Im Gespräch mit Heidrun und Manfred aus Ilmenau

35 Jahre Mauerfall – Endlich wie freie Menschen leben!

von Alexander Wallasch (Kommentare: 7)

Man kann diese überwältigenden Gefühle kaum schildern. Vierzig Jahre des Ausgesperrtseins waren einfach vorbei.© Quelle: Pixabay / ptra

In wenigen Wochen feiert Deutschland den 35. Jahrestag des Mauerfalls. Was vielen Menschen präsent ist, haben vierzig Prozent der Bevölkerung nicht mehr miterlebt. Für sie ist die DDR allenfalls ein historischer Begriff, mit dem sie nichts mehr anfangen können.

Für jüngere Leser aber auch für jene, die sich gemeinsam an die Tage des Umbruchs 1989 erinnern, hatte ich Gelegenheit, mit Freunden von Alexander-Wallasch.de aus Ilmenau in Thüringen zu sprechen.

Heidrun und Manfred Eberl haben von ihrer Kindheit an bis zum Fall der Mauer in der DDR gelebt. Mit Ihnen spreche ich über die Tage vor der Grenzöffnung, über ihre Freude, ihre Sorgen und auch über die obligatorischen Bananen, die Heidrun Eberl sich als erstes kaufte und dann den ganzen ersten Tag im Westen mit sich herumschleppen musste – die Tüte wurde ihr immer schwerer.

Alexander-Wallasch.de im Gespräch mit Heidrun und Manfred Eberl aus Ilmenau. 35 Jahre Mauerfall.

35 Jahre Mauerfall: Im November jährt sich der Fall der Mauer bzw. die Grenzöffnung zum 35. Mal. Für alle Deutschen aber insbesondere für DDR-Bürger ein einschneidendes Erlebnis. Kommt es Ihnen so vor, als läge es schon 35 Jahre zurück?

Ja, es ist eine lange Dauer. Und so ist auch der rationale Teil zwar vorhanden, aber die Emotionen wandeln sich ein wenig aufgrund des Zeitgeistes.

Aus der West-Perspektive kann ich sagen, auch für mich war die Grenzöffnung etwas Besonderes. Das hat den Alltag gehörig zerrissen. Mir kommt es nicht so vor, als sei das schon 35 Jahre her. Es macht einen selbst ja auch älter ...

Für uns war das nichts Unerwartetes, als Günther Schabowski uns das gesagt hatte mit der Grenzöffnung. Den Hergang haben wir ja verfolgt, täglich, fast stündlich. Eine Spannung war da, eine Erwartungshaltung. Das ist ganz normal.

Aber wir haben im Abbild unseres eigenen Alltags gemerkt: Der Staat ist am Ende. Das hat jeder normal Denkende hier im Osten erlebt, weil auch die Wirtschaft marode war. Die gesamten Lebenshaltungskosten konnten nicht mehr gehalten werden: Fünf Pfennig das Brötchen und so weiter, die Subventionen des Staates gingen zu Lasten anderer Preisgebungen: Der Trabant überteuert, das Fernseh-Color-Gerät viel zu teuer. Man musste also einen Ausweg finden. Und dann kam noch die Konvertibilität des Geldes dazu. Wir konnten das Geld nicht einmal umtauschen. Das war wie im Mittelalter. Ware gegen Ware, was den Westen und Osten betraf.

Der Staat sah sich auf der Siegerstraße: „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen.“ Und wir haben immer den Weltfrieden erhalten, selbst an der Mauer, die nichts anderes war als eine Abgrenzung in brutalster Form. Zur Sache selbst: Wir saßen nach den Demonstrationen auf der Straße in Ilmenau. Überall haben wir gesessen und haben diese Szenarien erlebt, nicht örtlich, aber eben visuell, und haben das mitgefühlt. Sicher waren wir froh, aber den nachfolgenden Bereich konnten wir nicht einschätzen.  Die Sachlage – ich habe Schabowski genannt – das war ein historischer Moment, was der Mann da so beiläufig von seinem Zettelchen ablas ...

