Unsere Leserin Claudia Reich warnt vor der Gleichsetzung von Fluchtgeschichten.
Mich hat heute ein Artikel der Tagesschau sehr aufgeregt.
Hier ist zu lesen: „3,5 Millionen Flüchtlinge... so viele, wie seit den 1950er Jahren nicht mehr..."
Die Zahlen der Flüchtlinge seien seit den 50ern nicht so hoch gewesen...? Ja, welche Flüchtlinge waren denn in den 40ern und 50ern gekommen? Schlesier, Preußen, Sudetendeutsche...
Ich habe das Glück, eine der Nachgeborenen zu sein, aber ich kenne die furchtbaren Schicksale und Erzählungen der Flüchtlinge von damals. Mein Vater kam 1945 als Zweijähriger von Schlesien nach Bayern. Und ja, sie wurden auch als „Flüchtlinge“ bezeichnet.
Die Familie meines Vaters lebte 1945 einfach nur auf der falschen Seite der neuen Grenze und sie wollten Deutsche bleiben und nicht Polen werden. Wieviel Angst die Erwachsenen damals vor der Zukunft hatten, wie sehr sie die vertraute Heimat und Familie vermissten, mag ich mir nicht vorstellen.
Die Familie wurde in alle Winde verstreut, ins Ruhrgebiet, NRW, nach Hessen, nach Niedersachsen, nach Bayern. Manche blieben zunächst noch in Polen und kamen erst viel später als Spätaussiedler oder heirateten in polnische Familien ein und blieben. Ich erinnere mich an einige Treffen in den 1980ern, als meine Großmutter ihre Schwestern wiedertraf.
Großmutter versuchte, nach dem Krieg die drei Söhne durchzubringen, und arbeitete Tag und Nacht für eine sehr bescheidene Unterkunft und etwas Essen. Mein Großvater war an Tuberkulose erkrankt und starb ausgemergelt von Krankheit und Hunger drei Jahre nach Kriegsende. Die älteren Brüder meines Vaters erzählten mir vom elendigen Hunger ihrer Jugend.
Der Tagesschau-Artikel ist ein Hohn auf die Familien, die damals alles verloren und nach Westen flüchteten. Die Heimat, materiellen Besitz, Haus und Hof zurückließen – und in der Fremde ganz neu anfangen mussten – ohne jeglichen Kontakt zum Rest der Familie oder alten Freunden. Viele mit traurigen Verlusten engster Familienangehöriger.
Ja, der Verlust des materiellen Besitzes trifft natürlich auch auf syrische oder ukrainische Flüchtlinge zu.
Aber meine Großeltern waren Deutsche, die in deutsche Gebiete geflüchtet sind. Sie waren nicht illegal gekommen. Sie wurden aber als Flüchtlinge oft gedemütigt, erfuhren Ausgrenzung. „Saupreuß“, wurde mein Vater genannt (obwohl er Schlesier war).
Sie hatten es sehr schwer und ich empfand besagten Tagesschau-Textabschnitt als Verhöhnung ihrer Lebensgeschichte, ohne jegliches Bewusstsein der geschichtlichen Hintergründe. Ich bin sicher, dass meine Großeltern sich erneut gedemütigt fühlen würden.
Die Behandlung der Flüchtlinge aus den Ostgebieten war sehr oft entwürdigend. Habenichtse. Saupreußen. Bettler.
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Meine Mutter erzählt noch heute, dass im Dorf eine kinderreiche, adlige Flüchtlingsfamilie lebte. Sie hatten keinen Strom, kein fließendes Wasser, als alle anderen das schon hatten. Die Mutter der Familie wusch die Wäsche im Simssee. „Baron von Habenichts" haben die Bauern diese Familie spöttisch genannt. Die Familie hatte ein großes Gut verloren und sie lebte sehr, sehr ärmlich. Die Kinder der Familie sind später übrigens, wie meine Mutter erzählt, sehr erfolgreich geworden, Richter und Ärzte.
