Es begann im Frühjahr 2020 – Chronik des Unsagbaren

„Wir gehen nicht mehr aus dem Haus“ – Alleingelassen mit der Angst

von Gregor Leip (Kommentare: 6)

Aufarbeitung ist auch eine ganz persönliche Aufgabe.© Quelle: Pixabay / Cocoparisienne

Der Kollege wollte am Ende zu den Überlebenden gehören. Das Beobachten der Einhaltung der Corona-Maßnahmen bei Anderen und die tägliche Observation der Umgebung wurde ihm zur Obsession.

Im Nachhinein frage ich mich, ob es ein Fehler war. Hätte ich riskieren müssen, mich mit ihm zu überwerfen? Um die danach jahrelang anhaltende Hysterie im Land mit einzudämmen?

Während Christian Drosten vor der nächsten Pandemie warnt: „So etwas hat es vorher noch nicht gegeben“ und zeitgleich fragt, ob wir für eine neue Pandemie besser vorbereitet seien, frage ich mich, was richtig und falsch war?

Zu allererst müssen unsere gesellschaftlichen Grundwerte anhand der Ereignisse der pandemischen Zeit hinterfragt und analysiert werden, bevor wir uns von Experten und Wissenschaftlern Szenarien entwickeln lassen, wie wir neuen menschgemachten oder natürlich entstandenen Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung begegnen.

Die Offenlegung und Entschwärzung der RKI-Files hält uns eindrucksvoll vor Augen, wie chaotisch und unwissenschaftlich wir von den Regierenden und deren ernannten Experten durch die Pandemie geführt wurden. Auf der Waagschale steht auch das gesellschaftliche Miteinander: Wer hat wem was und warum angetan? Was haben wir mit uns machen lassen? Und was haben wir den Anderen zugemutet und abverlangt?

Aufarbeitung ist auch eine ganz persönliche Aufgabe. Vielleicht oder bestimmt sogar zu allererst: Ein Blick zurück in das eigene Umfeld, ein Moment des Rückblicks als Vorrausetzung für die eigene Einschätzung und als bessere Vorbereitung auf zukünftige Ereignisse. Ereignisse, die zu Maßnahmen führen, die unser Leben so stark beeinflussen, wie es während der Pandemie durch wenige Akteure möglich war.

“Wir gehen nicht mehr aus dem Haus”, teilte mir der Kollege im Frühsommer 2020 mit. Wir waren seit einigen Wochen vom Arbeitgeber freigestellt worden. Der Heimatbefehl kam plötzlich und über ein verbreitetes Memo der Geschäftsführung. Selbst die direkten Vorgesetzten mussten mehrmals nachlesen, um zu erfassen, wer auf unbestimmte Zeit nach Hause geschickt werden sollte. Ich hatte und habe eine Krebserkrankung, der Kollege war bereits über 60 Jahre alt. Kollegen mit Atemwegserkrankungen wurden ebenfalls schnell und unbürokratisch freigestellt.

Ich erinnere mich, als sei es heute: „Wir gehen nicht mehr aus dem Haus“, berichtete mir also besagter Kollege am Telefon und erzählte, wie seine persönlichen Maßnahmen aussahen, um sich und seine Frau vor dem ultimativen Bösen zu schützen.

Der Kollege war wenige Monate nach Ausrufung der weltweiten Pandemie durch die WHO absolut überzeugt, das Richtige zu tun. So überzeugt, dass ich einem Gesprächspartner zuhörte, der keinen Raum für einen Meinungsaustausch zuließ. Die Angst hatte Besitz von ihm ergriffen und diese Angst wurde durch die tägliche Verbreitung von Horrormeldungen aus der ganzen Welt weiter befeuert.

Also versuchte ich nur zuzuhören, ohne Bedenken oder Kritik an seinen Ideen und Einstellungen zu äußern. Im Nachhinein frage ich mich, ob das ein Fehler war. Hätte ich riskieren müssen, mich mit ihm zu überwerfen? Um so die anhaltende Hysterie im Land mit eindämmen zu helfen?

„Wir gehen nicht mehr aus dem Haus“ teilte er mir also mit und berichtete voller Inbrunst von jenen Dingen, die er sich ausgedacht hatte, von einem Schlachtplan, den er entwickelt hatte, um am Ende zu den Überlebenden zu gehören.

Ich selbst gehöre eher zu den Unerschrockenen und mit Galgenhumor ausgestatteten Menschen. Jedoch traute ich mich aus Rücksicht auf die Ängste des Kollegen nicht, ihm mit Witz und Späßen zu begegnen, wie wir es aus jahrelanger gemeinsamer Arbeitszeit gewohnt waren.

