Frau stand am Fenster hinter der Gardine und schaute hinterher

Die kleinen Missionare

von Alexander Wallasch (Kommentare: 9)

Frau sprach von den armen Jungs und dass jetzt ihr Tag gelaufen sei, weil sie nur noch an diese Kinder denken könne© Quelle: privat

Es klingelt an der Tür, Frau ist wieder flinker als ich, ich muss mich ja immer erst vom Rechner losreißen. Der Postbote?


Ich höre jedenfalls, wie sie kurz mit jemandem spricht, der Hund bellt, dann wird die Tür wieder geschlossen, sie kommt zurück und ich sehe ihr schon an, dass etwas nicht stimmt, bevor sie mehr murmelt als spricht: „Das ist so schlimm.“

Um Himmelswillen, ich denke sofort an dicke Rechnungen oder Mahnungen, an was auch immer, da drückt sie mir einen schmalen Flyer in die Hand und sagt mit belegter Stimme: „Die armen Jungs!“

Ich kenne Frau seit über dreißig Jahren, etwas hat sie getroffen. Sie erzählt von zwei Jungs, etwas jünger als unsere Jüngsten, also zwischen 16 und 20 Jahren alt. Die Jungs, die ja eigentlich schon junge Männer sind, erzählt sie weiter, hätten in Anzughose, gebügeltem weißem Hemd und Krawatte mit akkurat gescheitelter Kurzhaarfrisur vor der Tür gestanden und wollten mit ihr über Gott sprechen. Sie fragten meine Frau, ob sie etwas von Jesus erfahren möchte.

Ich schaute den Flyer an, der heißt „Lebensfragen – Wo findet man die Antwort?“ Auf der Innenseite des schmalen Papierchens steht ein Bibelzitat.

„Die Bibel sagt: ,Gottes Wort ist wahr und zuverlässig“'. Hier wird also die Bibel als Zeugin für den Wahrheitsgehalt der Bibel angeführt, was argumentativ aus meiner Sicht eher ungünstig ist. Solche Zweifel sind gestattet, aber man sollte sie tunlichst nicht an der Tür diskutieren wollen.

Aber Frau war sowieso von etwas ganz anderem bewegt. Sie war bewegt davon, dass diese „netten Jungs“ hier mit ihrem Vater bei über dreißig Grad von Tür zu Tür laufen müssen. Der Vater selbst ging auf der anderen Straßenseite mit einem dritten Jungen an der Hand, der ebenfalls ein weißes Hemd mit einem kleinen Binder trug und ebenfalls akkurat gescheitelt wie aus der Fabrik für kleine Jungs gefertigt daherkam und vielleicht gerade einmal acht oder neun Jahre alt war.

Frau stand noch am Fenster hinter der Gardine und schaute hinterher und wahrscheinlich gehörte sie zu den Wenigen, die überhaupt ein paar freundliche Worte mit ihnen gewechselt hatte. Ich dachte im Stillen: Dass sie den Flyer genommen hat, das war ein Fehler, das vermerken die bestimmt mit einem sparsam runtergespitzten, angeleckten Bleistiftstummel in einem schwartigen Büchlein und kommen dann bei Gelegenheit noch einmal wieder.

Dazu fiel mir eine dieser Geschichten meines Großvaters wieder ein, die er uns Kindern erzählt hatte. Er hatte uns von einer Geheimschrift der Bettler berichtet, von geheimen Zeichen, welche diese mit Kreide an Häuser malen, damit nachfolgende Bettler wissen, ob es sich hier lohnt. Mein Großvater kannte diese Zeichen und hatte eines an sein Haus gemalt, welches besagte, dass dort böse und geizige Menschen leben. Unnötig zu erwähnen, dass meine Großeltern das Gegenteil davon waren.

