Vom elendigen Hunger der Jugend

Claudia Reich: Meine Großeltern waren Deutsche, die in deutsche Gebiete geflüchtet sind

von Alexander Wallasch (Kommentare: 9)

Die Behandlung der Flüchtlinge aus den Ostgebieten war sehr oft entwürdigend.© Quelle: • Datei:Bundesarchiv Bild 183-2003-0703-500, Rückführung deutscher Kinder aus Polen.jpg, Ausschnitt: Wallasch

„Ich bin zu einer Zeit aufgewachsen, in der viele Ältere noch furchtbare Geschichten erzählten. Geschichten über erfrorene und verhungerte Geschwisterkinder, über Kinder aus Vergewaltigungen durch russische Soldaten.“

Unsere Leserin Claudia Reich warnt vor der Gleichsetzung von Fluchtgeschichten.

Mich hat heute ein Artikel der Tagesschau sehr aufgeregt.

Hier ist zu lesen: „3,5 Millionen Flüchtlinge... so viele, wie seit den 1950er Jahren nicht mehr..."

Die Zahlen der Flüchtlinge seien seit den 50ern nicht so hoch gewesen...? Ja, welche Flüchtlinge waren denn in den 40ern und 50ern gekommen? Schlesier, Preußen, Sudetendeutsche...

Ich habe das Glück, eine der Nachgeborenen zu sein, aber ich kenne die furchtbaren Schicksale und Erzählungen der Flüchtlinge von damals. Mein Vater kam 1945 als Zweijähriger von Schlesien nach Bayern. Und ja, sie wurden auch als „Flüchtlinge“ bezeichnet.

Die Familie meines Vaters lebte 1945 einfach nur auf der falschen Seite der neuen Grenze und sie wollten Deutsche bleiben und nicht Polen werden. Wieviel Angst die Erwachsenen damals vor der Zukunft hatten, wie sehr sie die vertraute Heimat und Familie vermissten, mag ich mir nicht vorstellen.

Die Familie wurde in alle Winde verstreut, ins Ruhrgebiet, NRW, nach Hessen, nach Niedersachsen, nach Bayern. Manche blieben zunächst noch in Polen und kamen erst viel später als Spätaussiedler oder heirateten in polnische Familien ein und blieben. Ich erinnere mich an einige Treffen in den 1980ern, als meine Großmutter ihre Schwestern wiedertraf.

Großmutter versuchte, nach dem Krieg die drei Söhne durchzubringen, und arbeitete Tag und Nacht für eine sehr bescheidene Unterkunft und etwas Essen. Mein Großvater war an Tuberkulose erkrankt und starb ausgemergelt von Krankheit und Hunger drei Jahre nach Kriegsende. Die älteren Brüder meines Vaters erzählten mir vom elendigen Hunger ihrer Jugend.

Der Tagesschau-Artikel ist ein Hohn auf die Familien, die damals alles verloren und nach Westen flüchteten. Die Heimat, materiellen Besitz, Haus und Hof zurückließen – und in der Fremde ganz neu anfangen mussten – ohne jeglichen Kontakt zum Rest der Familie oder alten Freunden. Viele mit traurigen Verlusten engster Familienangehöriger.

Ja, der Verlust des materiellen Besitzes trifft natürlich auch auf syrische oder ukrainische Flüchtlinge zu.

Aber meine Großeltern waren Deutsche, die in deutsche Gebiete geflüchtet sind. Sie waren nicht illegal gekommen. Sie wurden aber als Flüchtlinge oft gedemütigt, erfuhren Ausgrenzung. „Saupreuß“, wurde mein Vater genannt (obwohl er Schlesier war).

Sie hatten es sehr schwer und ich empfand besagten Tagesschau-Textabschnitt als Verhöhnung ihrer Lebensgeschichte, ohne jegliches Bewusstsein der geschichtlichen Hintergründe. Ich bin sicher, dass meine Großeltern sich erneut gedemütigt fühlen würden.

Die Behandlung der Flüchtlinge aus den Ostgebieten war sehr oft entwürdigend. Habenichtse. Saupreußen. Bettler.

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Meine Mutter erzählt noch heute, dass im Dorf eine kinderreiche, adlige Flüchtlingsfamilie lebte. Sie hatten keinen Strom, kein fließendes Wasser, als alle anderen das schon hatten. Die Mutter der Familie wusch die Wäsche im Simssee. „Baron von Habenichts" haben die Bauern diese Familie spöttisch genannt. Die Familie hatte ein großes Gut verloren und sie lebte sehr, sehr ärmlich. Die Kinder der Familie sind später übrigens, wie meine Mutter erzählt, sehr erfolgreich geworden, Richter und Ärzte.

Ich bin zu einer Zeit aufgewachsen, in der viele Ältere noch furchtbare Geschichten erzählten. Geschichten über erfrorene und verhungerte Geschwisterkinder, über Kinder aus Vergewaltigungen durch russische Soldaten. Über auf der Flucht verlorene Kinder. Geschichten über Väter und Brüder, die im Krieg gefallen waren. Trauer über auf der Flucht verlorene letzte Andenken. Kriegsversehrte mit nur einem Arm oder einem Bein.

Von einem Bekannten kenne ich Geschichten, dass er als Kind Kleidung getragen hat, die von seiner Mutter aus Mehlsäcken per Hand genäht wurde. Dass er keine Schuhe hatte und sich Lumpen um die Füße wickelte. Auch sie hatten nichts nach der Flucht. Soviel Leid, soviel Hunger, soviel Elend und Demütigungen als Fremde.

Ja, ich sehe natürlich die Parallelen. Aber ich bitte darum, dass man anerkennt, dass man die Fluchtgeschichten nicht einfach so gleichsetzen kann.

2015 war ich selbst unglaublich aufgewühlt durch die große Migrationswelle aus Syrien. Ich habe Geld und Sachleistungen gespendet und syrische Kinder aus der Nachbarschaft einige Male mit zum Indoorspielplatz genommen. Heute sehe ich einiges deutlich kritischer. 2022 kamen die Ukrainer. Nun will man wehrpflichtige Männer wieder zurückschicken? Entsetzlich.

Ich glaube auch, dass Familien nicht grundlos fliehen. Aber die Fluchtgeschichten der deutschen Nachkriegsgeschichte sollten nicht in einem Nebensatz mit der heutigen Flüchtlingspolitik gleichgesetzt werden.

Hier noch ein Artikel zu den Flüchtlingen der 50er Jahre.

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