Heute kann ich sie verstehen. Früher mochte ich die Kontinuität, die Beständigkeit. Ganz sicher hängt das auch mit den Lebensumständen zusammen. Denn wenn es hektisch wird, dann sehnt man sich nach Ankern, wenn es ruhig wird, will man sprichwörtlich das Weite suchen.
Heute denke ich wie meine Frau. Aber vielleicht aus etwas anderen Gründen. Mir kommen Wiederholungen wie ein Abklatsch von etwas Vollwertigerem vor. Bekannte, schon besuchte Orte haben in der Wiederholung etwas Abgestandenes, Vergilbtes, Gewesenes. Abziehbilder versus Unikaterinnerungen.
Nicht, dass eine Norwegenreise zum vierten Mal nicht immer noch eine schöne Norwegenreise wäre. Aber so vieles ist dann einfach schon entdeckt. Und auch hier gilt ja der ranzige Spruch, „So jung sehen wir uns nicht wieder“. Man ist einfach nur älter als beim letzten Mal.
Nun zieht niemand ständig um, wenn er nicht vor irgendetwas flüchtet. Das Zuhause wird ja mit jedem Tag vertrauter. Aber wie viel vertrauter kann etwas noch werden, das man schon Jahrzehnte kennt, das man vielleicht sein Leben lang kennt? Beim Blick auf das Alltägliche fällt mir zunehmend der Verfall auf. Und dabei habe ich noch gar nicht in den Spiegel geschaut.
Jetzt könnte man sagen: Gut, dann ändere halt etwas, geh endlich aus dem Haus, tippe mit dem Finger auf der Landkarte auf jene Flecken, die du noch nicht kennst. Aber man wäre mit sich unehrlich, würde man behaupten, dass die Lust am Reisen mit 55 größer wäre als mit 18. Ist das der Beginn einer großen Trägheit?
Mein alter Freund ist Schäfer. Als wir 1980 gemeinsam aus der Schule entlassen wurden, hat Jürgen eine Lehre als Tierwirt in der Fachrichtung „Schafzucht“ begonnen, während ich bei Karstadt Schaufenster dekorierte. Heute hat Jürgen seinen eigenen großen Hof und hunderte von Schafen.
Antananarivo und zurück
Ich erzähle es in dem Zusammenhang, weil mein Freund vor ein paar Tagen nach Madagaskar geflogen ist. Er war dort schon einmal mit meinem Bruder, als die beiden gerade 18 Jahre alt wurden. Jetzt schaut er vierzig Jahre später noch einmal nach, wie es dort mittlerweile aussieht. Vierzig Jahre!
1982 kamen sie mit einigen Blessuren zurück. Aber sie lachten einfach weg, dass sie sich irgendwelches Viehzeug eingefangen hatten, welches ihnen nicht nur die Harnröhre hochgekroch, sondern auch unter der Haut an den Beinen noch einige Wochen wechselnde, offene Wunden bescherte.
Heute würde man damit schockiert und vollkommen verängstigt irgendwelche Tropenfachärzte aufsuchen. Damals hat es der Hausarzt um die Ecke einfach weggezaubert. Ein alter Doktor, der noch im Fronteinsatz war und dort viel Schlimmeres wieder zusammenfrickeln musste, als ein paar Urlaubsblessuren.
Kam man wegen eines leichten Hustens zu ihm und wollte einen gelben Schein mitnehmen, weil einem der Job bei Karstadt auf die Nerven ging, schaute er nicht selten verächtlich auf einen herab. Aber er wusste auch, dass man den Schein im Notfall woanders bekam, also stellte er ihn murrend selbst aus.
Als unsere Kinder noch kleiner waren, fuhren wir Jahr für Jahr an den gleichen Ostsee-Strand. Wir waren zwanzig Jahre später noch einmal da. Aber auch hier der gleiche Effekt: Alles ist einfach nur älter geworden als man selbst. Und der Ort hat seine Geheimnisse ja längst offenbart. Man reist also immerfort in den eigenen Erinnerungen herum, noch dazu in einer fünfundzwanzig Jahre alten staubigen Urlaubskulisse.
Wer eine Neigung zum „Weißt Du noch?“ hat, der mag für den Moment befriedigt werden. Aber irgendwann wird aus „Weißt Du noch“ ein „Weißt Du noch“ als wir sagten „Weißt Du noch“? Und dann wird es echt brenzlig und gefühlt so, als schaue man sich wieder und wieder das Fotoalbum seines Lebens an, als wäre es schon ausgelebt. Und das ist mit fünfzig oder sechzig Jahren – nein, das ist selbst noch mit siebzig Jahren eine Kapitulation.
Das Fazit ist so wahr, wie es banal und schwierig ist: Leben heißt neugierig bleiben. Der Mensch bleibt ein Entdecker, ein Suchender, ein Getriebener im positivsten Sinne. „Wer rastet, der rostet“ meint den körperlichen Verfall, aber diese Binsenweisheit ist übertragbar: Wer nur in seiner eigenen Geschichte verfangen ist, der bläst Trübsal und langweilt sich und andere noch viel mehr.
Natürlich sind Geborgenheit, Sicherheit und Bequemlichkeit mächtige Verführer. Aber sie ähneln dabei einer 200 Gramm Tafel Schokolade. Man fängt an zu essen und hat sich fest vorgenommen, nur ein paar Stückchen zu essen und das Knisterpapier wieder über dem Rest zu schließen. Und auf einmal ist man schon über die Hälfte hinaus, man ist bewegungsunfähig und hat furchtbare Bauchschmerzen.
