Erst in diesem einen Moment wurde meiner Mutter bewusst, wie groß ihre Einsamkeit war

Corona im Heim: „Ich habe ihr versprochen, dass ich bis zum Schluss bei ihr bleibe“

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„Niemals werde ich den Moment vergessen, als meine Mutter mit einer Maske im Gesicht und merklich abgemagert im Rollstuhl auf der anderen Seite des Fensters erscheint und hemmungslos beginnt zu schluchzen, als sie mich sieht.“© Quelle: Pixabay / Sabine van Erp

Ein Text gegen das Vergessen. Diese Schilderung aus einem Alten- und Pflegeheim – später aus dem Krankenhaus – endet mit dem Tod der Mutter. Die Tochter schickt diese herzzerreißende Geschichte als Chronik und Appell in die Welt.

Autorin Ulrike Stallbörger hat das letzte Jahr ihrer Mutter in einem Pflegeheim aufgeschrieben. Ein Text mit dem Potenzial, zum Fanal wider das Vergessen zu werden: Vergesst nie, was wir den Alten angetan haben!

Der hier bewusst nüchtern angelegte Erzählstil ermöglichte es der Tochter, die Chronik des letzten Jahres und das Sterben ihrer Mutter aufzuschreiben. Selten war Literatur so wahrhaftig.

Für mich ist dieser Text ein kleines Meisterwerk. Aber darum geht es hier gar nicht. Es geht um einen Moment großer Wahrhaftigkeit. Was die Autorin erzählt, ist wahrhaftig herzzerreißend.

Die Wucht der Anklage gegen das Corona-Regime ist hier selbstverständlich impliziert.


Chronik und Appell

Von Ulrike Stallbörger

Zum 1. Oktober wurde die Maskenpflicht in Pflegeheimen wieder eingeführt. Zeit für einen Rückblick und einen Appell.

Im Herbst 2019 habe ich (alleinerziehend, voll berufstätig, 3. Stock Altbau ohne Aufzug, einziges sich kümmerndes Kind) keine andere Wahl, als meine damals 91 Jahre alte Mutter nach einem schweren Sturz in einem Pflegeheim in Berlin betreuen zu lassen. Ich beschränke mich an dieser Stelle bewusst auf die Fakten allein und lasse meine Gefühle in dieser Zeit außer Acht. Sie würden diesen Rahmen sprengen.

Frühjahr 2020

Kurz nach Ausrufung der „Pandemie“ erreicht mich der Anruf eines Arztes, der sich nicht namentlich vorstellt. O-Ton des Telefonats:

„Ich betreue hausärztlich das Heim, in dem Ihre Mutter lebt. Ihr Corona-Test ist positiv und sie hat mir gegenüber geäußert, sie wolle keine lebenserhaltenden Maßnahmen. Deckt sich das mit Ihrer Wahrnehmung? Halten Sie sie für ausreichend klar?“ Ich bejahe beides, meine Mutter hat, nachdem sie ein Pflegefall wurde, immer wieder den Wunsch geäußert hat, sterben zu dürfen. Aber! So etwas entscheidet man doch nicht am Telefon! Möchte ich sagen, komme aber nicht mehr dazu, da die Leitung unterbrochen wurde. Ein Rückruf ist nicht möglich, die Rufnummer war unterdrückt.

Erst langsam wird mir bewusst, was seine und auch meine Worte bedeuten können. Habe ich da jetzt innerhalb von Sekunden eine Entscheidung über Leben oder Tod getroffen? Vielleicht stirbt meine Mutter, ohne dass ich sie noch mal sehen kann? Ich habe ihr versprochen, dass ich bis zum Schluss bei ihr bleibe. Eine Mail an die Heimleitung mit der Frage: „Was soll ich denn jetzt tun? Wie gehe ich mit einer solchen Situation um? Ich habe Angst, dass meine Mutter stirbt, ohne dass ich sie noch mal sehen kann“ bleibt unbeantwortet.

Besuch ist in den Pflegeheimen nicht mehr gestattet. Ich nehme nach zahlreichen erfolglosen Anrufen per Mail Kontakt mit dem Pflegebereich meiner Mutter auf. Die meisten meiner Nachrichten laufen zunächst ins Leere. Tagelanges Warten. Irgendwann erreiche ich jemanden, der mir berichtet, dass meine Mutter wohlauf ist und keinerlei Symptome entwickelt hat.

Gemeinsam mit zwei ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen versuche ich in der Zeit des sogenannten „Lockdowns“, ihr das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein und vergessen ist. Durch Briefe und an der Pforte abgegebene Blumen. Ich suche in meinen Briefen nach Worten, um ihr zu erklären, was es mit diesem Virus auf sich hat. Wenngleich ich das zum damaligen Zeitpunkt – wie vermutlich viele andere Menschen auch – gar nicht so recht weiß. Manchmal gelingt es meiner Mutter, abends jemanden vom Pflegepersonal auf sich aufmerksam zu machen und darum zu bitten, dass man mich anruft. Bei diesen Telefonaten weint sie und kann trotz meiner Briefe nicht verstehen, warum ich nicht kommen darf.