Wo waren Sie zu dem Zeitpunkt, und wie fühlte sich das an? Freude, Angst, Hoffnung, Sorge. Was hat bei Ihnen überwogen?

Wir haben das hier in der Wohnung am Fernsehen wahrgenommen. Eigentlich nur über das Fernsehen. Wir waren erleichtert, mehr als froh. Als Frohsinn würde ich es heute nicht definieren. Es war einfach ein schleichender Prozess. Das kam ja nicht mit einem Schlag. Die Erwartungshaltung war da, die Freude dominierte, das ist ganz normal.  Vierzig Jahre des Ausgesperrtseins waren einfach vorbei. Das war immer das Beklemmenste, dass wir nirgendwo hinkonnten.

Wie alt waren sie? Was war ihre berufliche und private Situation? Sie waren damals schon verheiratet?

Ja. Meine Frau ist 1953 geboren, ich bin 47er Jahrgang. Wir standen im Mittelalter des Lebens damals. Wir waren froh darüber und haben uns schon in der Phantasie ausgemalt, wie es sein wird, ein Niemandsland zu betreten. Das war ein noch wesentlich höherer Moment als die Wahrnehmung: Ja, die Grenze ist offen.

Ich hatte mir vorher einen Pass zugelegt, den ersten Pass, den ich hatte. Ich stand in einer langen Schlange in Ilmenau. Da haben 100 Meter lange nicht gereicht. Und dieser Pass hatte dann kaum noch eine Bedeutung, als wenige Tage später offenkundig wurde, dass wir rauskamen.

Heidrun Eberl: Eigentlich waren wir überglücklich. Wie ein Traum kam uns das damals vor. Man kann diese überwältigenden Gefühle von damals nicht schildern. Endlich konnten wir auch wie freie Menschen leben. Wir konnten endlich reisen und von diesem Wohlstand etwas abbekommen, den wir im Fernsehen sahen und von den Paketen aus dem Westen kannten.

Gab es auch Tränen?

Wieder Manfred Eberl: Es war die Freude. Klar, der rationelle Kern im Hintergrund hat immer noch geschlummert. Ein bisschen Skepsis, Erwartung sowieso, aber ansonsten definitiv Freude.

Der Mensch ist ja ein Gewohnheitstier. Gab es denn irgendwann auch eine Angst, dass sich das ganze Leben nun von Grund auf verändern würde? Man richtet sich ja ein ...

Es war kurzzeitig ein freudiges Ereignis ohne perspektivisches Denken und ohne Zukunftsskepsis. Die haben wir nicht empfunden. Im Vorfeld gab es ein wochenlanges Aufbegehren und Demonstrationen, auch hier in der Kleinstadt. Wir haben gestanden und haben demonstriert mit Kerzenlicht und Transparenten und so weiter. Jedem war bewusst, es kann so nicht mehr weitergehen.

Die Funktionäre des Systems gab es sicher auch in Ilmenau. Wurde denn direkt gegen diese Menschen demonstriert? Wie haben sich die Sicherheitskräfte und die politischen Leute verhalten? Da waren sicher auch Nachbarn darunter ...

Im Umfeld, ja. Und die haben sogar noch Festnahmen gemacht vor der Grenzöffnung. Festnahmen in der Garage im Kreisamt. Die Funktionäre selbst haben sich zurückgehalten. Wir haben aus dem Fenster gesehen und wir waren vor dem Stasigebäude, und da haben sie hinter dem Vorhang geguckt.
Ansonsten haben sich die Funktionäre zurückgehalten, bis auf diesen einmaligen Vorgang, über Nacht Leute in eine Garage zu stecken, die besonders stark demonstriert haben.

Es gab auch Suizide. In Suhl beispielsweise. Da haben sich Wirtschaftsredakteure der Zeitung das Leben genommen. Sehr viele aus der Kreisleitung, der SED und Gruppenchefs haben sich schnell abgesetzt. Die waren von heute auf morgen nicht mehr da, bis hin zu Gewerkschaftsvorsitzenden, die dann alle abgerückt sind in den Westen und dort eine Wohnung gesucht haben.

