Wie wird man 100?
Ich will keine 100 werden. Ich habe so die Nase voll. Besonders nachdem ich zuletzt die ganze Wohnung verräuchert hatte, weil ich auf dem Herd was vergaß, was dann angebrannt ist. Auch habe ich immer Schwierigkeiten, jedes Mal die vierzig Stufen runterzulatschen, wenn ich nur die Zeitung vom Briefkasten holen will. Oder ich habe drei Tage lang keine Zeitung, wenn ich es nicht schaffe. Eine liebe Bekannte hat mir schon empfohlen, in ein Altersheim zu gehen.
Wenn ein 50-jähriger 100 Jahre alt werden will, was wäre Dein Tipp?
Ich glaube nicht, dass jemand 100 Jahre alt werden möchte. Wenn er ganz jung ist, kann er sich vielleicht vorstellen, dass er mal die 50 erreicht oder sogar die 100. Aber wenn er 70 ist und feststellt, dass er schon vieles nicht mehr so leicht schafft, dann wird er sich sicherlich nicht mehr die 100 wünschen. Ich wünsche mir jedenfalls keine 100.
Wenn du heute zurückschaust, hast du das Gefühl, bisher etwas verpasst zu haben?
Nein, das ist ja mein Motto. Ich habe nie lange überlegen können, sondern ich musste einfach machen. Glaubst du, ich hätte Lust gehabt, beim Bauern nach dem Krieg den Schweinestall zu misten, die Kühe zu melken und den Bullen festzuhalten, wenn der verrückt spielte? Da hat dich doch keiner gefragt. Und ich habe gedacht, ich muss das eben machen.
Und als ich nach Schweden ging als junge Frau, das war ja auch nicht bloß Fröhlichkeit. Da musste ich machen, was die Schweden nicht machen wollten: Auf den Knien mit Schmierseife den fettigen Fußboden schrubben und die riesigen Kessel für zweihundert Liter, die waren angebrannt, damit die Deutschen was zu tun kriegten.
Denkst Du darüber nach, das eine oder andere noch gemacht haben zu wollen?
Ich wollte immer schon viel reisen. Ich wollte mit meinem Vater, mit der Tante und dem Onkel in den Ferien nach Afrika fahren. Und da war immer die Bedingung, dass ich in der Schule nicht sitzen bleiben darf. Denn dann hätte ich alles das nicht mehr machen dürfen. Ich bin nie sitzen geblieben. Und ich wollte auch gerne Australien und Neuseeland besuchen. Und wenn ich es recht überlege, dann wäre ich auch in Amerika und England gerne länger geblieben als nur einen Monat auf Urlaub.
Welchen Ratschlag gibst Du jungen Leuten?
Die sollten sich ruhig etwas zutrauen, wenn sie sich das zeitlich und finanziell leisten können. Ich war fünf Jahre in Schweden, was jetzt an der Rente fehlt und auch zwischendurch war ich nicht immer versichert. Aber damit musste ich ja rechnen.
Junge Leute fangen heute manchmal gar nichts richtig an. Das hat mich aufgeregt: Hauptsache Schule, noch eine Lehre anfangen und dann gleich wieder aufgehört. Ich erinnere mich gut an den großen Betrieb, wo ich Jahrzehnte lang beschäftigt war. Damals kamen 400 Bewerbungen auf 100 Plätze. Und von den 100 haben trotzdem so und so viele nach einem halben Jahr hingeschmissen. Damit waren Lehrplätze und Lehrstellen verloren, die eine Menge Geld gekostet haben. Und genau diese Leute sind jetzt unsere Politiker, die den Karren in den Dreck gefahren haben.
Hast du gute Erinnerungen an deine Eltern?
An meine Eltern auf jeden Fall. Meine Mutter hat immer, wenn ich die Wäschemangel drehen musste, mit mir gesungen. Und dadurch kenne ich unendlich viele Volkslieder. Sie berichtete mal, dass ihr ein Lehrer in der Volksschule gesagt hat: Lasst euch den Wind um die Ohren wehen. Meine Mutter erzählte immer, wenn sie durch Deutschland fuhr – vom Harz in Richtung Rhein und Mosel, wo sie gearbeitet hatte – dass sie sie zuerst die Knospen sah während der Fahrt, dann die Blüten und kurz vor der Ankunft schon die jungen Früchte. Das heißt also, innerhalb Deutschlands waren mehrere Perioden der Reife zu sehen.
Meine Mutter ist viel mit ihrer Freundin gewandert. Da haben sie mal Kurgäste getroffen, die nach dem Weg fragten und da sagte Mutter: Dort entlang und dann soundso weit. Dann sind Mutti und ihre Freundin eine Abkürzung den Hang runter gegangen. Und da war eine Bank. Und als nach einer Stunde die Gäste des Weges gelaufen kamen, saßen die beiden schon ausgeruht da. Da staunen die Kurgäste natürlich. Und Mutti und ihre Freundin lachten und sagten: Tja, da müssen sie zusammen fast zweihundert Jahre alt werden, dann können sie das auch.
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Sind die Menschen heute glücklicher als früher?
Nein, nein. Früher hattest du nicht die vielen Vergleichsmöglichkeiten. Da kam mal ein Rekrut zurück und erzählte begeistert, was er in Berlin gesehen hat, weil er dort Dienst machen musste.
