Europa kann aufatmen: Sie sind sogar zu schwach, zu uns zu kommen

Afghanistan verhungert – Millionen weitere Notrationen werden gestrichen

von Alexander Wallasch (Kommentare: 14)

Der Anteil der wirklich armen Afghanen ist signifikant hoch, die Lage zwischenzeitlich so schlimm, dass viele Afghanen in der Not ihr Hab und Gut auf den Märkten verkaufen, sogar bis hin zum Brautkleid© Quelle: Pixabay /Janeb_13

Das Drama am Hindukusch geht in die nächste Runde: Jetzt müssen Millionen Notrationen für Frauen und Kinder gestrichen werden. Aber noch hofft das UN-Ernährungsprogramm auf ein Wunder.

Am Samstag haben wir hier davon berichtet, dass sich die Lage in Afghanistan aktuell rasant zuspitzt, weil die Ernährungsprogramme der UN ihre Hilfen halbiert oder ganz eingestellt haben. Jetzt hat alexander-wallasch.de beim „UN World Food Programme“ (WFP) nachgefragt, wie ernst die Lage tatsächlich sei. Wir fragten:

„WFP hat in den letzten Wochen berichtet, dass die Finanzierung der Food-Programme in Afghanistan nicht mehr in vollem Umfang gewährleistet werden könne. Die Versorgung von Millionen Menschen müsse eingestellt oder halbiert werden. Wie sieht hier die aktuelle Lage aus, hat sich etwas verbessert?“

Ein Sprecher des WFP antwortet wenig später:

„Rationskürzungen aufgrund von Finanzierungsengpässen sind in vielen Operationen weltweit ein Problem – nicht weil Geber weniger großzügig sind, sondern weil die Hilfe mit steil ansteigender Not nicht Schritt halten kann. In Afghanistan mussten wir acht Millionen Menschen aus unseren Programmen nehmen, weil die Finanzierung nicht mehr gewährleistet ist. Zum Vergleich: 2022 hat WFP insgesamt 23 Millionen Menschen mit Hilfe erreicht. Von Januar bis März 2023 waren es 14 Millionen. Für die kommenden sechs Monate fehlen WFP 918 Mio. US$.“

In einem sich anschließenden ausführlichen Informationsgespräch besprechen wir weitere Details. Zwar habe man noch Hoffnung, dass noch etwas mehr Geld zusammenkomme, aber es erscheine unwahrscheinlich, alle Rationen wieder aufstocken zu können.

Wirklich eine eingefahrene Situation. Deutschland zahle bereits weit über eine Milliarde Euro in den Topf dieses UN-Ernährungsprogramms, aber wäre es hier nicht sinnvoll, zur Vermeidung einer erneuten Massenflucht Richtung Deutschland in den sauren Apfel zu beißen und noch mehr Geld in die Hand zu nehmen?

Die Ereignisse von 2015 werden hier zum Damoklesschwert. Die Massenzuwanderung nahm ihren Anfang nicht erst dort, wo die Bundeskanzlerin sich weigerte, die Tore zu schließen, sondern als die WFP-Rationen der Syrer in den Flüchtlingslagern im Libanon und in der Türkei radikal reduziert wurden.

Unser Gesprächspartner beim WFP weist darauf hin, dass er nicht glaube, dass diese Sorge begründet sei. Die Menschen, die jetzt in Afghanistan um ihre Rationen fürchten, seien die Ärmsten der Armen, sie können sich unter keinen Umständen auf die Reise machen.

Weiterlesen nach der Werbung >>>

Ihre Unterstützung zählt

Mit PayPal

Wir erfahren weiter, dass Afghanistan durch die Machtübernahme der Taliban wirtschaftlich noch weiter abgestürzt ist. Es gebe heute Ernährungsengpässe in neunzig Prozent aller Haushalte des Landes. Der Anteil der wirklich armen Menschen sei heute signifikant hoch und die Lage zwischenzeitlich so schlimm, dass viele Afghanen in der Not ihr Hab und Gut auf den Märkten verkauften, sogar bis hin zum Brautkleid.

