Ich habe mit meinem Vater seit vielen Jahren keinen echten Kontakt mehr. Als ich 15 war, ließen sich die Eltern scheiden, wir blieben bei der Mutter wohnen.
Ehrlicherweise war das zunächst für meinen Zwillingsbruder und mich kein Verlustdrama, denn es fühlte sich damals wie ein gewaltiger Akt der Befreiung an. Der dominante Vater verließ das Haus, er nahm sogar das Klavier mit, an dem uns die strenge russischstämmige Klavierlehrerin Serafine zu musischen Menschen erziehen wollte.
Dieser Teil meines Lebens sagt rückblickend auch etwas über 15-Jährige aus. Das Leid der Mutter, die nun alleine mit drei halberwachsenen Söhnen zurechtkommen musste, drang nicht umfassend zu uns durch. Viel spektakulärer war, was auf einmal alles erlaubt war in diesem Haus, das zuvor bis hin zum Geruch vom Vater dominiert wurde.
Unsere Mutter hatte als Neunjährige die Vertreibungen überlebt. Niemand wurde zurückgelassen, die Familie konnte sich gemeinsam in den Westen retten. Ich kann mir vorstellen, dass sie das früh zu einem Menschen geformt hat, dem Verständigung und Harmonie das Wichtigste sind.
Man kann es so sagen: Der Vater war aus dem Haus und die Freiheit explodierte förmlich. Die Mutter erlaubte, dass Mädchen bei uns übernachteten. Ja wie wunderbar war das denn? Ich muss hier niemandem erzählen, was das für einen 15-Jährigen bedeutet.
Mutter schaute uns nur einen kurzen Moment sorgenvoll an und gestattete dann tatsächlich, dass wir mit einem Inter-Rail-Ticket für 365 Mark bis nach Griechenland fahren durften. War es Gleichgültigkeit, weil sie in der Zeit genug damit beschäftigt war, ihr eigenes Leben neu zu sortieren? Nein, es war etwas anders: Sie traute uns zu, dass wir schon alles richtig machen. So war diese Zeit 1980: Da draußen gab es immer noch mehr zu entdecken als zu fürchten.
Diese Entdeckertouren quer durch Europa mit Freunden (und Freundin!) sind wichtiger Teil des Fundaments meines Lebens. Und da kommt dann wieder der Vater ins Spiel, der hier gerade etwas auf der Strecke geblieben ist.
Wer auf seine Eltern, wer auf seinen Vater schaut, dem fallen spontan vielleicht fünf oder zehn intensive Erlebnisse und Begegnungen ein, die prägend waren für die Eltern-Kind-Beziehung. Und jeder Vater – ich bin längst selbst einer – sollte froh darüber sein, wenn ein paar von diesen Geschichten als positive Erinnerungen abgespeichert sind. Das Negative ist nämlich meistens eindrucksvoller, es bleibt länger haften.
Um es kurz zu machen: Der Vater hat ein paar positive Erinnerungen hinterlassen, die mit dem Reisen zu tun haben. Archäologisch interessiert reiste er mit uns auf den Spuren der Römer und Griechen über Griechenland hinweg bis tief ins türkische Hinterland. Der Bildungsurlaub vor Ort zwischen Tempeln und Ruinen wurde dankenswerterweise immer wieder von Badetagen unterbrochen.
Aber ein Pauschalurlaub geht definitiv anders. Es gab immer auch knifflige Situationen, etwa als mitten in der Türkei das Auto kaputtging. Aber in meiner Erinnerung gab es keine einzige Situation, wo wir Kinder dem Vater nicht grenzenlos vertraut hätten. Er mag selbst auch besorgt gewesen sein, aber er ließ es sich nicht anmerken. Es war auch diese Haltung, die uns schon wenige Jahre später so furchtlos selbst in die Ferne zog, wir schliefen in Gepäcknetzen, übernachteten im Schlafsack am Strand. Nichts und niemand konnte uns etwas anhaben und wir strahlten genau das auch weithin aus.
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Viel später schrieb ich für die Süddeutsche Zeitung über so einen Urlaub noch mit den Eltern in Griechenland:
„Unser Vater pilgerte mit uns nicht auf den Petersplatz, wir durchstreiften Sommer für Sommer Kleinasien und Griechenland und landeten schließlich in Epidauros. Dieses herrliche antike Theater mit dem weiten Blick über die uralten Olivenhaine hinweg auf die Berglandschaft der Argolis im Sonnenuntergang; fünf Stunden lang unter freiem Himmel mit Zehntausenden Gleichgesinnten aus aller Welt "Die Troerinnen" auf Altgriechisch. Ich war acht Jahre alt. Und die Wiege des Guten lag für mich nicht in Bethlehem, sondern in diesem Moment ganz im Herzen Europas.“
Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, dass auch meine Kinder Jahrzehnte später in Epidaurus auf den antiken Steinsitzen des Amphitheaters saßen und immer wieder lachen mussten, als ich versuchte, meine Erinnerungen zu sortieren und irgendwie in eine Reihenfolge zu bringen.
