Einen Tag nach den Anschlägen vom 9. September sicherte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA die „uneingeschränkte Solidarität“ der Bundesrepublik Deutschland zu. Am 4. Oktober 2001 wurde der Nato-Bündnisfall ausgerufen. Die USA flogen erste Luftangriffe über Afghanistan.
Anfang 2002 gingen deutsche Soldaten und afghanische Polizeikräfte in Kabul gemeinsam auf Patrouille. Das erste Vorauskommando der ISAF International Security Assistance Force wurde vom deutschen Brigadegeneral Carl-Hubertus von Butler geführt.
21 Jahre später übernahmen die Taliban Kabul. Nach einem rasanten Vormarsch und einer Serie von gefechtslosen Kapitulationen hatten die radikal-islamischen Taliban am 15. August 2021 Afghanistans Hauptstadt eingenommen und kontrollierten den überwiegenden Teil des Landes. Das deutsche militärische Engagement war damit beendet.
Die Bundeswehr hatte vor Ort afghanische Ortskräfte (Übersetzer, Fahrer, Wachleute etc.) beschäftigt. Sie sorgten nach dem Fall von Kabul und dem Rückzug der Bundeswehr für Diskussion um ihre tatsächliche Anzahl.
Was in der Debatte regelmäßig zu kurz kommt, ist die Tatsache, dass Ortskräfte bereits seit zwölf Jahren den besonderen Schutz der Bundesrepublik in Anspruch nehmen können. Seit 2013 erfolgen Einzelaufnahmen von gefährdeten afghanischen Ortskräften und ihren engen Familienangehörigen aufgrund von Aufnahmezusagen durch das Bundesministerium des Innern (BMI). Rechtsgrundlage ist hier die Vorschrift in § 22 S. 2 AufenthG. Danach kann das BMI die Aufnahme „zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“ zusagen.
Das BMI erklärte damals:
„Afghanischen Ortskräften, die für ein deutsches Bundesressort arbeiten, steht das Ortskräfteverfahren unabhängig von Position, Dienstort, Beschäftigungsdauer und -zeitpunkt offen. Jede aktuell oder ehemals beschäftigte Ortskraft kann sich bei ihrem jeweiligen Arbeitgeber oder der Botschaft als gefährdet melden. Bei der Gefährdungsprüfung wendet die Bundesregierung einen großzügigen Maßstab an.“
Zum Zeitpunkt des Falls von Kabul war Annegret Kramp-Karrenbauer (SPD) Verteidigungsministerin im Kabinett Merkel IV. Seit 2013 waren 781 Ortskräfte in Deutschland aufgenommen worden.
„Wir reden hier von Menschen, die zum Teil über Jahre hinweg auch unter Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit an unserer Seite gearbeitet, auch mitgekämpft haben und ihren persönlichen Beitrag geleistet haben”, erklärte damals die Verteidungsministerin.
Die Bundeswehr schrieb dazu: „Aktuell arbeiten für das deutsche Einsatzkontingent (…) rund 300 afghanische Ortskräfte. Jede als gefährdetet anerkannte Ortskraft kann für sich und ihre Kernfamilie im sogenannten Ortskräfteverfahren die Aufnahme in Deutschland beantragen.“
Zunächst war demnach von 300 Ortskräften die Rede, erweiternd schrieb die Bundeswehr:
„Auch ehemalige Ortskräfte haben zwei Jahre lang die Möglichkeit, sich mit einem Aufnahmeersuchen an ihren ehemaligen Arbeitgeber zu wenden.“
Heute und vier Jahre nach dem Fall von Kabul stellt sich die Frage, wie aus ursprünglich 300 Ortskräften mittlerweile mehr als 48.000 Afghanen wurden, die man im Zusammenhang mit der Evakuierung von Ortskräfte aufgenommen hat, darunter knapp 36.000 Menschen, eingestuft von der Bundesregierung als „besonders gefährdet“.
Die Zahl der „Ortskräfte“ bleibt vage. Waren es wirklich nur die ursprünglichen dreihundert Personen plus Familien? Warum wurden die Kriterien erweitert? Die Bundesregierung scheint die Definition von „Ortskraft“ flexibel zu handhaben, ohne dies transparent zu kommunizieren.