Für immer mehr Hungernde sei WFP die Lebensader geworden, ein wirklich letzter Rettungsanker zum Überleben.

Auf die Frage, ob diese UN-Food-Programme am Ende nicht auch Eigenbemühungen und eine Unabhängigkeit verhindern – wir entschuldigen uns fast für die zynische Frage – erfahren wir, dass es in Afghanistan gar nicht so einfach sei, denn die Ackerflächen, die es im Land gebe, seien auf wenige grüne Gegenden beschränkt.

Zudem habe es auch noch mehrere Dürren im Lauf der letzten Jahre gegeben. Durch diese Dürren habe es auch weniger geschneit im Winter, was bedeutet, dass auf den Bergen weniger Schnee liegt und im Frühjahr dann das Wasser nicht so fließt, wie es sollte, um die Ebenen zu bewässern, und deswegen seien wichtige Ernten ausgefallen.

Mit dramatischen Folgen: Viele Menschen verloren ihre Lebensgrundlage auf dem Land. Die Äcker seien zu Staub zerfallen und das Vieh gestorben. Sehr schnell seien diese Menschen dann in humanitäre Hilfe abgerutscht. WFP unterstütze heute einen relevanten Teil der afghanischen Bevölkerung.

Mit den Taliban könne man sich auch nur deshalb irgendwie arrangieren, weil man schon so lange im Land sei und von Krise zu Krise geholfen habe. Da gebe es schon seit Jahren Gesprächspartner. Natürlich müsse man auch mit den Taliban reden und mit den Provinzgouverneuren.

Man kann die große Besorgnis beim Gesprächspartner des WFP intensiv heraushören: Die Organisation beobachtet aktuell, dass der Anstieg der Notlagen so stark voranschreite, dass die Finanzierung damit kaum mehr Schritt halten kann. Die Schere gehe heute viel weiter auf als noch vor Jahren. Und das trotz Rekordsummen auch aus Deutschland.

Nach dem Regenbogenkreis-Symbol neben dem Logo gefragt – das ja für die Agenda 2030 steht – erfahren wir, dass es ein Ziel der „Agenda 2030“ sei, den Hunger bis 2030 zu besiegen.

Davon sei man aber leider weit entfernt. Jetzt ist Halbzeit, bis 2015 sei der Hunger tatsächlich stetig gesunken und viele Konflikte dazugekommen, samt den Folgen von Corona. Das alles habe dann wieder zu diesem eklatanten Anstieg der Notlagen geführt.

Was bleibt nach diesem so wenig Hoffnung vermittelndem Gespräch? Fakt ist, dass eine Versorgung mit weniger als dem Nötigsten jetzt für Millionen Menschen auch noch wegfällt. Fakt ist auch, dass diese hungernden Menschen vielfach zu schwach für den großen Treck nach Europa sind. Aber was passiert dann mit ihnen? Hier trifft es wieder die Frauen und Kinder auf besondere Weise.

Unser Gesprächspartner beim UN-Ernährungshilfsprogramm meint, man könne die Kürzungen in Afghanistan nicht mit jenen in den Lagern 2015 vergleichen. Die sich in Afghanistan jetzt einstellende Katastrophe sei von einer noch ganz anderen Qualität: Der Friede im Land sei ein trügerischer, die wirtschaftliche Lage und die Situation der Menschen verbessere sich trotzdem nicht.

Ein Land ohne Perspektive am Bypass einer Hilfsorganisation, die jetzt kein Geld mehr hat und Millionen Notrationen einstellen muss.

Nachtrag 31. Mai 2023 – Wir fragen einen Sprecher bei WFP/Deutschland, welchen Zusammenhang es zwischen Verdoppelung der afghanischen Bevölkerung seit 2002 und der drohenden Hungersnot gibt. Antwort per E-Mail: "Dazu kann ich leider nichts Substanzielles beitragen".

Ihre Unterstützung zählt

Mit PayPal

Einen Kommentar schreiben

Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen. Aufgrund von zunehmendem SPAM ist eine Anmeldung erforderlich. Wir bitten dies zu entschuldigen.

Kommentare