Frühsommer 2020

Im Frühsommer 2020 wird Besuch wieder zugelassen und ich kann einmal pro Woche sogenannte „Fenster-Termine“ für eine halbe Stunde wahrnehmen. 30 Minuten pro Woche nach endlos langen Wochen der Isolation! Die Heimbewohner werden in einem extra dafür vorgesehenen Raum an ein Fenster geschoben, der Besucher steht draußen. Niemals werde ich den Moment vergessen, als meine Mutter mit einer Maske im Gesicht und merklich abgemagert im Rollstuhl auf der anderen Seite des Fensters erscheint und hemmungslos beginnt zu schluchzen, als sie mich sieht. Ich glaube, erst in diesem einen Moment wurde ihr bewusst, wie groß ihre Einsamkeit war.

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Sommer 2020

Aufgrund der sommerlichen Temperaturen ist es jetzt möglich, meine Mutter im Garten des Heims zu treffen. Wir sitzen einander gegenüber, zunächst noch mit Maske, später ohne. Das Personal achtet darauf, dass kein Körperkontakt stattfindet. Wir finden dennoch Möglichkeiten in unbeobachteten Momenten, so dass ich zumindest ihre Hand halten kann. Was soll schon passieren? Man hat mich nicht „abführen“ lassen.

Der Tief- und Wendepunkt – Weihnachten 2020

Am ersten Weihnachtsfeiertag 2021 stehe ich mit dem Weihnachtsgeschenk für meine Mutter in klirrender Kälte draußen am Fenster und warte darauf, dass sie ans Fenster geschoben wird. Da ich keinen Test machen möchte, ist das unsere einzige Möglichkeit, Weihnachten miteinander zu verbringen. Ich gebe ihr mein Geschenk, meine Mutter nimmt es und hält gleichzeitig meine Hand fest und beginnt zu weinen. Ich versuche, mich über die Fensterbank zu ihr rüberzubeugen, um sie zu umarmen und zu trösten. Eine Pflegerin, die vom Flur aus ins Zimmer schaut, möchte das unterbinden. Ich argumentiere ausführlich, lasse ein „Verbot“ von Berührung nicht zu und halte weiter die Hand meiner Mutter. Ich kann spüren, dass die Pflegerin mir innerlich recht gibt, sich aber nicht traut, mir das zu sagen. Dennoch! Sie verlässt den Raum und lässt uns gewähren.

Winter 2020

Der „Heilsbringer“ Impfung ist da und als erstes sollen Menschen in Pflegeheimen geimpft werden. Meine Mutter war immer ein Mensch, der ohne Medikamente ausgekommen ist, ihr Vertrauen Ärzten und Pharmazie gegenüber war nie groß. Ich frage sie bei einem meiner „Fensterbesuche“, ob sie geimpft werden möchte. Sie verneint vehement. Da ich ihre Betreuungsbevollmächtigte bin, schreibe ich eine Mail an die Heimleitung und bitte explizit darum, dass meine Mutter nicht geimpft wird. Die Antwort stimmt mich zuversichtlich. „Wir werden diesen Wunsch selbstverständlich respektieren.“ Ob meine Mutter tatsächlich nicht geimpft wurde, weiß ich nicht. Angehörige haben nach wie vor keinen Zutritt zum Heim. Aber in jenem dunklen Winter ist ein, wenn auch nur schriftlicher Ausdruck von Respekt Labsal und eine absolute Ausnahme.

Bei meinem nächsten Besuch hat die Impfaktion mit Unterstützung der Bundeswehr begonnen und ich frage mich, was es für die Menschen, von denen die meisten einen Krieg erlebt haben, bedeuten muss, wenn plötzlich junge Männer in Bundeswehruniform auf den Fluren unterwegs sind.

Bei jedem Abschied in jener Zeit nach Ablauf der dreißig Minuten zittert meine Mutter und fragt mich ängstlich, ob es auch sicher sei, dass ich wiederkomme. „Sie schließen uns doch nicht wieder ein, oder?“ Worte, die sich für immer in mein Gedächtnis gegraben haben.

Januar 2021

Durch die so unbeschreiblich trostlose Weihnachtsbegegnung und die immer weiter wachsende Unsicherheit, was die Bundesregierung als Nächstes beschließen wird, reift in mir die Gewissheit, dass ich meine Mutter zu mir nach Hause holen werde. Einen weiteren Lockdown und all diese unmenschlichen Maßnahmen werde ich ihr nicht zumuten. Ich möchte nicht geimpft werden und ahne, dass ich dadurch den Zugang zum Heim verspiele. Ich lote alle Möglichkeiten aus und erzähle meiner Mutter bei meinem nächsten Besuch, dass ich sie zu mir nach Hause holen werde. Ihre Freude ist buchstäblich unbeschreiblich und zum ersten Mal seit einem Jahr ist mir leicht ums Herz, als ich das Heim verlasse und in den Bus steige.

