Berlin bleibt noch ein Weilchen deutsch – Keine Sorge

Keine Aufregung über ein türkisches Fahnenmeer im Olympiastadion

von Alexander Wallasch (Kommentare: 8)

Die Integration der Willigen – Einmal noch rebellisch sein und dann die große Stille.© Quelle: Youtube / RTL, Screenshot

Vielleicht haben die Medien es geschickt verborgen, es wird Fälle gegeben haben. Aber die türkischstämmigen Fußballfans haben Erdogan gestern geschlossen die Rote Karte gezeigt und das Fußballspiel Deutschland-Türkei eben nicht zu einer politischen Bühne gegen Israel gemacht.

West-Deutschland weiß es längst: Die Türken in Deutschland sind nicht vergleichbar mit den Zuwanderern aus Syrien, Afghanistan oder Irak, die nach 2015 zu uns gekommen sind. Schon gar nicht in der Entstehungsgeschichte der Zuwanderung von Türken in die Bundesrepublik nach der Anwerbung, beginnend in den 1960er Jahren.

Das deutsche Wirtschaftswunder war schwer am Köcheln. Gleichzeitig hatte der Westen ein Interesse daran, die Türken für sich zu gewinnen und damit die türkisch-russische Grenze zu kontrollieren. Die Türkei sollte Einflusssphäre des Westens werden. Da bot sich Deutschland an, diese Verbindung zu verfestigen.

Theoretisch gab es zwar genügend Italiener, Spanier, Portugiesen oder Griechen. Aber die Türken sollten es aus genannten Gründen sein. Orient versus Okzident.

In den ersten zwölf Jahren nach dem bundesrepublikanischen Abkommen über die Anwerbung von „Gastarbeitern“ kamen fast 900.000 Türken zu uns. Diejenigen, die zurückgingen in die Türkei, warteten mehrheitlich bis zur Rente damit. Ihre Kinder waren da aber längst in Deutschland heimisch geworden.

Rückblickend kann man sagen, sie wurden dabei auch von einer bis dahin beispiellosen Integrationsbemühung begleitet: Der Integration der Willigen.

Um mal aus dem Nähkästchen zu plaudern: Meine Mutter war Schulsekretärin als Halbtagskraft. Trotz drei eigener Söhne ging sie in ihrer Freizeit an manchen Nachmittagen zurück an die Schule, um türkischen Kindern Nachhilfeunterricht zu geben.

Ich wiederum kann mich gut erinnern – ich habe es an anderer Stelle längst erzählt – wie das war an diesem kühlen aber sonnigen Tag, als sich auf einmal die Wartburg- und Trabbi-Karawane ins Zonenrandgebiet ergoss und wir Braunschweiger fassungslos staunend am Straßenrand neben unserem türkischstämmigen Gemüsehändler standen und instinktiv dichter zusammenrückten.

Vielleicht war da mehr Sorge bei unseren türkischen oder türkischstämmigen Nachbarn, möglicherweise fürchteten sie, von den Ostdeutschen auf Platz drei verdrängt zu werden. Aber so groß kann die Sorge um den Verlust von Zuwendungen nicht gewesen sein. Die meisten waren damals in Arbeit etabliert und verdienten gutes Geld, wenn nicht bei Volkswagen, dann in ihren Läden und Imbissen. Der Döner hatte das griechische Gyros abgelöst, die Fleischrolle gab es von da an einfach ohne Schweinefleisch. In der Übergangszeit hingen noch „Gyros“-Schilder beim Türken, aber bald bestellten die Deutschen ihr Gyros als Döner, wir lernen ja schnell dazu.

Um die Jahrtausendwende herum machten die türkischen Nachbarn eine leidvolle Erfahrung, die seltener thematisiert wurde. Aber dafür muss man vorab erklären, wie der ersteingewanderte Türke auf Deutschland geschaut hat: Vielfach mit einer kindlichen Begeisterung.

Ab Beginn der 1970er Jahre urlaubten wir in der Türkei. Unser Vater hatte Rundreisen mit dem eigenen Auto organisiert, die Fähre fuhr von Venedig bis nach Izmir in zwei oder drei Tagen. Der Vater hatte eine gute Position bei Volkswagen und fühlte sich nun durch unsere Urlaube dem Türken in der Halle am Band besonders nahe.

Man lernte sich kennen und dann saßen türkische Gastarbeiter bei uns auf dem heimischen Sofa, unsere Mutter hatte versucht, türkischen Mokka zu zaubern, was die Dame mit dem Kopftuch mit einem schüchternen Lächeln bedankte. Aber warum hatte sie im Gegenzug nicht einmal versucht, etwa einen Sauerbraten zu basteln, der ist ja nicht vom Schwein? Beim Gegenbesuch im nahen Salzgitter wurden nur türkische Spezialitäten gereicht.

Die Herrin des Hauses reichte vorab eine Schale mit warmem Wasser und Zitronenscheiben darin, wir machten einfach nach, was die türkischen Männer taten, stupsten vor dem Essen unsere Finger hinein und bekamen sie mit dem kleinen Gästehandtuch von der Gastgeberin höchstselbst getrocknet. Das war wohl die türkische Variante der Idee, sich vor dem Essen die Hände zu waschen, nur eben ohne fließend Wasser. Dem Vater hatte es gut gefallen, der Deutsche ist interessierter an fremden Kulturen, als ihm gemeinhin nachgesagt wird.

