„Ein Deutscher ist großer Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie tut: Denn er gehorcht, wo er kann, wie dies einem an sich trägen Geiste wohl tut.“
Wir dürfen hier fest davon ausgehen, dass Nietzsche mit seinen großen Dingen nicht das Abnehmen von Masken im Supermarkt meinte. Aber wir Gegenwartsdeutsche müssen Abstriche machen, wenn es um Heldentaten geht. Ich habe heute ein paar tragische Helden erlebt, aber dazu gleich mehr.
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Am Morgen ruft mich eine gute Freundin an und sie ist ganz außer sich. Sie war ohne Maske im Supermarkt, weil man das wieder darf. Der Markt war gut besucht, aber alle außer der Freundin und dem Personal trugen trotzdem Masken, sagt sie empört. Ich habe sie noch nie so wütend erlebt. Oder schlimmer: Es war nicht allein Wut, es klang für mich wie eine Verzweiflung am Menschen. Oder präziser: Am deutschen Menschen.
Am Nachmittag mache ich den Selbsttest bei Aldi. Und tatsächlich stellt sich bei mir sofort ein entspanntes Gefühl ein. Endlich ohne diesen Trichter vor dem Mund und ohne andauernd beschlagene Brille mal in aller Seelenruhe den Wagen vollpacken, denke ich noch, bevor die Glastüren schon auseinander switchen.
Gut, meine Freundin wohnt im Ruhrpott, kann ja sein, dass die Leute da anders ticken. Aber doch nicht hier im nüchternen Niedersachsen, grinse ich in mich hinein ...
... Aber vollkommen falsch gedacht! Ich sehe weiterhin nur Maskenmenschen. Und ich werde augenblicklich unsicher. Verletzte ich etwa das Hausrecht? Hat Aldi etwa die Aufhebung der Maskenpflicht überstimmt? Dürfen die das etwa?
Der Verkäufer – wir kennen uns schon länger, die Aldi-Filiale ist quasi mein Stammhaus – kniet gerade unten im Gemüse, also frage ich halb flüsternd: „Hey, wie steht's? Sag mal bitte, ist hier noch Maskenpflicht?“
Er versteht sofort, ich sehe für eine Sekunde ein Grinsen, dann antwortet er besonders laut als hätte ihn meine Frage dazu angestachelt: „Nein, es gibt keine Maskenpflicht mehr!“ Wir grinsen beide ganz breit, grinsen uns gegenseitig frech ins Gesicht. Und wir spüren es beide: Wie schön endlich mal wieder in eine feiste Grinsebacke zu schauen.
Auf Höhe des glutenfreien Brotes, das im Übrigen mal wieder ausverkauft ist, erkenne ich einen Redakteur der örtlichen Zeitung an seinem typischen Gang – er will immer lässig schlendern, aber es bleibt merkwürdig stacksig - und an seinen für sein Alter unverschämt dichten Haaren.
Ich traue mich aber aus zwei Gründen nicht, ihn anzusprechen: Zum einen sind seine schon fast erwachsenen Kinder dabei. Und zum anderen bin ich nicht einmal hundertprozentig sicher, ob er es wirklich ist. Nicht weil ich etwa Asperger hätte und deshalb Probleme mit der Gesichtserkennung, nein, der Redakteur und seine Kinder tragen immer noch Maske!
Dann wage ich es doch und spreche ihn von hinten mit seinen Namen an. Er dreht sich um und ich frage ihn so, wie man einen fragt, den man mit offenem Reißverschluss oder mit Klopapier an der Schuhsohle erwischt hat: „Du weißt schon, dass Du die Maske absetzen kannst, oder?“ Dabei schaue ich noch aufmunternd hinüber Richtung Kinder, die aber sowieso schon aufmerksam geworden sind und mich über ihre Maske hinweg anschauen und dann ihren Vater.
Papa funkelt mich aus stahlblauen Augen an und erwidert ungewöhnlich scharf während er sich schon wegdreht und mit seinem Sicherheitsabstand-Einkaufswagen den Gang runter Richtung Milchprodukte entschwindet: „Ne, wissen wir nicht.“
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Ich pruste reflexartig los, auch das muss man sich ja jetzt ohne Maske nicht mehr verkneifen, es besteht ja nicht mehr die Gefahr, dass man den Sprühnebel wieder zurückbekommt - Spaß!
Eine unangenehme Begegnung. Ich will nun schnell meine Einkäufe erledigen, drehe meine Runden und lande für den Moment wieder im Eingangsbereich bei den Zeitungen. Eine Familie betritt den Laden. Migranten aus der Aufnahmeeinrichtung überlege ich, während die Eltern und ihre vielleicht sechs und acht Jahre alten Jungs gerade ihre Masken in der üblichen Umständlichkeit aufsetzen.
