Das Magazin DB MOBIL empfiehlt Reisen an morbide Orte

Lost Places „Deutsche Bahn“ – Verloren zwischen den Ruinen der Mobilität

von Alexander Wallasch (Kommentare: 1)

Was wohl das größere Abenteuer ist: Das Hinkommen mit der Bahn oder die Lost Places selbst?© Quelle: Pixabay / Michael4Wien

Ist das Selbstironie, wenn die Deutsche Bahn sieben Reisen zu Ruinen einstiger Größe empfiehlt? Hier klafft offenbar eine besonders große Lücke zwischen Selbstwahrnehmung und den Kreativideen der Marketingabteilung. Die Lacher immerhin dürften gewiss sein.

„Lost Places“ – das sind vereinfacht gesagt Orte, menschliche Wohn-, Arbeits- oder Begegnungsstätten, die nicht mehr benötigt werden, deren Zweck sich überholt hat oder deren Qualität nicht mehr den Standards entspricht, deren Betrieb nicht mehr lukrativ ist, die aber aus Kostengründen nicht abgerissen und so zu vergessenen Ruinen, dem Verrotten preisgegeben wurden.

Jahrzehnte, mitunter Jahrhunderte später, laden solche "Lost Places" dazu ein, neu entdeckt zu werden. Auf Youtube haben sich weltweit etliche Neugierige und Hobby-Archäologen daran gemacht, diese Faszination des Morbiden mit der Kamera einzufangen – die Spannung entsteht hier im Wesentlichen aus zwei Elementen:

Zum einen aus der Baufälligkeit der Ruinen, die immer auch Gefahrenmomente bedeuten. Und zum anderen aus der Möglichkeit einer besonderen Entdeckung – irgendetwas, das liegengeblieben ist und über die Jahrzehnte einen Seltenheitswert bekommen hat, etwas, das es so heute kaum noch gibt. „Lost Places“ gewähren Blicke zurück in die Vergangenheit, damals, als auch die Architektur der Industriegebäude vielfach pompöser, aufwendiger und detailreicher war.

So weit so gut. Aber was bringt nun ausgerechnet die vielgescholtene Deutsche Bahn dazu, mit Reiseangeboten zu "Lost Places" zu werben, als gäbe es diese unzähligen "Lost Places" der Deutschen Bahn nicht. Orte, die sich wie "Lost Places" anfühlen, wenn wieder über Stunden kein Zug einfährt, Neubauten nie fertig werden oder kleinere Bahnhöfe einfach vor sich hinrotten, bis sie irgendwann in den Zugplänen gar nicht mehr auftauchen?

Was bietet die Deutsche Bahn an? Ein ganz pfiffiger Geselle im DB-Marketing muss sich eine sechs Jahre alte Youtube-Sendung von Fritz Meinecke, dem Erfinder der Reality-Spielshow „7 vs. Wild“ angeschaut haben. Meinecke entdeckte einen alten Ringbahn-Lockschuppen als "Lost Place", erkundete und filmte ihn, was anschließend immerhin 94.800 Zuschauer interessierte.

Amüsant ist hier Meineckes Gang in ein altes Bahnbüro, bis heute vollgestopft mit tonnenweise rottenden Papierakten, unter anderem mit größeren Mengen von Blanko-Meldezetteln für Graffiti an Doppelstockwagen. Die Deutsche Bahn, Nachfolger stolzer Vorgänger aus Kaisers Zeiten – importiert bis in die hinterste Kolonie, die Gleise etwa der altehrwürdigen Usambarabahn werden teilweise heute noch befahren – diese Deutsche Bahn wirbt heute für „7 Lost Places, die mit dem Deutschland-Ticket erreichbar sind“.

In DB MOBIL, dem Magazin der Deutschen Bahn – jeder kennt es, der schon mal Langstrecke gefahren ist – heißt es dazu weiter:

„Einst waren sie Abhörstationen, Freibäder, Heilstätten. Heute sind sie verlassen – doch ihre Vergangenheit ist noch sichtbar. DB MOBIL zeigt, welche dieser Orte man besichtigen darf und wie man mit der Bahn hinkommt.“

Ist das Selbstironie der Deutschen Bahn, die im europäischen und weltweiten Vergleich in Sachen Pünktlichkeit, Zustand und Modernität zur Lachnummer geworden ist? Das Angebot, an die "Lost Places" zu reisen, besteht weiterhin, der Initial-Artikel aus DB MOBIL ist schon ein paar Monate alt.