Ach, da gibt es etliche weitere Geschichten zu erzählen, die von gewachsenen Beziehungen berichten. Die zweite Generation der Türken in Deutschland war schon deutscher als die erste, aber immer noch mit den Aufstiegsgenen des Gastarbeitervaters geimpft. Sie sprachen perfekt(er) deutsch, Deutschland war ihr Land, die Türkei war ihnen fremd geworden. Wenn die Ford-Karawane Sommer für Sommer über den "Autoput" durchs Jugoslawien Richtung Türkei fuhr, waren sie dort schon die Deutschen, den Wagen pickepackevoll mit den Tupperware-Kopien vom Aldi-Markt.

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Aber schnell zurück zur besagten „leidvollen Erfahrung“: Die Probleme begannen mit der dritten Generation, die schon im Wohlstand aufgewachsen war, die von ihren Großeltern verwöhnt und verhätschelt wurde. Gar nicht so selten kamen Drogen, Spielsucht, Arbeitslosigkeit und eine religiöse Radikalisierung dazu.

Diese Türken standen immer noch in der zweiten Reihe hinter den Deutschen, beispielweise, wenn es darum ging, eine Wohnung anzumieten oder einen Job zu bekommen. Wie sich das anfühlte, kann man nur erahnen. Sie wollten sich damit nicht mehr abfinden. Der Großvater war noch stolz darauf, überhaupt hier zu sein, die schon Hiergeborenen kannten es nicht anders, die Nachgeborenen ließen die Zahl der Leistungsempfänger in dieser Community ansteigen.

Aber es wuchs dennoch alles bis zu einem bestimmten Punkt zusammen. Die Kinder feierten zusammen Geburtstag, über die Schule hatten die Mütter mehr miteinander zu tun. Allerdings verlief es sich wieder. Auch das muss man attestieren: Solche Verbindungen waren weniger verfestigt als die unter – was ist das beste Wort dafür? – „Abstammungsdeutschen“, aber keine Seite bedauerte das wirklich. Man bleib sich wohlgesonnen, auf der Straße blieb man für ein nettes Gespräch stehen, um vielleicht Erinnerungen aus der Schul- und Kindergartenzeit auszutauschen.

Zurück zum Fußballspiel gestern. Deutschland verlor 3:2, die Türken jubelten auf den Straßen und fuhren ihre lauten Autokorso. Dieser Jubel allerdings war freier von Vergeltungsgefühlen, als vielleicht noch in früheren Jahren. Deutschland war in Europa einmal Fußballnation Nummer eins. Und Deutschland wurde in einem Freundschaftsspiel besiegt. Der deutsche Mannschaftskapitän ist türkisch-stämmig und viele türkische Spieler lernten im europäischen Ausland Fußball zu spielen.

Wenn der eine oder andere nun im Vorfeld befürchtete– ich gehörte dazu –, das gestrige Spiel könnte auch zu einer politischen Demonstration gegen Israel genutzt werden, wurde er eines Besseren belehrt. Am Vortag hatte Erdogan den Bundeskanzler wie einen Schuljungen dastehen lassen, aber auch das sorgte bei den Deutsch-Türken nicht für grenzenlosen Jubel oder eine sofortige Solidarisierung mit Erdogans Haltung Israel gegenüber. Tatsächlich kann man hier den Eindruck gewinnen, dass Olaf Scholz auch ein stückweit der Kanzler der Deutsch-Türken ist.

Nicht vergessen sollte man ebenfalls, dass auch die Erdogan-Türkei riesige Probleme mit der arabischen Zuwanderung hat. Der gemeinsame Glaube ist hier nur ein brüchiges Schutzschild.

Gestern wurde in Berlin Fußball gespielt. Nicht mehr und nicht weniger. Ein rotes Fahnenmeer im 1936 eröffneten Olympiastadion. Und eine wichtige Erkenntnis: Diese Fahnen wurden überwiegend von Deutschen geschwenkt.

Deutsche, deren Großeltern und Urgroßeltern aus der Türkei nach Deutschland kamen, hier heimisch wurden und den Grundstock dafür legten, dass ihre Enkel und Urenkel hier im Wortsinne beheimatet sind und vielfach mit der gleichen Skepsis auf die Zuwanderer in die deutschen Sozialsysteme schauen wie jene, die man heute abfällig Herkunftsdeutsche nennt.

Ach übrigens: Der Schauspieler Heiner Lauterbach hat sich auch mal aus der Deckung gewagt und Budenzauber gegen die roten Halbmondflaggen in Berlin gemacht. Da stelle ich jetzt mal die Frage: Wo war Lauterbach 2015 zu Beginn der Massenzuwanderung, wo 2020, als andere die Corona-Maßnahmen kritisierten und wo, als Deutschland zur ukrainischen Waffenschmiede wurde? Oder habe ich bei Heiner Lauterbach was übersehen? Ist sein Gratisprotest eine Art Ersatzbefriedigung für verpasste Gelegenheiten – einmal noch rebellisch sein und dann die große Stille?

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