Auf einer Bundespressekonferenz hatte ein Sprecher des BMI noch Ende August 2021 erklärt:
„So ist es wichtig zu wissen, dass vor Beginn der Evakuierung am 14. August 2021 das BMI Kenntnis hatte, dass es 174 Ortskräfte für die gesamte Bundesregierung ‑ mit Familienangehörigen insgesamt 886 Personen ‑ gab.“
Ebenfalls auf dieser Regierungspressekonferenz erklärte ein Sprecher von Bundesinnenminister Horst Seehofer:
„Während der Evakuierung gab es aus den Ressorts und auch von den Ortskräften sehr viele Nachmeldungen, auch von Familienangehörigen, sodass wir derzeit davon ausgehen, dass der Anteil derer, die einen Bezug zu Ortskräften haben, für die gesamte Bundesregierung bei mehr als 40 000 Personen liegt.“
Das Auswärtige Amt (AA) berichtete zeitgleich von über 5.252 bereits ausgeflogene Personen. Das Innenministerium spricht von „Ortskräften und anderen Gefährdeten“, ohne genaue Aufschlüsselung. Das AA sagte damals in einer Regierungserklärung: „Davon waren 3849 afghanische Staatsangehörige und 403 deutsche Staatsangehörige.“
Anfang Oktober wiederum ist in einer Antwort der Bundesregierung in einer Bundestagsdrucksache (19/32661) wiederum lediglich von 1.400 Ortskräfte die Rede, die potenziell Anspruch auf Aufnahme haben könnten.
Die Plausibilität auch dieser Schätzung bleibt ungeklärt.
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Im Dezember 2021 explodieren dann die Zahlen. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland schreibt:
„Insgesamt haben etwa 25.000 Menschen eine Aufnahmegenehmigung für Deutschland. Meist handelt es sich um langjährige Helfer der Bundeswehr einschließlich ihrer Familien. Bis zum vergangenen Montag waren nach Angaben des Bundesinnenministeriums allerdings erst rund 7600 Betroffene eingereist.“
Ein X-User fragt am 11. Dezember 2021:
„Laut Innenministerium sind unter den 25.000 Afghanen, die zu uns kommen sollen, 19.000 „Ortskräfte“ plus Familienangehörige. 2018 lag die Zahl der „Ortskräfte“ aber noch bei ca. 2.000.“
Auch um diesem Zahlensalat und der zunehmenden Absurdität der Ortskräfte-Erzählung entgegenzuwirken, wurde das Bundesaufnahmeprogramm im Oktober 2022 für „besonders gefährdete Afghanen“ (z. B. Menschenrechtler, Journalisten) zusätzlich zum Ortskräfteprogramm erweitert. Außerdem wurde ein neues Ziel formuliert, das von einer Begrenzung auf monatlich eintausend Aufnahmen spricht.
Das alles hat noch nichts mit jenen Afghanen zu tun, die über andere Wege nach Deutschland kommen. Mittlerweile sind es über eine Millionen Syrer, die in Deutschland leben und knapp eine halbe Millionen Afghanen. Viele von ihnen leben dauerhaft im Bürgergeld.
Im Oktober 2022 hatte die Bundesregierung ein „Bundesaufnahmeprogramm“ für besonders gefährdete Afghanen aktiviert. Jetzt hieß es aus dem Bundesinnenministerium von Nancy Faeser (SPD):
„Seit der Machtübernahme der Taliban werden viele Menschen in Afghanistan u.a. wegen ihres Einsatzes für Demokratie und Menschenrechte, ihre Zusammenarbeit mit den westlichen Staaten oder internationalen Organisationen oder aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung bedroht und verfolgt.“
Mit Stand April 2024 berichtete dass BMI, dass die Bundesregierung zwischenzeitlich „etwa 45.000 besonders gefährdeten Afghaninnen und Afghanen sowie ihren berechtigten Familienangehörigen“ eine Aufnahme in Deutschland in Aussicht gestellt habe. „Hierzu zählen“, heißt es weiter, „insbesondere über 25.100 ehemalige afghanische Ortskräfte und ihre Familienangehörige sowie weitere über 19.900 besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen, die die Bundesregierung mit Hilfe der Zivilgesellschaft identifiziert hat.“
Mit „Zivilgesellschaft“ sind Nichtregierungsorganisationen (NGOs) gemeint. Von ihnen soll es in Spitzenzeiten bis zu einhundert Organisationen gegeben haben, die dem Aufnahmeprogramm angebliche Ortskräfte gemeldet hatten oder weiterhin melden. Diese unheilige Allianz zwischen Regierung und NGOs ist hier besonders auffällig. Ausführlich hier nachzulesen unter der Schlagzeile „Linksradikale Luftbrücke: NGOs sammeln für Bundesregierung zehntausende Afghanen ein“.
Das BMI informiert ebenfalls darüber, dass bisher über 33.200 Personen eingereist seien. Darunter befänden sich über 20.300 Ortskräfte einschließlich Familienangehörigen sowie über 12.900 weitere besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen einschließlich Familienangehörigen (Stand: April 2024).
Mitte Juli 2023 beteiligten sich etwa auch der NDR, WDR und SZ an der neuen Zuwanderungskampagne aus dem Auswärtigen Amt von Annalena Baerbock. Sie verbreiteten unter anderem die Behauptung, dass gefährdete Ortskräfte abgelehnt wurden, etwa weil sie nur über Subunternehmer für die GIZ arbeiteten. Das allerdings die GIZ nichts mit der Bundeswehr zu tun hat, also grundsätzlich auch keine Ortskraft sein kann, spielte hier keine Rolle.