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Als Kind haben mich bettelnde Menschen fasziniert, uns ging es ja gut, wir mussten nie hungern. Damals wohnten wir in einem Neubaugebiet am Stadtrand in einem Vierfamilienhaus und manchmal an den Wochenenden klingelte es und jemand bat um etwas. Meine 87-jährige Mutter wohnt dort heute noch. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, in den letzten Jahrzehnten von ihr gehört zu haben, dass noch mal Bettler gekommen wären.

Einmal, ich erinnere es noch genau, ich war vielleicht vier oder fünf Jahre alt, hatte meine Mutter einen Marmorkuchen in Kastenform gebacken, ich war immer besonders scharf auf den dunklen Teil, weil der nach Schokolade schmeckte. Der Kuchen war noch nicht richtig ausgekühlt und wir Zwillinge schon ganz zappelig, aber wir hatten zu warten, bis Mutter das Signal gab. Und dann schnitt sie einfach für den älteren zerlumpten Herrn an der Tür eine warme Scheibe ab, wickelte sie in Butterbrotpapier, zog ein rotes Gummiband darum und reichte ihm den Kuchen.

Ich kann heute behaupten, dass meine Mutter damals den gleichen Blick hatte wie meine Frau vorhin, als sie mit dem dünnen schmalen Flyer zurückkam. Aber die Jungs, die ihn ihr gaben, gingen ohne Marmorkuchen. Es ging ja alles viel zu schnell. Wir hatten auch keinen im Ofen, aber ein Getränk wäre doch möglich gewesen!

Ist das ein Fall für das Jugendamt? Ich zog die Schuhe an und schlenderte ein stückweit die Straße herunter und traf hundert Meter weiter wieder auf die kleine Gruppe, die gerade fast synchron die gegenüberliegenden Hauseingänge verlassen hatten. Der Vater war hager und Typ trauriger Buchhalter, er schielte stark, ein Handlungsreisender im Namen des Herren, der seine Kinder am Wochenende zum Missionieren mitnimmt.

Kein böser Typ, eher vom Leben geschlagen und verletzt wirkend. Ich kann nicht einmal sagen, ob diese tragische Aura hier zur gelernten Missionsausstattung gehört so wie der traurige Blick des Alten, der es geschafft hatte, dass meine Mutter den für uns so kostbaren Kuchen stückchenweise schon vor der Zeit anschnitt und weggab.

Und strenggenommen waren die Zeugen Jehovas auch nicht wegen Kuchen gekommen. Sie waren sogar fest davon überzeugt, ihrerseits das Wertvollste mitzubringen, was sie zu bieten haben.

Ich sagte Frau beim Zurückkommen, dass ich verstanden habe, was sie meint. Und sie sprach noch einmal von den armen Jungs und dass jetzt ihr Tag gelaufen sei, weil sie nur noch an diese armen Kinder denken könne.

Ich versuchte sie mit der Behauptung zu beruhigen, dass ich glaube, dass auch dieser Vater seine Kinder liebt. Vielleicht liebt er sie sogar ganz besonders. Und ich erwähnte weiter, dass ich sogar überzeugt bin, dass auch die Kinder voller Vertrauen an ihrem Vater hängen, wenn ich auch nicht sicher sei, ob das nicht schon eine Art Stockholmsyndrom ist.

Meine Frau meint, darum ginge es doch aber gar nicht, die ganze Familie sei in dieser Sekte gefangen, die Jungs hätten noch nie ihren Geburtstag gefeiert. Ich sagte noch: „Gut, dann fahr halt hinterher und bringe ihnen ein Eis“, aber sie sagte, bis sie dort sei, sei die Gruppe wohl schon verschwunden. Und wer wisse schon, ob sie es überhaupt annehmen dürften, vielleicht spräche ja etwas dagegen.

Ja, wer weiß das schon. Und wer weiß, ob nicht diese Gedanken schon bewusst erzeugt werden als Teil einer Missionierung, indem dieser elende Gesamteindruck erzeugt wird. Aber da können die Jungs wirklich am wenigsten etwas dafür. Und auch der Vater war mal ein Junge, aber das ist schon lange her.

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