Wie merken wir’s wieder?

Vom Balkon

von Christof Struhk

Christof Struhk macht sich Gedanken… Warum merken wir nicht, dass die Maske uns einschränkt?© Quelle: Unsplash / Mahdi Bafande

Es ist Mittwoch, 19. Mai 2021, ca. 9:20 Uhr. Trotz meiner inzwischen 57 Lebensjahre rauche ich immer noch. Deshalb stehe ich an diesem Morgen bereits zum zweiten Mal auf dem Balkon meiner Kreuzberger Wohnung. Weil diese an einer sogenannten Fahrradstraße liegt, gibt’s dort nicht nur vorbeibrausende Autos, sondern auch viele Radfahrer zu sehen.

Oft fahren sie in Gruppen, wie z.B. Mütter oder Väter mit ihren Kindern auf dem Weg zur Schule oder in den Kindergarten. Von meinem erhöhten Standpunkt im 1. Stock des Hauses habe ich einen guten Überblick. Und nicht nur das. Oft kann ich auch hören, worüber die Menschen sprechen – miteinander oder in ihr Handy hinein. Bei der nachfolgend beschriebenen Begebenheit spielt der akustische Aspekt meiner Beobachtungen zwar keine Rolle, aber ich erwähne diesen Umstand trotzdem – einfach damit Du Dir die Situation besser vorstellen kannst. Tatsächlich ist es sogar so, dass ich schon mal darüber nachgedacht hatte, ein Büchlein zu schreiben. „Vom Balkon“ oder so ähnlich könnte es heißen und wahre oder ausgedachte Kurzgeschichten enthalten, deren Handlung an einem bestimmten Punkt der Story räumlich mit eben jenem Balkon, auf dem ich jetzt gerade stehe, in Verbindung gerät. Egal … Heute gibt’s zum Lesen nur eine traurige Beobachtung – und meine Gedanken dazu.

Ein Vater mit seiner ca. 5-jährigen Tochter und dem ca. 8-jährigen Bruder kommt des Weges – alle drei auf Rädern. Sie fahren nicht auf der Straße, sondern auf dem Fußweg direkt unter meinem Balkon vorbei. Die Sonne scheint – ein fast idyllischer Morgen an einem Wochentag. Der große Bruder braust vorweg – mit Maske im Gesicht! Die Tochter darf noch frei atmen und auch der Vater nimmt sich diese Freiheit raus.

Um das Geschehen in den aktuellen Kontext einzuordnen: Wir befinden uns im Jahr zwei der sogenannten Pandemie. In Berlin herrscht beim Fahrradfahren keine Maskenpflicht. Das hat man sich wahrscheinlich für den kommenden Herbst aufgehoben – damit’s bloß nicht langweilig wird. Zur Beurteilung der lauernden Gefahr zieht man weltweit die Inzidenz als Maßstab heran. Warum sich dieser schwachsinnige Wert zur Einschätzung der Gefährdungslage durchgesetzt hat und dabei elementares Grundwissen der Verhältnisrechnung außer Acht gelassen wird, wissen wahrscheinlich nur sehr wenige, ganz besonders schlaue, Menschen. Heute Morgen steht der Wert laut Spiegel, dessen Onlineauftritt ich aus alter Gewohnheit immer noch durchscrolle, bei 86,2. Wir befinden uns also nicht mehr in der totalen Paranoia. Der Wert sinkt seit ca. zwei Wochen – „wegen der Maßnahmen!“ sagen die meisten. Einige wenige haben aber noch Zugriff auf die alten geheimen Kenntnisse unserer Vorfahren. Sie wissen: Coronavirus-Infektionen sind im Sommer immer auf dem Rückzug.

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Also ist Entspannung angesagt – aber dieser Vater will (oder kann?) seinen Sohn offenbar nicht dazu bringen, wieder ohne Maske Rad zu fahren. „Wie kann das sein? Warum tut ein Vater das (nicht)?“ frage ich mich. Nun … Ich bin nur ein Typ, der auf seinem Balkon steht. Von dort will ich ihm diese Fragen nun wirklich nicht hinterherrufen. Ich bin aber auch Vater zweier Söhne im Alter von 13 und 19 Jahren. Und: Ich bin ein Mensch! Als solchem gelingt es mir trotz des Gedankenstroms in meiner Birne doch noch ab und zu, mich selbst – also mein körperliches Sein – wahrzunehmen. So zeigt mir mein Körper den Wunsch nach Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse wie essen, trinken, schlafen und eben auch atmen immer noch zuverlässig und unabhängig von der jeweiligen Umgebung an. Während ich die erstgenannten noch ungeregelt befriedigen darf, ist letzteres seit nun mehr als einem Jahr per Regierungsverordnung nur noch eingeschränkt erlaubt.

