Die Gesellschaft hat die Pflicht, den Alten die Angst zu nehmen, was sie am Ende des Monats essen sollen

Ein Ortsbesuch: Jeder vierte Rentner unter der Armutsgrenze

von Alexander Wallasch (Kommentare: 4)

Wir dürfen unsere Alten nicht vergessen, sie nicht einfach verschwinden lassen. Unabhängig davon, wieviel Rente sie bekommen, den Besuch eines vertrauten Menschen kann kein Geld der Welt ersetzen.© Quelle: Pixabay / Alexas_Fotos

Über diese Schlagzeile lesen in diesen angespannten Zeiten viele Menschen einfach hinweg: Jeder vierte Rentner lebt unter der Armutsgrenze. Die Inflation wütet jetzt besonders unter diesen Menschen, von denen viele verbissen dafür gesorgt haben, es irgendwie zu schaffen, nicht zum Amt zu gehen und sich in die Obhut des Staates und der Sozialhilfe zu begeben.

Sicher ist das falsche Scham. Aber wenn man erlebt, mit welcher Energie die betroffenen Alten Monat für Monat um den Erhalt ihrer Unabhängigkeit kämpfen, wenn sie tagelang nur noch Tütensuppen essen, dann mag das zu ihrem individuellen Lebenselixier gehören.

Nichtsdestotrotz hat die Gesellschaft die Pflicht, diesen Alten die Angst zu nehmen, was sie die letzten Tage des Monats essen sollen. Nein, Friedrich Merz, ein „Fördern und Fordern“, das Sie im Gespräch mit der Bildzeitung eingeklagt haben, greift hier nicht. Was wollen Sie den alten Menschen auch noch abfordern? Mal davon abgesehen, dass Sie diese Forderung bei Bundeskanzler Gerhard Schröder stibitzt haben, der damit seine Agenda 2010 dekoriert hatte.

Hinter jedem älteren Menschen steckt ein Schicksal, eine Angst vor dem Tod, ein Leben voller Erinnerungen und eine Sehnsucht nach Nähe, nach ein paar tröstenden Worten, nach einem Gegenüber, der einem im Gespräch in die Augen schaut. Nein, die Alten sind keine abstrakte Verhandlungsmasse irgendwo am Kabinettstisch.

Ich besuchte gestern eine Verwandte jenseits der Neunzig. Finanziell ist sie gottseidank gut aufgestellt. Sie ist nicht anspruchsvoll, beansprucht kaum etwas für sich, sie hat immer gearbeitet und eingezahlt. Diese Generation hat den Krieg überlebt, die Gräuel der Vertreibung überstanden und den Wiederaufbau gestemmt.

Bei meinem Besuch ist mir ein bekannter Spruch wieder in Erinnerung gekommen: Alter ist nichts für Feiglinge.

Auf dem Wohnzimmertisch der alten Dame lag ein Fragebogen für eine Pflegestufe. Von Sachleistungen war da die Rede. Im Wert von ein paar hundert Euro.

Betroffen gemacht haben mich die detaillierten Fragen. Sicherlich, das Amt muss ein System finden, um zu ermitteln, wo konkreter Bedarf besteht. Aber diese rüstige, weit über 90-Jährige musste hier im Wortsinne die Hosen herunterlassen bis hin zur Frage, ob sie sich untenherum noch selbst im Bad helfen kann.

Weiter steht da, dass sie nur noch bedingt Gesprächen folgen kann, was allerdings schlicht daran liegt, dass meine Verwandte schlecht hört.

Bei den Alten in meiner Familie ist es seit Jahren schon das gleiche Hamsterrad: Der schleichende Rückgang der Sinneskräfte zehrt emotional aus. Die Ohren und Augen lassen nach. Der Geschmacks- und Geruchsinn ist demgegenüber noch erstaunlich wenig in Mitleidenschaft gezogen. Und geistig reicht es immer noch allemal für das Ännchen von Tharau von der ersten bis zur letzten Strophe.

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Und wer nun glaubt, Brillen und Hörgeräte würden den Verlust zurückholen, der denkt sehr optimistisch. Denn mal sind die Nebengeräusche zu laut, dann wieder haut etwas mit den Batterien nicht hin und es pfeift so entsetzlich schrill, dass der ältere Mensch sich furchtbar erschreckt vor dem infernalischen Krach.

Meine Verwandte hat schon vor Jahren ihren Mann verloren und wohnt seitdem allein in ihrer großen Wohnung. Nein, Einsamkeit ist hier kein abstrakter Begriff, sondern ein anhaltend erdrückender Zustand. Es dauert schon regelmäßig zehn bis fünfzehn Minuten, bis sie in einem Gespräch sprichwörtlich ins Leben zurückkehrt, als wäre sie von der bloßen Anwesenheit aus einer Art Winterschlaf hochgeschreckt.