Stichwort „Wendehälse“. Gab es Funktionäre, die unter den neuen Vorzeichen weitergemacht haben, die noch heute ihre Nachbarn sind?

Wie erwähnt hat sich die Anzahl stark reduziert. Visuell waren sie nicht mehr wahrnehmbar. Der Vorsitzende der Partei im Kreis wohnt allerdings immer noch hier. Er war für die Betriebskampfgruppen zuständig und ist heute betagt und kränklich. Aber in Summe haben die – sagen wir es mal salopp – den Schwanz eingezogen.

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Wie verhält man sich gegenüber solchen Leuten, von denen man weiß, dass sie einem das Leben schwergemacht haben? Hat man das verziehen, geht man wieder normal miteinander um?

Es ist eine Ignoranz. Wenn man Menschen sieht, die etwas gehobener politisch präpariert waren, die verleugnen sich bis heute. Die gucken weg. Nahezu alle schauen weg, ob in der Kaufhalle, ob im Straßenbild. Sobald Blickkontakt ist, wird das ignoriert. Bis auf wenige Leute, die nicht unbedingt in einem oberen Gremium standen. Die nicken mal kurz und wägen ab, wie der Gegenüber reagiert. Und so gab es welche mit Parteiabzeichen, die haben gemerkt, der Gruß von mir bleibt nicht aus, und dann gingen sie darauf ein. Aber die meisten sind abgerückt und kurioserweise in den Westen gezogen. Beispielweise der Kombinatsdirektor mit einer Unmenge Glasbetrieben – er war der Erste, der abgerückt ist. Er ist sofort ausgereist und war nie mehr zu sehen.

Gibt es bei Ihnen noch eine gemeinsame DDR-Erinnerungskultur, etwa mit alten Nachbarn? Sitzt man zusammen und plaudert über die alten Zeiten, wird so etwas, wie eine DDR-Alltagskultur gepflegt?

Es gab einige Ausstellungen und Museen über DDR-Produkte. Es gibt sogar noch ein Geschäft im Stadtzentrum von Ilmenau, die DDR-Waren anbieten. Aber eher aus nostalgischen Erwägungen. Das kümmert so dahin.

Wie ist das bei Ihnen zu Hause, in der Küche oder im Wohnzimmer? Was ist da noch sichtbar DDR?

(Lachen beide) Nein, bedingt auch durch den Zahn der Zeit. Höchstens im Kellerbereich mag noch etwas zu finden sein, altes Handwerkszeug und Zubehör. Meine Frau hat noch eine Küchenmaschine aus Suhl, die funktioniert immer noch.

Diese VEB-Plastik-Eierbecher, die wie Hühner aussahen, die haben Sie doch aber bestimmt noch aufgehoben ...

Die hat meine Frau entsorgt. Sie ist ein Entsorger. Ich wäre noch drangeblieben, aber leider ...

Wann waren sie das erste Mal im Westen?

Wir waren erstmals am Freitag, den 17. November im Westen, im bayerischen Mellrichstadt. Da haben wir jenes Gebiet betreten, das zuvor mit Kalaschnikows geschützt wurde.

Wie war der erste Eindruck, haben Sie sich überhaupt noch zurückgetraut?

Ein Wahnsinn! Ich fasse es mal kurz zusammen: Das Überangebot hat uns erschlagen. Selbst die Gerüche waren anders. Es war dubios bis hin zum Geruch in den Straßen. Und die Bäckerläden hatten ein gigantisches Angebot. Wir waren sprachlos. Meine Frau hat sich früh am Morgen eine Bananenstaude käuflich erworben und dann den ganzen Tag mit sich herumschleppen müssen. Aber die waren so schön und so gut gewachsen, dass wir uns den ganzen Nachmittag mit den Bananen beschäftigt haben.