Diese Einschränkung empfinde ich rein körperlich als äußerst unangenehm, weshalb ich z.B. den Nasenbügel meiner FFP-2-Maske immer möglichst gerade biege, um bei meinen wöchentlichen Großeinkäufen im Bio- oder Supermarkt ausreichend Luft zu bekommen. Trotzdem merke ich, dass die Maske einen Geruch ausströmt, den ich nur gerade noch so ertragen kann. Geruch – so hat’s mir und meinen Klassenkameraden (und *innen!) in der Schule mal eine gute Chemielehrerin erklärt – nehmen wir wahr, weil sich Moleküle eines von unserem Geruchssinn wahrnehmbaren Stoffes in der Atemluft befinden – und zwar umso intensiver, je höher die Konzentration dieser Moleküle in der Atemluft ist.

Komisch? So frage ich mich bei jedem Einkauf: Wie halten andere Menschen das über Stunden mit ungetürktem (unkorrekte Sprache? echt jetzt?) Nasenbügel aus? Bei mir verursacht bereits der Anblick dieser eingeschränkt sichtbaren Gesichter mit ihren sich gleichmäßig kontrahierenden und dann wieder blähenden Vliesbeuteln Unglauben und Mitgefühl.

Nun – die Antwort auf diese Frage dürfte einfach und naheliegend sein: Diese Leute empfinden das Tragen einer Maske als wenig störend. Der Prozess des Atmens findet bei ihnen im Zustand vollständigen Nicht-Bewusstseins statt. Isoliert betrachtet entspricht das ja auch der rein biologisch notwendigen Funktion des Atmens für den menschlichen Körper. Dieser atmet, weil jener Teil unseres Gehirns, der die Atmung aufrechterhält, niemals ruht. Insofern muss das Atmen natürlich unbewusst von statten gehen. Eine regelrecht ironisch-absurde Tatsache stellt für mich im Kontext zwischen Atemmaske und Maskenatmung aber der Umstand dar, dass die „Atmung“ – oder besser das „Atmen“ – inzwischen auch in unserem Kulturkreis eine über die körperliche Primärfunktion der Sauerstoffversorgung hinausgehende Aufwertung erfahren hat.

Mittlerweile werden nämlich selbst diejenigen unter uns, die sich täglich vom Kabelfernsehen volldröhnen lassen, schon mal von der heilenden Wirkung der Meditation oder Achtsamkeit gehört oder gelesen haben. Auch die Tatsache, dass die einfachsten Übungen beim Erlernen dieser Techniken mit der Konzentration auf das Ein- und Ausströmen des Atems in den (bzw. aus dem) eigenen Körper beginnen, dürfte inzwischen weit verbreitetes Allgemeinwissen sein – zumindest nehme ich das im Fall des unter meinem Kreuzberger Balkon entlang radelnden Hipster-Vaters an.

Aus dem bisher Geschriebenen resultiert für mich nun also folgende Frage: Warum lässt dieser Vater seinen Sohn im aktuellen Kontext (Inzidenz bei 86,2; Wissen um die Atmung ist wahrscheinlich vorhanden) weiter Maske tragen? Gehört er wirklich zu diesen Superängstlichen, von denen ich zum Glück noch keinen persönlich kennengelernt, von denen ich aber schon gelesen oder gehört habe? Hhm… das erscheint mir unwahrscheinlich. Zwar fährt diese Kleinfamilie auf dem Fußweg, woraus ich schließen kann, dass selbst der marginale Autoverkehr auf dieser Fahrradstraße als Bedrohung wahrgenommen wird, andererseits fehlen die mittlerweile weit verbreiteten Warnwesten und der Vater fährt – fast schon unverantwortlich – sogar ohne Helm. Ich neige deshalb zu einer anderen Erklärung, nämlich jener, die meiner Überzeugung nach für den allergrößten Teil der – gelinde gesagt – rätselhaften Verhaltensweisen unserer hiesigen Bevölkerungsmehrheit verantwortlich sein dürfte.