Älter werden hat für mich etwas von einem Auftrag: Bemühe dich darum, neugierig zu bleiben. Zwinge dich, mehr Kraft aufzubringen, den inneren Schweinehund zu überwinden. Ich hoffe sehr, dass es mir gelingt, aber im Moment hat es noch sehr viel von Autosuggestion.
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Kommentar von Schafokalypse bald
In einer Welt, in der alle Schwarmlinge ziemlich gleichermaßen bekloppt und gierig nach äußren "Erlebnissen" sind, stellt sich die Qualität des wirklichen Erlebens immer nur dort ein, wo der Schwarm mit seinem Unsinn nicht die Bewertung bestimmt. Die Frage ist ja, welche Art von Erlebnissen will man haben? Die "neuen Erlebnisse", über die man reden kann, damit die Themen nicht ausgehen? Öhm, ja, alle diese äußeren Erlebnisse wurden mittlerweile müllionenfach im Internet beschrieben, man kann also nur noch "me too" hinterher laufen auf breitest ausgetretenen Pfaden, denn irgendeiner der sich-selbst-Feiernden war bestimmt schon da und kennt sich aus. Also, will man nur für Andere "aktuell" bleiben und "nicht vermufft"? Die Frage ist eine wesentliche. Der Mensch, das Bewußtsein erweitert sich ständig, nach außen oder nach innen, da muß man gar keine Sorgen haben, sofern man eben das pflegt: Bewußtsein. Das bedeutet, Neugier nach Wissen, nach Wahrheiten. Tatsache ist, die Außenwelt ist in fester ideologischer Hand. Fast alle die einem da begegnen, sind Teil des Schwarms, und so bleibt man meist in der Schwarm-Blase. Es sei denn, man entscheidet sich bewußt und konkret dagegen. Ab da wird es spannend, ab da beginnt die Expedition nämlich auf weitgehend unkartografiertes Gebiet. Die größte Leistung die man heutzutage vollbringen kann, ist eben gerade nicht Teil des Schwarms zu sein. Dann ist man Livingstone, wo der Schwarm nie hingeht. Das kann auch im Außen sein. Muß aber nicht. Markus Krall liest Klonovsky. Ein guter Startpunkt; man kann sich auch andere suchen. Die Auswahl ist groß. Nicht der Sehende muß sich neu erfinden. Er muß nur lernen, neu zu sehen. Das ist allerdings keine Qualität, die man im Außen mit den Schwarmlingen teilen kann, die alle gleich sehen, das zeichnet den Schwarm nämlich aus. Sie fressen nur die Gegend ab, wie Erlebnis-Heuschrecken, und posten dann was sie abgefressen haben, digital. Da kommen wir wieder zur Sprachdegeneration: ein "Erlebnis" ist im Schwarm nur das, was als vorzeigbar gilt, mit engen Vorgaben. Wir hatten das beim Thema "Individualität". Dem Schwarm geht es nicht um das Wesen der Dinge, das Wesen des Erlebnisses oder die inhärente Qualität von etwas. Dem Schwarm geht es nur um das Symbol, den Handelswert den es einem Symbol beimißt. Symbol Toskanaurlaub, Symbol Abenteuerurlaub, Symbol Wanderurlaub, Symbol Zuhause-Rumhocker. Schublade zu, und fertig. Wie war das noch, "500 Leute schwingen"? Jawoll, das ist jenseits des Symbolischen, ab da geht es los, nämlich durch die authentische Erfahrung, das wahre Er-leben, das normierte Verhalten zu durchbrechen, und zwar in dem Falle zu mehreren, die sich in der U-Bahn, auf dem Heimweg einfach gut unterhalten, angefüllt von dem Erlebnis, und so das Neue stattfinden lassen. Statt vereinzelt mit Gesichtslappen und auf Abstand stumm zu bleiben. Man darf übrigens eine solche, lebendige Gemeinschaft nicht mit dem Schwarm gleichsetzen, der stets festen Regeln folgt, auch im Spaß (von spasso, im Gegensatz zur Freude). Und das ist eben der Unterschied: der Schwarm tauscht nur spasso Symbole aus und handelt dieselben, die echten Erlebnisse jedoch, sprengen das Muster des Schwarms. Ab da wird es interessant. Wer unter "Erlebnismangel" leidet, der ist mE schon im Kopf vergreist. Du meine Güte. Ich komme gar nicht dazu, überhaupt Langeweile zu haben, und reise trotzdem nicht herum.
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Kommentar von hans
… ich habe als ganz junger Mann mehrere Jahre alle Ozeane 'beschifft'. Insbesondere Afrikas und die Nah-Ost Küstenländer. Europa sowieso. Dabei habe ich gesehen, dass der Rasen anderswo nicht grüner ist. Im Gegenteil. Auf was soIlte ich neugierig sein?
Ich liebe meine Heimat. Da kommt auch keine Langeweile auf.
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Kommentar von Carl Peter
Vergangenheit ist für mich wie eine Schule, aus der ich nicht herauskomme, weil ich immer wieder sitzen bleibe - versetzt werde ich nur, wenn ich was Neues gelernt habe.