Er war irgendwann einfach verschwunden

Nachbar Tom: Nicht plötzlich, nicht einmal unerwartet

von Alexander Wallasch (Kommentare: 21)

In dem leergeräumten tapetenlosen Raum stand ein einzelner weißer Monobloc-Stuhl und daneben am Boden ein paar leere, verstaubte Bierfalschen.© Quelle: privat Alexander Wallasch

Tom lebte in der Nachbarschaft und hieß eigentlich Thomas. Wir wohnten bald zwei Jahrzehnte nebeneinander. Da erfährt man viel voneinander, selbst dann noch, wenn man nicht enger befreundet ist.

Unser nachbarschaftliches Verhältnis ging selten über das verliehene Werkzeug oder die schnelle Bratwurst, die man nicht ablehnen mag, hinaus, dafür wird hier 365 Tage im Jahr gegrillt.

Wir haben vier Kinder großgezogen, da sucht man Geselligkeit seltener nebenan, man muss sie schon im Inneren immer neu organisieren. Tom ist vor drei Jahren ausgezogen, das Haus sollte einem Neubau weichen, die Ruine steht aber immer noch, zuletzt war sie sogar Objekt der Begierde für eine polizeiliche Übung, ich hatte ja ausführlich darüber berichtet.

Tom zog ein paar Straßen weiter, seine Frau, mit der er viele Jahre zusammenwohnte, zog schon ein halbes Jahr vor Tom aus, sie war mit einem seiner Freunde, der früher auch öfter mit am Grill saß, einfach auf und davon.

Seine Frau war eine von jenen, der es auch nach einer langen Zeit der Nachbarschaft gelingen konnte, im Vorbeigehen vom Haus zum Auto einfach nicht zu grüßen. Vielleicht sogar, ohne es böse zu meinen. Sie hatte es einfach nicht so mit Menschen, während Tom oft länger erzählte, aber nie kompliziert oder, dass man dabei genauer hinhören musste.

Ich glaube, Tom fand es einfach angenehmer, wenn man nicht nur so herumstand, sondern auch etwas zu besprechen hatte. Also bemühte er sich, seinen Besprechungen mehr Bedeutung zu verleihen, indem er etwas näher heranrückte als sonst üblich, oder leiser sprach als gewöhnlich, so blieb einem nichts anderes übrig, als seinerseits ebenfalls näher heranzurücken.

Ja, das konnte anstrengend sein. Aber Toms Art, mit den Dingen des Lebens umzugehen, war so selbstverständlich gewöhnlich, wie sie wohl noch überall in Deutschland, wo Leute nach Feierabend zusammenkommen, funktioniert hätte.

Tom hatte immer ein frisches Bier über, wenn man bloß erst einmal neben ihm saß. Manchmal dachte ich, seine Frau sei direkt eifersüchtig auf seine einfache wie erfolgreiche Art, mit den Leuten umzugehen.

Bei ihr wirkte alles so schwierig und kompliziert. Selten ergab sich mal die Gelegenheit, dass ein Rädchen ins andere fasste und ein kurzes Gespräch in einem Lächeln ihrerseits mündete. Dabei lächelte sie bezaubernd, schaffte es dann aber am nächsten Morgen gleich wieder, ein freundliches „Hallo“ zu vergessen, oder gerade dann – so als wäre nichts gewesen. Nein, sie taute nie richtig auf.

Tom blieb noch in der viel zu großen Wohnung, als sie längst weg war. Er schien sich regelrecht an diese knapp einhundert Quadratmeter zu klammern. Tom lebte einfach weiter, als sei ihm nichts Schlimmes passiert. Und Trennungen passieren ja auch. Sie sind sogar gemessen an einer Lebensspanne eher Regel als Ausnahme. Heute glaube ich, Tom ist damals schon gestorben, aber er war noch nicht ganz tot, wandelte noch ein wenig in seinem alten Leben umher.

Ich weiß gar nicht, ob der Vermieter ihm einen letzten Gefallen tun wollte, womöglich hat auch er instinktiv gewusst, was passiert, wenn Tom diese Wohnung verlassen muss. Jedenfalls zog Tom ein paar Straßen weiter, bekam aber noch die Erlaubnis, den alten Garten weiter zu nutzen und im Haus mal auf die Toilette gehen zu dürfen, bis es abgerissen wird.

So saß Tom jetzt ganze Abende lang allein in seinem Garten, den er weiter pflegte, Rasen mähte, Gemüse pflanzte, Hochbeete anlegte, als wäre nichts geschehen. Der selbe Aschenbecher stand einfach weiter auf dem Gartentisch. Es schien mir sogar, als rauche er jetzt doppelt so viel, damit der Ascher auch gleich voll wurde, wie früher, als sie noch mitgeraucht hatte, dieselbe Feuertonne brannte, vor der er mit seiner Frau gesessen hatte, jedenfalls dann, wenn keine Nachbarn oder Kumpels von Tom vorbeikamen, dann dauerte es nie lange und schon war sie wieder im Haus verschwunden.