„Ich sende auf allen Frequenzen. Wenn ihr da draußen seid, wenn irgendjemand da draußen ist....ich kann Nahrung bieten, ich kann Unterkunft bieten, ich kann Schutz bieten. Bitte... Du bist nicht allein."

Will Smith als Überlebender in einem dystopischen Endzeit-Film ging mir durch den Kopf, während der Kollege in allen Einzelheiten seinen persönlichen Plan vom Pandemie-Überleben schilderte. “Wir haben jetzt den Lieferservice des Discounters beauftragt”, berichtete er beispielsweise.

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Von mir als Gedächtnisprotokoll zusammengefasst, was er noch sagte:

„Einmal in der Woche stellen wir zuhause eine Liste der Lebensmittel auf, die wir benötigen und geben die dann telefonisch dem Mitarbeiter des Discounters durch. Zum Schluss – und das ist das Wichtigste – wird der Mitarbeiter streng angewiesen, dem Lieferanten dringend mit auf den Weg zu geben, dass er keinesfalls den Hof betreten oder an der Tür klingeln soll. Die zu bezahlende Summe haben wir in einem Umschlag an die Gartentür gehangen und die Waren möchte er bitte vor der Tür abstellen.”

Irgendwo zwischen amüsiert und schockiert hörte ich weiter zu, welche Strategie der Kollege noch entworfen hatte. Beeinflusst von sich fast täglich verändernden Medienmeldungen der für die Pandemie verantwortlichen Experten, etwa über die Lebensqualität von Viren auf Türgriffen, berichtete er weiter:

„Ich habe mir eine Mischung aus verschiedenen Desinfektionsmitteln (welche genau er benutzte, habe ich vergessen) in eine leere Sprühflasche gemischt. Dann ziehe ich mir Gummihandschuhe an, lege einen Mundschutz an. Und bevor ich die Waren ins Haus schaffe, sprühe ich jede Verpackung der Lebensmittellieferung ein und wische sie ab und wiederhole diesen Vorgang mehrfach. Viel hilft viel!”

Einige Monate später erhielten die nach Hause geschickten Kollegen die Mitteilung, wieder zur Arbeit erscheinen zu müssen. Die verbliebenen Kollegen hatten in der Zwischenzeit den Betrieb nach allen behördlichen Vorgaben für uns abgesichert. Der Kollege und Freund erschien nicht zurück am Arbeitsplatz. Er hatte sich vorsichtshalber krankschreiben lassen. Ging das zu dem Zeitpunkt bereits telefonisch?

Im Betrieb beherrschte ab dem Zeitpunkt der Anblick von Trassier-Absperrband die Hallen, Sanitär- und Büroräume. Da hatte man sich etwas ausgedacht: Jede zweite Toilette war gesperrt, Büroräume durften – auf Hinweisschildern ausgewiesen – nur noch mit einer bestimmten Anzahl an Mitarbeitern besetzt werden. Aushänge wiesen das Personal an, in festgelegten Zeitabständen Stoßlüftungen durchzuführen.

Die zunächst teuer verkauften, handgenähten Mundschutzmasken aus Gardinen und Wäschestoffen wurden nach Beschaffung durch den Gesundheitsminister verpflichtend gegen die FFP2 Maske ausgetauscht. Dazu waren Abstandsregeln festgelegt, die bei jeder Unterschreitung das Tragen sofort verpflichtend machten.

Eine Fraktionsbildung setzte unter den Kollegen ein. Wobei die Fraktion der entspannten Pandemiebegleiter täglich größer wurde, während sich auf der anderen Seite eine kleinere Gruppe immer weiter maßnahmenradikalisierte. Das Einhalten von Vorschriften, das Beobachten der Einhaltung der Maßnahmen bei Anderen und die persönliche Beachtung der Maßnahmen wurde ihnen zur Obsession.

Was soll man dem Vorgesetzten heute mitteilen, der auf seinem Dienstfahrrad allein auf weiter Flur und schwer durch seine Maske atmend den Produktionsstätten entgegenfuhr?

Wie mit den Kollegen umgehen, die ständig die Anzahl der Mitarbeiter erfassten, um dann panisch darauf hinzuweisen, dass sie überschritten sei. Kollegen, denen das geschriebene Wort der Medienvertreter als Pandemie-Bibel galt. Vollkommen diskussionsfrei.

Wir alle sind aufgefordert, uns zu erinnern und festzuhalten, was wir erlebten. Es ist anzunehmen, dass wir irgendwann wieder mit ähnlichen Situationen konfrontiert werden. Bis dahin muss die Chronik des Unsagbaren ein Bild der Ereignisse geschaffen haben, welches verunmöglicht, dass unsere kollektive Wahrnehmung erneut so verzerrt und der Gesellschaft wieder solch ein Schaden zugefügt wird.

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