Ich bin zu einer Zeit aufgewachsen, in der viele Ältere noch furchtbare Geschichten erzählten. Geschichten über erfrorene und verhungerte Geschwisterkinder, über Kinder aus Vergewaltigungen durch russische Soldaten. Über auf der Flucht verlorene Kinder. Geschichten über Väter und Brüder, die im Krieg gefallen waren. Trauer über auf der Flucht verlorene letzte Andenken. Kriegsversehrte mit nur einem Arm oder einem Bein.
Von einem Bekannten kenne ich Geschichten, dass er als Kind Kleidung getragen hat, die von seiner Mutter aus Mehlsäcken per Hand genäht wurde. Dass er keine Schuhe hatte und sich Lumpen um die Füße wickelte. Auch sie hatten nichts nach der Flucht. Soviel Leid, soviel Hunger, soviel Elend und Demütigungen als Fremde.
Ja, ich sehe natürlich die Parallelen. Aber ich bitte darum, dass man anerkennt, dass man die Fluchtgeschichten nicht einfach so gleichsetzen kann.
2015 war ich selbst unglaublich aufgewühlt durch die große Migrationswelle aus Syrien. Ich habe Geld und Sachleistungen gespendet und syrische Kinder aus der Nachbarschaft einige Male mit zum Indoorspielplatz genommen. Heute sehe ich einiges deutlich kritischer. 2022 kamen die Ukrainer. Nun will man wehrpflichtige Männer wieder zurückschicken? Entsetzlich.
Ich glaube auch, dass Familien nicht grundlos fliehen. Aber die Fluchtgeschichten der deutschen Nachkriegsgeschichte sollten nicht in einem Nebensatz mit der heutigen Flüchtlingspolitik gleichgesetzt werden.
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Kommentar von Marco B.
Vielen Dank für Ihren ergreifenden und auch aufschlußreichen Artikel, Frau Reich! Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, doch ich erlebe seit Jahrzehnten die ich mich mit der Thematik befasse vor allem, dass vor allem aus ehem. Ostgebieten hier in Zentraldeutschland seßhaft gewordene Personen in besonderer Weise gegen Migranten sind. Es mag am Bundesland, an der Region liegen. Sehr vielen Leuten aus den ehm. ostdeutschen Gebieten erging es hier noch schlechter wie zuvor. Doch eine Menge dieser Leute bekam auch sehr sehr viel Geld über sog. "Lastenausgleich". Wir wollen nicht vergessen, dass z. B. Sudetendeutsche lange Zeit ein Dreieinhalbfaches der Größe der CSSR als "Landverlust" proklamieren wollten. Erst vor einigen Jahren wurde der Satzungszusatz "Wiedergewinnung der Heimat" gestrichen. So etwas kommt im europäischen Ausland nicht gut an.
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Kommentar von Chris Lock
Was mich immer wieder sehr verärgert, ist die Gleichsetzung von Vertriebenen und Flüchtlingen aus deutschen Gebieten mit Migranten aus aller Welt.
Es besteht für mich ein fundamentaler Unterschied zwischen der geschuldeten Solidarität innerhalb einer Staatsgemeinschaft gegenüber den Problemen in anderen Teilen der Welt. Für Links-Grün existiert diese Unterscheidung offensichtlich nur noch bei den Pflichten: Steuern abgeben, Sozialkassen bedienen, Gesetze einhalten. Bei den Ansprüchen aber spielen Begriffe wie Volk, Staatsgemeinschaft, gewachsene Strukturen in Form von Familien, Nachbarschaften, Vereinen usw. plötzlich keine Rolle mehr, wir haben stattdessen die ganze Welt zu retten.
Wenn im Fernsehen in Reden Begriffe wie "Solidarität" und "Menschlichkeit" fallen, schalte ich ab. Da geht es immer um andere, nicht mehr um Deutsche.
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Kommentar von Petra Wilhelmi
@Ostdeutsche: Danke für Ihre Wort bezüglich der DDR-Bürger. Wir waren von heute auf morgen nicht mehr die lieben Schwestern und Brüder, sondern die ungeliebten und sind es bis heute bei vielen aus dem alten Bundesgebiet. Mehr will ich dazu nicht sagen, obwohl ich Seiten füllen könnte.