Noch ein Beispiel: Bei uns in Guteborn war einer beim Militär bei den Reitern, weil er gut mit Pferden umgehen konnte. Dort lernte er aber auch andere Arbeiten kennen und freute sich. Er war dann Schmied, das hatte man ihm in einem Kursus oder Lehrgang beigebracht. Andere sind Kammerdiener geworden. Das waren Offiziersburschen, die haben gelernt, wie man Stiefel putzt. Und sie haben auch gelernt, wie man die Sachen ihres Offiziers, wenn sie nass sind, schön aufhängt, damit sie trocknen, ohne dass sie hinterher kraus sind.
Und die Mädchen gingen in einen Haushalt. Meine Großmutter Klara kam aus Bunzlau, die kriegte eine Schwiegertochter, die den Onkel Klaus – einen Förster – heiraten wollte. Dazu habe ich neulich in einem alten Brief gelesen: „Der Klaus hat nun auch eine gefunden aus der Landwirtschaft. Aber die muss noch ein bisschen Benehmiche lernen.“ Das heißt, wenn sie einen guten Haushalt führen will, dann muss sie auch wissen, wie etwas gemacht sein muss, wie der Tisch gedeckt wird. Oder wenn man etwas einkocht, dass man das verwertet, was man hat, um im Winter etwas Zusätzliches zu haben.
Ärgert man sich im Alter über Fehler, die man im Leben gemacht hat?
Ich ärgere mich nicht mehr. Ich weiß nicht, ob ich mich je richtig darüber geärgert habe, dass ich immer an Männer geraten bin, die sehr interessant waren. Aber offensichtlich waren die auch interessant für viele Frauen. Der eine ist nach Deutschland gefahren, ohne etwas zu sagen, und hat sich mit seiner alten Frontschwester getroffen. Das habe ich durch Zufall mitgekriegt und da hatte ich die Nase voll.
Was bedeutet es, anständig zu sein?
Das verlangt zu jeder Zeit etwas anderes. Früher war es so, dass man anständig war, wenn man den Mädchen nicht ein Kind andrehte. Anständig ist der Müller, wenn er den Zentner verkauft und nicht nur 95 Pfund und fünf für sich behält. Das wäre unanständig.
Sind die Leute unanständiger geworden heute?
Das würde ich nicht unanständiger nennen. Die sind profitgierig geworden. Das haben wir uns von den Amerikanern abgeguckt. Bei denen muss sich alles rentieren. Und wie sie es dann machen ist auch nicht immer korrekt. Anständig zu sein hat mehr mit der Gesinnung zu tun. Und das andere ist, was man bewusst macht, um sich zu bereichern. Überall sind die Deutschen heute im Nachteil, weil sie irgendwo nicht ganz so pfiffig sind wie Andere. Die Deutschen sind fleißig, haben alles Mögliche erfunden und wer hat sich das alles untergejubelt? Die Anderen. Die verdienen damit. Wir müssen dann die bei uns entwickelte Medizin teuer einkaufen.
Hast du Angst vor dem Sterben? Kommt etwas danach?
Das geht mir oft durch den Kopf. Wenn ich irgendwo im Himmel landen sollte und treffe da überall die Leute, wo ich froh bin, dass ich sie los bin, dass ich nichts mehr mit ihnen zu tun hatte, dann will ich lieber nicht in den Himmel kommen. Das hatte ich Dir aber schon einmal erzählt. Ich weiß nicht, ob ich Angst vor dem Sterben habe. Aber wenn ich so leiden muss wie mein Mann, dann kriege ich Angst. Auch wenn ich sehe, dass die meisten Leute ersticken und nicht einfach im Schlaf wegsterben. Da muss ich ehrlich sagen, ich weiß es nicht.
Ich habe gesehen, wie mein Mann gestorben ist. Ich habe im Flüchtlingslager auch einiges gesehen. Ich habe die Frauen gesehen, die ihre neugeborenen Kinder an sich gedrückt haben, auf dem Leiterwagen in Eis und Schnee und hinterher haben sie den Müttern die Kinder wegnehmen müssen, die waren alle erfroren.
Das sind so Sachen, die gehen mir jetzt immer mehr durch den Kopf, was Frauen alles durchmachen mussten. Die Väter waren gefallen und die Mütter auf der Flucht. Und die kleinen Kinder waren gefährdet.
Gibt es etwas, dass Du unbedingt noch machen möchtest?
Ich möchte noch einmal alle unsere Familien einladen. Alle zusammen an einem Urlaubsort. Alle zusammen in einem Speisesaal, wo man essen und miteinander reden kann. Das würde ich gerne noch einmal sehen. Aber nicht im Ausland, sondern hier irgendwo in Deutschland. Und ich wäre sehr gerne noch mal in Guteborn, in Görlitz und in Schwarzengrund in Oberschlesien.
Und jetzt wünsche ich allen Deinen Lesern Frohe Weihnachten.
Ich danke Dir für das Gespräch!
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Kommentar von andreas h
Ein schöner Text. Ich werde gerade erst 75 und finde, sie hat recht.
Es liegt wohl nicht nur an meinem Alter, wenn mir vieles nicht mehr gefällt.
Die amerikanische Profitgier hat eine Menge zerstört.
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Kommentar von Edlosi
Toller Text Beitrag, ich könnte gerne mehr davon lesen, weil leider alle Verwandten schon gestorben sind und keine solche Zeitzeugen Erzählungen mehr berichten können, aus Königsberg oder Polen, Landwirtschaft war harte Arbeit, aber die Menschen waren trotzdem zufrieden.