Heidrun Eberl: Wir hatten das Besuchergeld. Wir waren in einem Geschäft und haben uns alles angeschaut. Wir waren so überwältigt, dass ich nicht wusste, was ich überhaupt kaufen sollte. Und so haben wir das meiste von diesem Besuchergeld wieder mit nach Hause genommen.

Kam ihnen das nicht auch ganz schön teuer vor?

Wir hatten ja keinen Vergleich.

Wieder Herr Eberl: Stimmt, es fehlte der Vergleich. Ich hatte diesen Geldschein mit der Dame mit ihrem Barrett auf dem Kopf in der Hand. Ich war früher Buchdrucker und kann Ihnen sagen, selbst das Papier des Westgeldes erschien mir besser und härter.

Wenn ich das noch sagen darf: Ich bin ein Elvis-Presley-Musikfreund. Mit dem Schein bin ich in einen Plattenladen und hab dort eine Langspielplatte gekauft. Der Verkäufer hat mir dazu einen riesigen Kugelschreiber geschenkt. Den habe ich heute noch. Den hätte ich hier in der Republik mit mehreren volkseigenen Mark bezahlen müssen. Der Kuli liegt immer noch im Keller. Der schreibt keinen Strich mehr. Die Mine ist leer. Aber das ist ein Symbol wie ein Nagel, wie ein großer Dachpappennagel.

Was sagen sie zu dem Satz: „Es war aber nicht alles schlecht an der DDR!“?

Gute Frage! Die DDR war nie eine demokratische Republik. Sie war eine Diktatur. Und wenn man opportun war, hat man ein Leben mit Maßen geführt. Eingeengt, aber man hat gelebt, wenn auch bescheiden. Aber wer politisch abdriftete, der hatte böse Dinge zu erwarten, so wie das heute mit der Meinungsfreiheit ist. Es war eine ungemeine Zuwendung. Es ging dem Staat nur darum, politisch auszurichten. Es war eine Diktatur des Proletariats. Das hieß, dass bestimmte Leute privilegierter waren. Die Partei – so ging ein Lied – die Partei hat immer Recht.

Träumen Sie noch manchmal von der DDR?

Wie es war, wollen wir nicht mehr. Aber diese Schattenseiten, die sich in den letzten Jahrzehnten ergeben haben, bringen Dinge auf einen Nenner.
Die Ostdeutschen – wie es ein Herr Scholz sagt – und ihre angeblichen Besonderheiten, das sind keine. Der Ostdeutsche ist glücklich über die Demokratie, die 1989 entstand. Unabhängig davon, dass auch ich lange Jahre arbeitslos war und immer mal wieder wurde. Das waren die Randerscheinungen.
Aber dass wir die DDR zurücksehnen, auf keinen Fall! Es ist halt nur so, dass man Vergleiche hat, die sich auftun. Ob wir eingelocht worden sind oder nicht, wir konnten nicht sagen, was wir denken. Das können wir heute auch nicht. Aber wir haben eine gewisse Ruhe gehabt. Du musstest einfach in diesem Gleichmaß weiterlaufen.

Das Handicap ist nur, wir als Ostdeutsche reagieren besonders sensibel auf diktatorische Maßnahmen. Das ist der ganze Grund. Der Westen, die Machthaber, sie drehen alles um. Wir haben keine Angst vor der Demokratie. Und wir müssen nicht lernen, wie die Demokratie verstanden werden soll. Sondern wir hassen die Diktatur, neue Festlegungen, Reglements, Einengungen.

Was jetzt fünf Jahre lang mit diesem verdammten Corona war, das war wirklich das Übelste, was uns geschehen konnte. Das ist ein Verbrechen an der Menschheit gewesen, an den Ostdeutschen auch, die das alles sofort gespürt haben. Die haben die Leute heimgesucht in den Feierabendheimen und haben ihnen die Spritze verpasst. Meine Ärztin hat sich verkrümelt. Sie hat sich aus dem Staub gemacht.

Danke für das Gespräch!

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