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Kommentar von Kurt Wührer
Sehr geehrte Fr. Reich,
selber jahrgang 49, also ziemlich nah dran an dem was sie beschrieben haben und natürlich empören Sie sich zurecht. Jene, die heute an den Schaltstellen der Macht sitzen mögen dies wissen, aber es wurde gelehrt, daß die "Entdeutschung" der ehemaligen Ostgebiete nach 1945 zurecht erfolgte. Würde man ihren Brief zufolge weiter zurück in die Vergangenheit gehen, könnte bei vielen das Weltbild vom "braven Nachbarn und bösen Deutschen" plötzlich eine Wendung nehmen und dieses muß unbedingt verhindert werden.
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Kommentar von R
@ Ostdeutsche
Bei Ihrer Geschichte über Ihren Vater, der sich eine Mütze für den Winter wünschte, musste ich an eine Geschichte meines Onkels denken.
Es war sein 10. Geburtstag und als Geburtstagsessen gab es einen Topf Kartoffeln. (Keinen Geburtstagkuchen. Oder Fleisch. Nein, das war undenkbar.) Aber Kartoffeln waren schon so ein ersehntes und besonderes Essen für die Familie.
Mein Großvater hat wohl, wie immer, kaum etwas gegessen, damit die Kinder genug hatten.
Aber am Ende reichte es dennoch nicht und mein Onkel weinte bitter: "Nicht einmal an meinem Geburtstag kann ich mich satt essen!"
Diese Geschichte ist mir stark in Erinnerung geblieben. So ein großes Elend muss es gewesen sein. Eine Familie auf allerengsten Raum zusammengepfercht. Der Raum nicht beheizbar, feucht. Eltern, die keine Zeit für die Kinder hatten, weil sie für das Wenige von früh bis spät auf einem Bauernhof schufteten. Als Fremde. Als Flüchtlinge. Von vielen Einheimischen verachtet.
Obwohl alles so hart war, sprachen alle aus der Familie meines Vaters immer nur voller Dankbarkeit und Wärme vom damaligen Dienstherren und blieben dessen Familie stark verbunden. Denn trotz des erlebten Elends wussten sie, dass sie mehr Glück gehabt hatten, als andere Flüchtlingsfamilien.
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Kommentar von Ostdeutsche
Diesem Text möchte ich mich anschließen. Wie mein Pseudonym schon nahelegt, stammt meine Familie aus dem deutschen Osten, nämlich Ostpreußen. Die Gleichsetzung der heutigen „Flüchtlinge“ mit den damaligen empört mich zutiefst. Wie Sie schreiben, sind die Deutschen innerhalb ihres eigenen Landes geflüchtet. Und die sogenannten „Volksdeutschen“ wurden eben wegen ihres Deutschtums vertrieben; etwas, das es nach heutiger Lesart gar nicht gibt, weswegen Martin Wagener keinen Zutritt zu seiner Arbeitsstelle mehr erhält. Meine Familie hat gehungert und gefroren, auch nach der Ankunft im Westen. Ich selbst habe diese Zeiten nicht miterlebt, weiß aber, daß mein Vater nach Entlassung aus der englischen Kriegsgefangenschaft in Niedersachsen bei einem Bauern gearbeitet hat, um zu überleben. (Das Elternhaus in Ostpreußen war ja nicht mehr zu erreichen.) Geschlafen hat er in der Scheune. In einem Brief steht, sein sehnlichster Wunsch sei eine warme Mütze für den Winter, womit sich die heutigen „Flüchtlinge“ wohl kaum zufrieden gäben. Von naseweisen Neudeutschen wurden die DDR-Bewohner auch belehrt, daß sie ja auch „Flüchtlinge“ seien. Daß die Deutschen aus der DDR aber ihr ganzes Land „mitgebracht“ haben, hat man unter den Tisch fallen lassen.