Wie oft sind mir in den letzten beiden Jahren eigentlich die Gummibänder abgerissen? Ich glaube, ich bin schon Fachmann für die Neuverknotung geworden. Da habe ich einen spontanen Einfall: Ich schaue dem Vater direkt ins Gesicht, der schaut auch, ich lächle einvernehmlich, er lächelt zurück, also sage ich ganz freundlich und unterstütze es zudem mit den passenden Gesten: „Es ist vorbei, Sie brauchen keine Masken mehr tragen!“
Die Familie reagiert sofort. Die Mutter macht es dem Vater nach, die Kinder ihren Eltern, alle vier stecken ihre Masken wieder ein. Und ich weiß gar nicht, ob sie sich mehr darüber freuen, mal mit diesen blassen Menschen hinter den Masken ins Gespräch zu kommen oder einfach darüber, dass sie diese elenden Dinger los sind.
Die nächsten fünfzehn Minuten kreuzen sich immer mal wieder unsere Wege in den Supermarktgängen, wir strahlen uns an, die Frau lacht, der Mann nickt immer wieder freundlich, die Kinder lächeln scheu und ich bin fast ein bisschen glücklich.
Vor der Fleischtheke und beim Drehen der Biosteaks – die Preise gehen nach Gewicht und sind rückseitig aufgedruckt – muss ich auf einmal an Konrad Lorenz denken. Vom Verhaltensforscher hatte ich mal ein Buch, aus dem ich unvermittelt eine Szene erinnere:
Lorenz erzählt von einem Spaziergang mit seinem Hund - ich meine, es war ein Chow Chow - als Kind mochte ich diese Rasse wegen ihrer blauen Zungen – und er kommt dabei immer am Nachbargrundstück vorbei, das ebenfalls von einem stattlichen Hund bewohnt wird. Beide Hunde knurren sich, so Lorenz, schon gewohnheitsmäßig gefährlich an, als wollten sie sich gleich fressen. Aber immer, wenn der Zaun vorbei ist, beruhigt sich die Lage wieder, so auch dieses Mal.
Der Witz an dieser Geschichte aber: Der Zaun war gerade zur Reparatur abgebaut! Die Hunde selbst verhielten sich aber zum Erstaunen von Lorenz so, als wäre der Zaun einfach noch da. Sie knurrten sich an, fletschten furchtbar die Zäune als ginge es ums Ganze, aber beide taten das in gegenseitigem Einvernehmen, dass es keine andere Option für sie geben kann. Sie unterwarfen sich schlicht ihren alten Gewohnheiten.
Daran musste ich denken, als ich die Menschen im Aldi mit ihren pappdicken umgedrehten Filtertüten im Gesicht erlebte. Eine Freundin, die im Ausland lebt, behauptete neulich noch am Telefon, sie könne Maskenträger schon von hinten am Gang erkennen, diese gebückte Zögerlichkeit und das bald ängstliche Vorausstochern wäre doch unverkennbar – ich glaubte es ihr sofort.
Meine Frau überrascht mich allerdings mit der Mitteilung, dass sie die Maske zumindest bei anderen ganz okay findet. Und sie kann es begründen: „Dann muss man den Leuten nicht mehr ins Gesicht schauen, ich bekomme immer eine innerliche Wut, insbesondere bei den Gesichtern älterer Männer.“ sagt sie giftig und ich frage entrüstet: Meinst Du mich?“ Da schaut sie mich an, bald so eisig, wie vorhin schon der Redakteur und antwortet: „Musst Du eigentlich immer alles auf Dich beziehen?“
Ich bin sofort erleichtert. Und dann fasse ich einen Plan. Immer wenn ich einkaufen gehe, will ich jetzt unsere neuen Mitbürger – und es kaufen bei meinem Aldi immer etliche ein – schon auf dem Parkplatz darüber aufklären, dass es vorbei ist. Es ist vorbei!
Ist es wirklich vorbei? Ich träume ein bisschen vor mich hin, wie man eben träumt, wenn man weiß, es liegen noch drei weitere Einkäufe vor einem auf dem Kassenband. Aber da bleibe ich schon wieder an einem Augenpaar hängen! Gleich vor mir in der Schlange steht eine ziemlich große schlanke Frau mit ihrer kleinen Tochter. Sie hat die weißen Kaffeefilter im Gesicht, ihre Tochter eine blaue OP-Maske.
Ich schaue zurück mitten in zwei große grüne Augen, verliere mich fast ein wenig darin. Aber dann erschrecke ich. Denn unter dem Kaffeefilter fängt es unvermittelt und viel zu laut an zu sprechen: „Das macht richtig Spaß, jetzt ohne Maske herumzulaufen, oder?“
Ihr Blick löst sich von meinem und streift als nächstes jeden der Umstehenden, als erwarte sie ein zustimmendes Grunzen unter all den anderen Masken und dann legt sie ihre EC-Karte auf das Kartenlesegerät und schon ist ihr Einkauf bezahlt.
Selten passiert es, aber mit fällt keine passende Antwort ein, welche die grünen Augen nicht beleidigt hätten. Also sage ich nichts. Vor zwei Jahren gab es noch keine Masken. Jetzt werden sie trotz Aufhebung der Maskenpflicht bei Aldi noch auf dem Parkplatz getragen. Oder wie es der eingangs erwähnte Philosoph über den Deutschen sagte: „...denn er gehorcht, wo er kann, wie dies einem an sich trägen Geiste wohl tut.“
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