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Wer beispielsweise mit der Bahn das verlassene ehemalige Grandhotel „Waldlust“ im Schwarzwald erkunden will, der erfährt im Vorfeld, dass einer der Redakteure in der Ruine übernachten wollte, aber vorzeitig abbrechen musste. Warum? Weil ihm gruselte! Oder wörtlich zitiert:

„Ein DB MOBIL-Reporter verbrachte unlängst eine Nacht in der leerstehenden ,Waldlust'. Dabei gruselte es ihn so sehr, dass er seinen Aufenthalt vorzeitig abgebrochen hat. Denn 1949 kam die damalige Hotelierin Adele unter mysteriösen Umständen in dem Jugendstilhaus um, seitdem spukt sie dort angeblich durch die Gänge – zumindest laut Geisterjäger:innen, die paranormale Aktivitäten gemessen haben wollen.“

Die Gelegenheit eines solchen vorzeitigen Abbruchs hatten allerdings zigtausende von Fahrgästen der Deutschen Bahn auch 2023 nicht, die irgendwo im Nirgendwo ohne Anschlusszug hängengeblieben sind, die nachts auf offener Strecke übernachten mussten oder die sich auf zugigen Bahnhöfen der Beschaffungskriminalität von Drogensüchtigen ausgesetzt sahen und die sich zudem einem überforderten Bahnpersonal gegenübersahen, dem man sich wiederum emotional irgendwo zwischen Empörung und Mitleid annähern muss.

Die Bahn teilt mit, wie das Grandhotel „Waldlust“ zu erreichen ist:

„Anreise mit dem Deutschland-Ticket: Nahverkehrszüge fahren etwa von Mannheim und Heidelberg über Karlsruhe nach Freudenstadt Hbf und Freudenstadt Stadt oder von Offenburg nach Freudenstadt Hbf. Von Freudenstadt Hbf und Freudenstadt Stadt sind es jeweils etwa 20 Minuten Fußweg zur ,Waldlust', oder man fährt mit einem Bus weiter zur Haltestelle Landhausstraße, die fast direkt neben dem ehemaligen Hotel liegt (weniger als 200 Meter entfernt).“

Mal ganz ehrlich: Gehören Sie auch zu den Lesern, die gerade dachten, was wohl das größere Abenteuer ist, das Hinkommen oder ihr "Lost Place" am Ziel?

Weitere Orte, die von der Bahn vorgestellt werden, sind eine alte Abhörstation auf dem Teufelsberg bei Berlin, die Beelitzer Heilstätten – Ruinen einer Lungenheilanstalt – und ein verlassenes Sprungbecken im Bürgerpark Unkel. Dazu heißt es im Bahn Magazin: „Vom Bahnhof sind es dann zu Fuß noch knappe 15 Minuten zum Bürgerpark“. Das sind sicher die zuverlässigsten 15 Minuten dieser Reiseplanung hin zu einem zugewachsenen Schwimmbecken, das früher einmal Kulisse für einen Film mit Moritz Bleibtreu gewesen sein soll. Das passende Foto dazu hat DB MOBIL vom Verein „Gemeinsam für Vielfalt e. V.“ bekommen.

Ein X-Nutzer „Agent X“ schreibt zu den „7 Lost Places“ der Deutschen Bahn:

„Unerklärlich, warum die Bahn ihren ursprünglichen Slogan aufgegeben hat: ,Wie Tschernobyl nur ohne Strahlung'“.

Und „Grinzing63" vermutet: „Bis man mit der Bahn dort angekommt, dürfte die Zahl dieser ,Places' sicherlich noch sehr viel größer sein.“

„Thomas Paul“ meint irritiert: „Man braucht keine Deutsche Bahn, um Lost Places zu sehen. Deutschland IST Lost Place."

Und X-Nutzer „Daniel Kohn“ findet: „Hätte schon gereicht, wenn sie die Karte der eigenen Bahnhöfe veröffentlicht hätten.“

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