Da muss man stattdessen die Frage stellen, warum sich überhaupt massenhaft NGOs und staatliche Organisationen in einem umkämpften Land engagiert haben, die dann wiederum für sich beanspruchen, Ortskräfte ausfliegen lassen zu müssen. Wie weit geht das? Bis hin zu aggressiv missionierenden freikirchlichen Missionarsgruppen wie „Shelter now“ in Afghanistan?
Die Tagesschau erklärte Ende Juli 2023: „Immer wieder wird ihnen die Aufnahme in Deutschland verwehrt – obwohl sie als gefährdet gelten.“
Afghanistan.diplo.de berichtet im Januar 2025:
„Über 35.500 Personen konnten mittlerweile in Deutschland einreisen. Darunter befinden sich über 20.600 Ortskräfte einschließlich Familienangehörigen.“
Am 25. Februar 2025 bringt ein Flugzeug 155 Afghanen nach Berlin, darunter befinden sich lediglich fünf als „Ortskräfte“ beschriebene Personen.
Nochmal zusammengefasst: Von ursprünglich 300 ist die Zahl auf über 35.000 sogenannte Ortskräfte angewachsen, weitere sollen noch folgen. Wobei „Ortskräfte“ zur Minderheit unter den Eingereisten werden. Die Bundesregierung scheint die Definition bewusst zu dehnen, um politische Versprechen zu rechtfertigen, während Sicherheitsprüfungen mangelhaft bleiben.
Diese Entwicklung offenbart ein Muster: Eine anfänglich überschaubare Verpflichtung wurde zu einem weitläufigen Aufnahmeprogramm aufgebläht, ohne klare Begründung oder Kontrolle. Die Zahlen explodieren durch flexible Definitionen (Subunternehmer, erweiterte Familien), politischen Druck und ein schlecht gemanagtes Bundesaufnahmeprogramm. Immer mittendrin die teilweise subventionierten NGOs.
Die Öffentlichkeit wird mit wechselnden Zahlen (300, 1.400, 19.000, 35.000) und vagen Begriffen im Unklaren gelassen – ein Vorgehen, das Misstrauen nicht nur nährt, sondern zwingend erscheinen lässt. War dies moralische Verantwortung oder politisch-ideologische Schaufensterpolitik auf Kosten der Steuerzahler und der Sicherheit? Diese Chronologie legt nahe: Letzteres.
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Kommentar von Frieda vom Baumarkt
@Sara Stern: Danke, besser kann man nicht erklären, wie "Verantwortungsträger" mit der Flüchtlingsindustrie reich werden. In Berlin-Tegel "kostete" ein Migrant ca. 600 € pro Tag laut offiziellen Zahlen. Ganz schön viel Geld pro Stück ist das, oder?
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Kommentar von Frieda vom Baumarkt
Psychologisch ist auch klar, wie die Aggressivität der Migranten entsteht. Nicht nur in Afghanistan, sondern weltweit warten ganze Massen junger Männer darauf, dass sie in Deutschland ein besseres Leben haben. Das sind Auswanderer, keine "Flüchtlinge".
Wenn sie hier aber nach langer Zeit merken, dass es mit einem besseren Leben nichts wird, erst dann hat man sie wirklich zu "Flüchtlingen" gemacht, denn niemand will diese gestrandeten Menschen mehr zurück haben.
Früher in der DDR wolltenn wir auch nichtt Leute wiederhaben, die in den Westen "abgehauen" sind des Wohlstands wegen. Einfach mal Geld und Ideologie unterscheiden, wäre gut.
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Kommentar von Sara Stern
Die Beantwortung der Frage nach dem "warum?" ist tatächlich recht banal. Die deutsche Sicherheit ist dabei nicht mal eine Erwähnung wert. Auch das mit den Kosten ist komplett egal. Und wenn jeder einzelne Afghane 1 Milliarde pro Jahr kosten würde. Warum? Ganz einfach: Weil diejenigen die einladen nicht bezahlen, sondern sogar für jeden Einzelnen noch Geld bekommen. Von 300 Afghanen kann man sich kein Eigentum in den USA kaufen. Das weiß selbst ein Habeck. Es braucht schon eher ein paar zehntausend.
Damit ist klar, dass soviele Afghanen wie möglich importiert werden müssen, da jeder einzelne Afghane Geld in private Taschen von "Verantwortungsträgern" bedeutet.
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Kommentar von Edlosi
Besten Dank Herr Wallasch, dass Sie sich die Zeit nahmen und die Recherche Arbeit geleistet haben, - hoffentlich nicht ausschließlich für die Geschichtsbücher!