Vor dem Hintergrund meiner Familiengeschichte empfinde ich es als groteske Unverschämtheit, daß Polen es wagt, von Deutschland auch noch Reparationen zu verlangen. Ich leugne keineswegs das Unrecht und die Zerstörungen, die Polen und seine Bewohner erleiden mußten, aber kaltschnäuzig darüber hinwegzugehen, daß man ein Viertel (oder ist es ein Drittel) deutschen Staatsgebietes von Stalin geschenkt bekam, ist so dreist, daß ich es kaum in Worte fassen kann.
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Kommentar von Anonymus
Traurig, wieviel Verachtung wir offenbar für unser eigenes Land, unsere eigene Geschichte und unsere eigenen Vorfahren empfinden.
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Kommentar von Claudia Reich
@Petra Wilhelmi
Das stimmt. Ich bin auch so schockiert darüber, dass man ukrainische Männer aus dem sicheren Deutschland an die ukrainisch-russische Front schicken will.
Beruflich habe ich mit einigen ukrainischen Flüchtlingskindern Kontakt gehabt. Wenn ich die Übersetzungsapp auf ukrainisch stellte, haben sie die auf russisch umgestellt. Viele Familien kamen ja aus genau diesen Gebieten, in die die Russen einmarschiert sind. Und tatsächlich fühlen sich diese Kinder als Russen und nicht als Ukrainer. Ich habe auch Konflikte unter den ukrainischen Kindern erlebt - die, deren Familien ihre russischen Wurzeln betonten und die aus Familien, die die Russen hassten. Kinder sind da unverblümt und man merkt deutlich, welchem Lager die Eltern angehörig sind.
Die Dinge sind eben doch meist komplexer und komplizierter, als man uns Glauben machen möchte.
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Kommentar von Petra Wilhelmi
Danke Frau Reich, ihre Geschichte hat mich sehr berührt. Ich kenne aus meiner Kindheit ähnliche Geschichten von Menschen, die aus den deutschen Ostgebieten fliehen mussten. Ich kenne auch Geschichten, wie man Deutsche z.B. in Böhmen nach dem Krieg behandelt hat. Es war einfach schrecklich.
Die Geschichte Ihrer Familie steht für das Leid wirklicher Flüchtlinge. Die meisten Flüchtlinge aus Syrien waren in dem Sinne keine Flüchtlinge. Sie sind einfach nach Deutschland wegen des Geldes "geflohen". Es gab nicht überall in Syrien Krieg. Vielfach haben über diese Schiene IS-Terroristen den Weg zu uns gefunden und leben immer noch unter uns. Außerdem könnten ALLE Syrer jetzt wieder nach Hause gehen und ihr Land mit aufbauen. Nur hier ist es halt bequemer und lukrativer. Ich durfte diese sogenannten Flüchtlinge aus Nahost in meinem unmittelbaren Wohngebiet "erleben", wie sie unsere Kinderspielplätze und unsere Grünanlagen in Dreckplätze verwandelt haben. Sie hätten keine Sachspenden geben müssen. Die haben alles für umsonst bekommen und das Allerneueste dazu. Deren Kinderschar hatten die neuesten Fahrräder, was viele Deutsche ihrer Kindern nicht bieten konnten, weil bei uns auch viele wohnen, die damals H4 erhielten, die nach der Wende niemals wieder einen Fuß auf den Boden bekommen haben. Solche Menschen gab es sehr viel in meiner Wohngegend.
Ein bisschen mehr Verständnis habe ich bei den Ukrainern. Ich kann schon verstehen, dass sie sich nicht von einen Selenski verheizen lassen wollen. Nur würde ich von denen mehr Dankbarkeit erwarten, dass wir Deutschen ihnen das Leben gerettet haben und sie mit unserem Geld gut über die Runden kommen oder besser als es in den Gebieten der Ukraine war, die überhaupt nicht im Krieg sind.
Ihre Fluchtgeschichte ist eine wahre Flucht, die vielmals mit den Tod der Flüchtenden geendet hat.