik wesentlich stärker gemacht, als sie in der Bevölkerung tatsächlich Rückhalt besitzt, und hat ihr in der politischen Arena größere Durchsetzungswucht verschafft, als sie sich die Bevölkerung wünscht.

Eben das führte zum Zustand, dass etwa in Sachsen fast zwei Drittel der Bevölkerung rechts ticken, aber dennoch in Parlament und Regierung eine klare linksakzentuierte Politik gemacht wird, die dann von den Massenmedien bollwerkartig als alternativlos dargestellt wird. Und die Folge sind dann opponierender Populismus samt dem weiteren Aufstieg der AfD.

Was meint überhaupt „Ideologie“? Es wird immer von der grünen Ideologie gesprochen, die alles durchzieht in allen Institutionen …

Unter grüner Ideologie versteht man im Grunde den folgenden Ideen- und Handlungskomplex: Erstens den Kampf gegen die Nutzung der Kernenergie, natürlich als Waffe, doch auch als Mittel zur zivilen Energieversorgung. Zweitens ein großes Verlangen nach Weltoffenheit und praktizierter Migration – aber Migration nicht in der Weise, dass Migranten sich im Ankunftsstaat assimilieren, sondern dass eine multikulturelle und multiethnische Gesellschaft entsteht.

Drittens: Es braucht grundsätzliche Nicht-Binarität in Geschlechterfragen, also eine breite Akzeptanz von fluider Geschlechtsidentität. Letzteres muss unterstützt werden durch solche Sprache und Schrift, welche jene binäre Kodierung unserer Geschlechtlichkeit, die jahrtausendelang völlig unumstritten war, in Zweifel zieht und auch verächtlich macht.

Und das vierte Element dieser „woken“ Ideologie ist, dass wir die Vergegenwärtigung der Vergangenheit bereinigend verändern müssen. Beispielsweise haben wir von der Gegenwart her zu erkennen, was in der Vergangenheit falsch war, und wir müssen dann die Spuren jenes Falschen, wenn schon nicht unsichtbar machen, so doch mindestens auf eine Weise „rahmen“, dass ein jeder begreift, in welche Traditionen sich ein anständiger Mensch nicht stellen darf.

Das ist insbesondere – jetzt etwas überspitzt – die Tradition von weißen Menschen, denn genau die haben über die Erde im Grunde nur Unglück, Sklaverei, Verelendung und Umweltverschmutzung gebracht. Die Welt wäre jedenfalls besser dran, wenn es allmählich keine „Weißbrote“ mehr gäbe. Diese vier Punkte umschreiben jenen Komplex, den man als „grüne Ideologie“ bezeichnet. Betont sei ausdrücklich, dass der Schutz von Natur und Klima zwar zum Überzeugungsbestand der Grünen gehört, nicht aber zu dessen rein ideologischen Bereich.

Letzte Frage, weil das vielleicht damit zusammenhängt: Wer so lange für seine Überzeugung kämpft und sieht, dass sich wenig verändert – wie vermeidet man da eine Radikalisierung?

Es gibt dafür einen Weg „von innen“ her und einen Weg „von außen“ her. Den Weg von innen her hat Wolfgang Biermann schön in einem Lied mit den folgenden Worten beschrieben: „Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit“. Wer davon betroffen ist, dass er ausgegrenzt wird, der soll darauf achten, dass er sich innerlich nicht verhärtet, also nicht radikalisiert. Die dabei tragende Hoffnung besteht darin, dass sich das Vernünftige eines Tages eben doch durchsetzen wird. Mit anderen Worten steht es in der Bergpredigt: Die Sanftmütigen werden das Land besitzen – und nicht dauerhaft die Radikalen und Unterdrücker.

Und der andere Weg verläuft so: Von außen her muss man mit politischen Gegnern als Leuten umgehen, die zwar anderes wollen und denken und glauben als man selbst, die aber deswegen doch keine Unmenschen, Dummköpfe oder gleichsam so etwas wie politische Kinderschänder sind. Also muss man sich gerade mit politischen Gegnern sachlich und redlich auseinandersetzen.

Leider hat man genau das in Bezug auf die AfD jahrelang vermieden, sondern die eigene argumentative Faulheit und nachgerade „Feigheit vor dem Feind“ mit Einlassungen dahin gehend bemäntelt, es seien alle AfDler einfach dumm, übelgesinnt und rassistisch. Mit ihnen dürfe man auch gar nicht reden, weil sie das doch nur „aufwerten“ würde. Diese Art von „politischem Rassismus“, wie man überspitzt sagen möchte, verhärtet die Ausgegrenzten „von außen“ her. Da haben sämtliche etablierten Parteien unseres Landes wirklich große Fehler begangen.

Sie sagen, man muss sich öffnen. Geht das auch gegenüber einer Katrin Göring-Eckardt?

Ja, auch auf sie sollte man zugehen – oder sie auf einen selbst zugehen lassen. Wobei Frau Göring-Eckardt stets wesentlich weniger Schwierigkeiten damit hatte, in der Öffentlichkeit im von ihr gemeinten oder erwünschten Sinn wahrgenommen zu werden, gar auch schön präparierte Podien für ihre Auftritte hingestellt zu bekommen, als das etwa Frau Weidel widerfährt oder Frau Petry widerfahren ist.

Danke für das Gespräch!

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