Von André Knips
Was sich heute in der Ukraine entlädt, ist kein Ereignis der Gegenwart, sondern eine Verdichtung von Geschichte, von Mythos, von tiefer, lange verschlossener Bewegung. Es ist nicht der Aufprall zweier Staaten, nicht der Zusammenstoß von Interessen, sondern der Ausdruck eines tieferliegenden Zerfalls, der sich über Jahrhunderte vorbereitet hat. Ein Untergang, der nicht als Chaos erscheint, sondern als unausweichliche Ordnung, die sich erfüllt.
Denn Kulturen sind keine technischen Konstrukte – sie sind Organismen. Sie entstehen, reifen, blühen auf, versteifen sich zur Form und erstarren zur Maschine. Was als innerer Drang begann, als Stimme, als Bau, als Gott, wird irgendwann zur Verwaltung, zur Fassade, zur Technik. Kultur wird Zivilisation. Seele wird Struktur. Und was einst lebendig war, beginnt zu funktionieren.
Rom war so. Was als bäuerliche Gottesnähe begann, als archaischer Ritus, als Sakralmacht inmitten der Erde, wurde zur Republik, zum Reich, zur Welt. Und schließlich zum Schatten seiner selbst. Als die Kaiser kamen, regierte nicht mehr der Genius – sondern die Maschine. Die Form lebte weiter, doch ihr Geist war gegangen. Und als die letzten Legionen fielen, war Rom längst tot. Nur seine Steine standen noch.
Heute stehen wir an einem ähnlichen Punkt. Europa hat seine Kulturphase lange hinter sich. Was im Mittelalter aus Kirchen und Kosmen geboren wurde, was in der Neuzeit sich zur Idee des Menschen entfaltete, ist längst in seine zivilisatorische Phase eingetreten. Was heute herrscht, ist nicht mehr Kultur – es ist Nachhall. Technik, Organisation, Verwaltung, System.
Der Westen spricht noch von Werten, doch er meint Mechanismen. Er ruft nach Freiheit, doch er versteht darunter Zugriff. Was er verloren hat, ist das Innerste – der lebendige Sinn. Und deshalb klammert er sich an Bilder, an Rechte, an Begriffe, als könne man durch das Festhalten des Symbols das Verschwinden des Gehalts aufhalten.
Und so trifft dieser Krieg nicht auf eine blühende Kultur, sondern auf eine müde Zivilisation.
Russland marschiert nicht, weil es will. Es marschiert, weil es muss. Weil es nicht anders kann. Denn was sich dort in Szene setzt, ist nicht der politische Wille eines Mannes, sondern der späte, aufgestaute Atem eines Reiches, das nie gelernt hat zu sterben. Russland ist keine Nation im westlichen Sinne. Es ist ein Mythos, der sich selbst erhalten will. Und dieser Mythos kennt keine Grenze, sondern nur Umkreis, keine Nachbarn, sondern nur verlorene Glieder, die heimgeholt werden müssen – mit Sprache, mit Erinnerung, mit Macht.
Die Ukraine war nie einfach. Nicht in ihrer Geschichte, nicht in ihrer Gestalt, nicht in ihrer inneren Verfasstheit. Sie war Durchgangsraum, Schwelle, Kreuzung, Kornkammer, Leichentuch. Ein Ort, der mehr erlitten als gestaltet hat, mehr bezeugt als entschieden. Und gerade darin liegt ihre Bedeutung: Sie ist die Mitte, die nie zur Mitte werden durfte. Sie ist das Herz, das nie einen Körper fand.
Für Russland ist sie ein verlorener Teil. Für den Westen ein hoffnungsvoller Vorposten. Für sich selbst aber ist sie eine Frage, keine Antwort – eine Spannung zwischen Zugehörigkeit und Selbstbehauptung, zwischen Tiefe und Überforderung, zwischen Erinnerung und Zukunft. Und genau deshalb bricht sich an ihr der Wille der Zeit.
Denn was hier geschieht, ist keine Rückkehr der Geschichte. Es ist ihr letzter Versuch, sich selbst zu erinnern. Russland greift nicht an, um zu gewinnen, sondern um nicht zu verschwinden. Der Westen verteidigt nicht, um zu retten, sondern um nicht endgültig leer zu werden. Und die Ukraine stirbt, weil sie lebt.