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Irgendwann kam der unvermeidbare der Tag und die schmalen Bagger fuhren in seinen Garten ein. Die Aktion war Tom rechtzeitig angekündigt worden, aber er hatte den Termin einfach nicht in seinen Kopf lassen können.

Da war kein Platz mehr für eine radikale Veränderung. Aber selbst noch, als alle Pflanzen platt gefahren, alle Büsche gezogen und alle Bäume gefällt waren, kam Tom regelmäßig vorbei, sägte das gefällte Holz Scheit für Scheit immer kleiner, bis es keinen Sinn mehr machte, aber es beschäftigte ihn so weitere Wochen.

Dann war auch alles in diesem zerstörten Garten erledigt, jeder Halm zweimal umgedreht und Tom begann damit, das geschnittene Holz in den Keller des leeren Hauses zu tragen. Als auch das erledigt war, kam er fast täglich am späten Nachmittag ins Haus und verließ es erst am Abend oder in der Nacht wieder, immer mit ein paar Holzscheiten unterm Arm.

Als auch die alle aus dem Haus getragen schienen, blieb Tom ganz verschwunden. Viele Monate hörte und sah man nichts mehr von ihm. Der Hausmeister kam mal vorbei und fragte, ob wir etwas wüssten, das wäre alles etwas komisch, sein Briefkasten würde überquellen, seine Nachbarn wüssten auch nichts, er hätte sogar schon mal am Briefschlitz der Wohnungstür gerochen, sagte er uns leise und schaute dabei verlegen auf den Boden.

Auch das ist jetzt ein paar Tage her und wieder vergessen. Ich hatte es ja erzählt, so viel hatte ich mit Tom nicht zu tun. Heute Mittag klopfte dann unvermittelt eine Nachbarin ans Autofenster, als wir gerade losfahren wollten und fragte so im Vorübergehen, ob wir denn schon wüssten, dass Tom im Februar im Krankhaus gestorben sei.

Tom wird jetzt nicht mehr miterleben, wie „sein“ Haus abgerissen wird. Es klingt kitschiger, als es gemeint ist, aber dieses eigentlich schäbige Haus war der Ort, an dem dieser Mann vielleicht ein paar Jahre wirklich glücklich war mit seiner Frau, die dann weg war. Er war glücklich wegen dieser Frau, als sie noch da war.

Sie konnte nicht einmal vernünftig „Hallo“ sagen, wenn man sie traf. Dann bleib sie einfach weg. Tom hat meine Kinder mit aufwachsen gesehen, aber wir hatten nie viel miteinander zu tun, er war nur einfach immer da.

Am späten Nachmittag griff ich durch den Briefschlitz nach diesem kurzen dicken Ast, der sich ganz glattpoliert anfühlte, ich bildete mir sogar ein, er sei so glatt, weil Tom ihn so oft genutzt hatte, um die Tür ohne Schlüssel zu öffnen. Man muss den Ast nur etwas nach links auf die Klinge führen und schon springt die Tür auf.

Beklommen ging ich erst in den Keller, überall waren zwischenzeitlich die Türen aufgebrochen, von diesem Polizeieinsatz vor ein paar Tagen. Alles sah noch schlimmer, noch wüster und leerer aus, als ich es mir sowieso schon vorgestellt hatte. Aber noch einmal verstörender waren für mich ein Dutzend große blaue Regentonnen, die scheinbar wahllos überall in den Kellerräumen herumstanden, jede einzelne sorgsam bis oben vollgepackt mit perfekt geschnittenen Holzscheiten, sogar kreisförmig aufgelegt, dass mir dieses Bild unvermittelt den Hals zuschnürte.

Aber was mich härter traf, war das Bild, das sich mir im ehemaligen Wohnzimmer der beiden bot. Eigentlich eine nichtssagende und für Außenstehende wenig aufschlussreiche Tristesse.

In dem leergeräumten tapetenlosen Raum stand ein einzelner weißer Monobloc-Stuhl und daneben am Boden ein paar leere verstaubte Bierfalschen. Hier hatte Tom also so viele Abende gesessen, dachte ich, seine vielen Biere getrunken und einfach nur aus der Ruine seines alten Lebens heraus aus dem Fenster auf seinen zerstörten Garten gestarrt. Ich kann nicht einmal sagen, ob er da schon innerlich tot war oder ob noch etwas ganz düster in ihm tobte.

Nein, Tom ist nicht plötzlich und unerwartet gestorben, er war schon lange woanders unterwegs. Nein, kein Mensch kann alleine in so einem Monobloc-Stuhl überleben. Ich weiß noch nicht einmal, wie er tatsächlich gestorben ist. Nein, wir waren keine guten Freunde, aber Tom war vor allem ein guter Kerl.

Als seine Frau ging, ist er bereits gestorben. Jeden Tag ein kleines bisschen mehr, bis es ganz mit ihm vorbei war. Jeder hat es gesehen, aber keiner hat es richtig bemerkt. Ich weiß nicht einmal, ob seine Mutter jetzt um ihn trauert, oder ob sie schon vor ihm ging. Tom (Thomas) wurde 52 Jahre alt, er soll Ende Februar im Krankenhaus gestorben sein.

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