Klar, wer den ganzen Tag über, wenn überhaupt, dann nur Kurzbesuche empfängt, der sackt immer mehr in sich zusammen.

Etwas habe ich gestern bei meinem Besuch verstanden: Die Verzweiflung und das Hadern mit dem Alter sind nicht zuerst eine Frage der Gesundheit, der körperlichen Verfasstheit, sondern eine der Einsamkeit. Nein, der Mensch ist nicht gern allein.

Jüngeren – bei einer über 90-Jährigen ist das fast jeder – zerreißt es ein bisschen das Herz, wenn man erkennt, wie arg der alte Mensch die Zähne zusammenbeißen muss, nicht durchblicken zu lassen, wie sehr die Einsamkeit an ihm nagt.

Noch trauriger: Wenn der alte Mensch dann über die Hör- und Sehprobleme hinweg wieder ins Gespräch gefunden hat, drängt schon wieder die Zeit, die Hektik der Gegenwart lässt kaum Raum für Zuhören, auch fehlt die Geduld, schwupps, ist der Alte wieder allein. Der Jüngere geht zwar mit einem schlechten Gewissen, aber er flüchtet zurück in die Hektik der noch Schaffenden bis zum nächsten hingehuschten Besuch.

Allerdings: Älterwerden erwischt jeden. Ausnahmslos niemand bleibt verschont. Da kann man sich Pyramiden bauen als Grabstätte oder seinen Kindern sagen: "Verstreut meine Asche an diesem oder jenem Ort." Am Ende erwischt es alle und auch die literarische Auseinandersetzung darüber füllt ganze Bibliotheken.

Eines dürfte allerdings unbestritten sein, und das meine ich keineswegs nur nostalgisch: Bei allen Entbehrungen und familiärem Gezänk: Das Zusammenleben der Generationen bleibt das beste Rezept gegen Einsamkeit.

Der Preis des modernen Auseinanderlebens ist umso mehr die Einsamkeit im Alter. Damit einhergehend ist auch die Erinnerungskultur verschwunden. Die Welt mit ihrem Jahrmarkt an miteinander konkurrierenden Ideologien und Gesellschaftsmodellen erneuert sich in so rasanter Geschwindigkeit, dass die Alten sich zunehmend fremd in einer eigentlich angestammten Umgebung fühlen – ein stilles Weltendrama.

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Die letzte Merkelregierung, eine Koalition mit der SPD, hatte sich sogar im Koalitionsvertrag der Einsamkeit angenommen. Haben Sie davon gewusst oder von Erfolgen gehört?

Im Koalitionsvertrag von 2017, Zeile 5583 bis 5587 auf Seite 118 heißt es:

„Gesellschaft und Demokratie leben von Gemeinschaft. Familiäre Bindung und ein stabiles Netz mit vielfältigen sozialen Kontakten fördern das individuelle Wohlergehen und verhindern Einsamkeit. Angesichts einer zunehmend individualisierten, mobilen und digitalen Gesellschaft werden wir Strategien und Konzepte entwickeln, die Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen.“

Ja, es sollen ambitionierte Generationenhäuser damit finanziert worden sein. Aber weitere Konzepte sind bei meiner Verwandten nicht angekommen. Und sie ist sogar noch in der komfortablen Situation, dass jeden Tag mal jemand vorbeischaut, wie es ihr geht.

Sie geht noch spazieren und schafft noch diese oder jene Erledigung. Wackelig ist sie, ja. Aber mit einer bewundernswerten Zähheit ausgestattet.

Bitte nicht falsch verstehen, es geht hier gar nicht darum, eine rührselige Geschichte zu erzählen. Denn gar nicht so rührselig, sondern richtiggehend empörend ist die Tatsache, dass jeder vierte dieser menschliche Nähe suchenden Alten mitten in Deutschland unter der Armutsgrenze leben muss. Das ist für unsere Gesellschaft mehr als unwürdig.

Nein, wir dürfen unsere Alten nicht vergessen, sie nicht einfach verschwinden lassen. Und ganz unabhängig davon, wieviel Rente sie bekommen, den Besuch eines vertrauten Menschen kann kein Geld der Welt ersetzen.

Aber das befreit die Regierungen nicht davon, ihre Pflicht zu tun diesen Alten gegenüber. Und Pflicht bedeutet hier, ihnen die Mühen des Alterns zu erleichtern, indem sie nicht auch noch um das Nötigste bangen müssen.

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