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Der Westen, der sich so entschieden zeigt, ist in Wahrheit schwankend. Seine Begriffe tragen keine Substanz mehr. Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmung – sie klingen wie alte Gebete, gesprochen von Lippen, die längst keine Verbindung mehr zu dem empfinden, was sie sagen. Der Westen unterstützt die Ukraine nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche. Aus einem tiefen Unbehagen gegenüber sich selbst.
Er braucht die Ukraine, weil sie noch Blut hat. Weil sie sich noch opfert. Weil sie noch an etwas glaubt – oder zumindest so erscheint. Und so wird dieses Land zum letzten Spiegel einer Zivilisation, die sich selbst nicht mehr erkennt. Es ist die geopferte Tochter, die das eigene Selbstbild retten soll.
Doch in Wahrheit rettet niemand hier irgendwen. Denn was sich hier vollzieht, ist ein Reifungsprozess, der in keiner Hauptstadt, in keinem Generalstab, in keinem Gremium aufgehalten werden kann. Es ist der Zerfall einer Ordnung, die ihre Form erschöpft hat. Eine Spätphase, in der die Masken noch einmal glänzen, ehe sie brechen.
Man sollte sich keine Illusionen machen: Dieser Krieg wird nicht entschieden durch Panzer oder Verträge, nicht durch Friedensappelle oder neue Allianzen. Er ist kein politisches Problem – er ist ein seelischer Austragungsort. Und wer ihn nur militärisch versteht, wird seine Konsequenzen nicht begreifen.
Denn die Welt, wie sie war, liegt bereits hinter uns. Die Welt, die kommt, ist noch nicht sichtbar. Und die Ukraine ist der Zwischenraum – das Limbusfeld, in dem sich entscheidet, ob überhaupt noch etwas Gestalt annehmen kann.
Russland wird nicht gewinnen. Der Westen auch nicht. Und die Ukraine schon gar nicht. Denn dieser Krieg kennt keinen Sieger, nur Erinnerungen. Erinnerungen an Reiche, an Ordnungen, an Zeiten, in denen das Wort noch Gewicht hatte, der Boden noch Heimat war, das Opfer noch Bedeutung trug.
Vielleicht liegt darin der wahre Sinn dieses Schmerzes – dass etwas wieder gespürt wird. Nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Blut. Dass Europa, dieser gealterte Kontinent, gezwungen wird, sich selbst zu sehen, nicht in Glanz und Moral, sondern in Splittern und Stille.
Es gibt kein Zurück. Es gibt nur ein Durch. Und dieses Durch führt nicht durch Verhandlungen, nicht durch Narrative, nicht durch Technik. Es führt nur durch Erkenntnis.
Erkenntnis, dass dieser Krieg kein Unfall ist, sondern ein notwendiger Spiegel. Erkenntnis, dass wir alle Teil dieses Schauspiels sind – nicht als Zuschauer, sondern als Träger eines kollektiven Vergessens. Erkenntnis, dass das, was hier zerbricht, nicht fremd ist, sondern unser eigenes Bild.
Denn so war es immer: Die Kultur beginnt als Mythos – und endet als Maschine. Und wenn die Maschine ins Stottern gerät, spricht aus ihrem Inneren noch einmal die alte Stimme. Nicht, um zu retten – sondern um zu zeigen, was war.
Wer diesen Krieg als bloße Tragödie liest, hat ihn nicht verstanden. Es ist kein Unglück. Es ist Schicksal.
Und Schicksal fragt nicht um Erlaubnis.
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Kommentar von winfried Claus
Der Westen hat Ideologisch verspielt! Als ich 2014 ein Jahr lang Demo machte und den Begriff: *Lügenpresse* förderte, konnte ich schon sehr genau vorhersagen, was heute passiert ist.
Die Propaganda ist indess immer dümmer geworden und die Bellizisten werden das noch büßen.
Den Krieg beginnt nicht der, der ihn beginnt, sondern der ihn braucht, der die Grundlagen dazu schafft, der ihn provoziert. Wer Silvio Gesell kennt, der kennt den Zyklus und den Systemfehler, als auch die marktwirtschaftliche Alternative: googel: "nur ein buch als pdf"