Aber wie schön ist das denn, wenn Eltern ihren Kindern nicht über den Krieg berichten müssen, sondern über die glückliche Zeit des Reisens? Nun mag das bis hierher eine ganz nette Geschichte sein, aber eben auch eine langweilige wallasche Selbstbespiegelung. Deshalb komme ich schnell zum Ende, damit mir noch ein paar Leser bis zum Schluss bleiben.
Wenn mir eine Erkenntnis über die Jahrzehnte gewachsen ist, dann sicher diese: Wer Kinder hat, wer gerne mit der Familie ist, der soll Reisen unternehmen! Es gibt neben den großen Dramen des Lebens nichts, das an Intensität einen stärkeren Eindruck hinterlassen kann. Wenn vermeintlich nichts bleibt, wenn Gutes so schwer festzuhalten ist, dann sind es Reiseerinnerungen, die bleiben. Das erfahre ich auch immer wieder, wenn ich mit Geschiedenen spreche, von denen es leider immer mehr gibt: Wenn etwas an Positivem übrigbleibt hinter diesen gewaltigen kinderverzehrenden Rosenkriegen, dann ist es das gemeinsame Reisen.
Bitte verreisen Sie, solange es Ihnen finanziell irgendwie möglich ist. Bedürftigen Familien, denen das leider nicht möglich ist, müsste man so eine Reise sogar finanzieren! Jedem mit niedrigem Einkommen einen Reisegutschein ab dem zweiten Kind. Schon der Kinder zuliebe! Denn Reisen verbindet, Reisen schafft neue Perspektiven, Reisen bildet. Und Reisen ist Grundstock für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Zufriedenheit.
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Kommentar von .TS.
"Bitte verreisen Sie, solange es Ihnen finanziell irgendwie möglich ist"
Oder, wie in den Coronoia-Hochzeiten, gänzlich verunmöglicht wird.
"Reisen verbindet, Reisen schafft neue Perspektiven, Reisen bildet."
Und eben deshalb ist es gewissen Kreisen ein Dorn im Auge, zumindest solange es der gemeine Pöbel und nicht die auserlesene Elite tut.
In diesem Lichte ist auch das Zurückdrängen der Billigfliegerei, die immer stärkere Verhinderung des Individualverkehrs, der immer unattraktiver werdende öffentliche Verkehr, die Klagen über den Massentourismus und Auswüchse wie die herbeigeredete "Flugscham" zu sehen.
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Kommentar von Corinne Henker
Glücklicherweise können wir uns das Reisen leisten und haben unsere Kinder deshalb schon um die ganze Welt geschleift und zusätzlich zu einem Auslandsjahr in der 10. Klasse genötigt. Letzteres kam bei beiden sehr gut an, bei den Reisen waren die Meinungen geteilt. Was den Gutschein betrifft: Schon vor Jahren meinte eine Ministerin in Namibia, dass man statt staatlicher Entwicklungshilfe aus Deutschland lieber Reisegutscheine an die deutsche Bevölkerung verteilen sollte. So käme das Geld denen zugute, die tatsächlich eine Leistung erbringen - und man fördert das interkulturelle Verständnis. Namibia ist übrigens ein tolles Land, von dem sogar unser damals 10-jähriger Sohn begeistert war (die Tochter war gerade zum Highschool-Jahr in Neuseeland). Allerdings würde das Gutschein-Prinzip sicher nicht weltweit funktionieren: wer will schon freiwillig nach Afghanistan oder Palästina? Aber auch das wäre aus meiner Sicht noch ein Grund mehr für Reisegutscheine statt Entwicklungshilfe.
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Kommentar von Thomas Schöffel
Ich bin mittlerweile 62 und erzähle mir mit meiner Shwester immer noch Kindheitserlebnisse. Unser verstorbener Vater frug uns mal, was denn so das Beste in unserem Familienleben gewesen wäre und uns war sofort klar: Die vielen, vielen Reisen. Anfangs im Zelt, später Wohnwagen, dann im Hotel. Mit fünf Personen im vollgestopften Opel über den Brenner, der damals noch keine bequeme Autobahn war oder den Reschenpass, die Großglockner-Straße und wie sie alle hießen. Drei Tage fast waren wir unterwegs von Schleswig-Holstein bis nach Rom, Rimini oder Bibione. Jede Reise ein großes Abenteuer, die beste Zeit des Jahre. Wir Kinder bastelten uns Abreißkalende, auf denen wir über zweihundert Tage bis zum nächsten Urlaub warteten. Allein die Planung mit einem großen Campingführer, in dem wir Kinder die besten Spielplätze aussuchen konnten.... alles prima, alles gut. Großer Seufzer. Wie unsere Mutter im Zelt Frühstück für alle machen konnte war sensationell. Für die heutigen ständige Angsmachmedien habe ich nur tiefste Verachtung übrig. Und sie glauben auch noch, sie würden tolle Leute sein. Lächerliche Sozialversager, Angeber und Schwadroneure. Kinder, fürchtet euch nicht und hinaus in die Welt, denn sie ist groß, sie ist schön und sie ist blau. Und das auch noch in hundert Jahren.