Ich kann spüren, dass da nicht mehr viel Lebensenergie ist bei meiner Mutter, und möchte, dass sie auf der letzten Etappe ihres Lebensweges nicht der Willkür des Staates ausgeliefert ist. Wie das alles gehen wird, weiß ich noch nicht genau. Aber alles wird besser sein als das, was ist.

Februar 2021

Einen ganzen Monat lang freuen wir uns bei unseren wöchentlichen Fenster-Terminen gemeinsam über ihren Wechsel in meine Wohnung. Meine Mutter wirkt gelöst, beinahe glücklich.

März 2021

Anfang März 2021 erreicht mich ein Anruf aus dem Heim – ein Herzinfarkt. Auf einer digitalen Leuchttafel steht über dem Eingang des Krankenhauses, in das sie gefahren wurde, prominent in leuchtend roten Lettern das Wort „TRIAGE“. Allein! Auf der Station ist davon nichts zu spüren. Zwei Ärzte bitten mich in einen Besprechungsraum. Ich schildere den Wunsch meiner Mutter, sterben zu dürfen, das Gespräch ist vertrauensvoll und gemeinsam beschließen wir, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen in Form einer OP eingeleitet werden. Wir versuchen – leider erfolglos – einen Palliativpflegedienst in meinem Wohnbezirk zu finden, der ab sofort übernehmen könnte. Ich möchte meine Mutter sehen. „Das geht nicht wegen Corona“, so heißt es zunächst. Ich insistiere mit der Begründung, dass das vielleicht meine letzte Begegnung mit ihr ist, bei der sie wach und ohne Betäubungsmittel ist. Einer der beiden Ärzte begleitet mich sodann in ein Dreibett-Zimmer, in dem sie alleine liegt (!) und bleibt neben mir stehen, um sicherzustellen, dass ich meine Mutter nicht berühre. Ich bitte ihn, das Zimmer zu verlassen, um ein Minimum an Privatsphäre zu ermöglichen. Und so kann ich meine Mutter in diesem letzten „wachen“ Moment umarmen und ihr versichern, dass ich bei ihr bleibe. Dass sie keine Angst haben muss.

Am Abend schreibe ich eine Mail an die Heimleitung: Ich möchte, falls meine Mutter für ihre letzten Lebenstage zwangsläufig zurück ins Heim muss, weil wir keinen Palliativpflegedienst finden, ungetestet und rund um die Uhr bei ihr sein können. Und wieder mache die Erfahrung, dass mein Wunsch respektiert wird.

Meine Mutter braucht fünf Tage und Nächte, um zu sterben. Ich kann rund um die Uhr bei ihr sein. Gemeinsam mit dem Pflegepersonal, das ich als liebevoll und kooperativ empfinde, darf ich sie begleiten. Mit einem der Nachtpfleger freunde ich mich an. Bei einer Zigarette auf der Terrasse morgens um fünf berichtet er mir von all den Logikbrüchen im Umgang mit dem Virus. Er erzählt mir, wie wenig Menschen an Corona verstorben sind und wie viele dahingegen mit der plötzlich eintretenden Einsamkeit nicht mehr leben konnten, von einem Tag auf den nächsten das Essen und Trinken eingestellt haben und verstorben sind.

Auf dem Totenschein meiner Mutter steht „verstorben an Covid19“.

Ich möchte explizit niemanden im Pflegeheim oder im Krankenhaus einen Vorwurf machen. Mir sind wie beschrieben sehr beherzte Menschen begegnet, die Argumenten gegenüber aufgeschlossen waren oder mich einfach in bestimmten Momenten haben gewähren lassen. Aber eine Politik, die all diese Grausamkeiten verantwortet, sich von der Wirklichkeit der pflegebedürftigen Menschen so sehr entfernt hat und sich dabei traut, vom Schutz „vulnerabler“ Gruppen zu sprechen, hat für mich unwiderruflich jegliches Vertrauen verspielt.

Ich bin unfassbar dankbar, dass meine Mutter die Fortsetzung dieses Irrsinns nicht mehr erleben muss und hoffe, dass die Pflegeheime und die betreuenden Menschen in Zukunft aufstehen gegen eine erneute Drangsalierung derjenigen, für die der Besuch und das Lächeln eines Gegenübers lebenswichtig sind. Wann, wenn nicht jetzt? Nur wenn wir alle nicht mehr mitmachen, können wir diese unmenschliche Politik beenden.

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