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Und die geht so:

Halt! Um das Lesen dieser Zeilen für Dich, liebe Leserin (ja! – ohne *, :, I oder / – ), ein wenig spannender zu gestalten, möchte ich diese, also meine, Erklärung für den mittlerweile allgegenwärtigen Wahnsinn, hier nicht einfach hinklatschen, sondern – der Tragweite des vorliegenden Problems angemessen – etwas weiter ausholen. Hinzu kommt, dass dieser Text der erste ist, von dem ich hoffe, dass ihn Alexander, mein alter Bekannter aus Schulzeiten, den ich erst vor wenigen Tagen auf der Suche nach Kontakt zu den wenigen in meinem Leben noch verbliebenen „Normalen“ wieder angeschrieben hatte, vielleicht* veröffentlichen wird (*Er weiß noch nichts davon, dass ich ihm mein Geschreibsel heute Nachmittag zusenden werde). Also werde ich’s langsam angehen lassen – und erst mal wieder reingehen …

Im Nebenzimmer sitzt mein 13-jähriger Sohn vor seinem Bildschirm und tut so, als ob er am „Homeschooling“ (Aaah – so schön! … Isch libe dise neuä Wörta) teilnehmen würde. In Wirklichkeit jedoch spielt er entweder Fortnite oder glotzt auf einem Netflix-Account, dessen Zugangsdaten er sich irgendwo besorgt hat, amerikanische Serien. Mittlerweile ist es 13:12 Uhr. Mein Magen knurrt. Mein Sohn jedoch – so viel weiß ich inzwischen aus Erfahrung – würde durchspielen, bis die Sonne untergeht. Wenn ich jetzt nicht rübergehe, wird er sich bestenfalls irgendwann fragen, warum ich ihn noch nicht von seinem Elektrogerät abgepflückt habe. Hunger? Fehlanzeige! Und … wenn doch, findet er sicher noch irgendwo ein paar vergessene Supermarkt-Chemikalien, die er sich mit der Linken reinstopfen kann, während er jemandem rechtshändig ganz locker einen Headshot verpasst.

Was mit meinem Sohn los ist? Nun… er ist abhängig! Nicht von Drogen, sondern von flimmernden Bildschirmen – so wie der größte Teil der 10- bis 20-jährigen Jungs in diesem hochgebildeten Land! Vergleichbar mit den gedämpften Außenwahrnehmungen eines Junkies merken diese Kinder beim „Zocken“ nämlich nicht mehr, dass sie Hunger haben. Du vermutest richtig, libeR läserIn … langsam nähern wir uns dem wieder Thema an: Ebenso wie die Aktivitäten auf seinem Bildschirm meinen Sohn so sehr gefangen nehmen, dass er ein elementares Grundbedürfnis seines Körpers nicht mehr wahrnimmt, merkt der Maskenpapi unter meinem Balkon wahrscheinlich nicht, dass er durch die Dinger nur schlecht Luft bekommt – geschweige denn, dass diese nach obskuren Stoffen riechen. Eine solche Störung der Wahrnehmung kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Habe ich die Maske im Supermarkt trotz Nasenbügeltrick noch als starke Beeinträchtigung meines Wohlbefindens empfunden, finde ich mich kurze Zeit später auf der Straße wieder und… habe das Ding immer noch auf! Wie konnte das passieren?

Die Antwort ist einfach: Es konnte nur deshalb passieren, weil ich „in Gedanken“ – und damit abgetrennt von meiner eigenen Körperwahrnehmung – war. Während sich mein Sohn also in einem Film im Außen verliert, war es bei mir ein Film, der sich im Inneren meines Denkorgans abspielte. Und damit komme ich nun endlich wieder zum erwachsenen Objekt meiner morgendlichen Beobachtungen zurück. Ich behaupte einfach mal (jawohl!), dass sich dieser Vater im Wachzustand fast ausschließlich „in Gedanken“ befindet – zumindest immer dann, wenn er sein Hirn nicht gerade zum Lösen eines schwierigen Problems benutzen muss. In seinem Kopf spielen sich wahrscheinlich dauernd irgendwelche Filme ab. Wo sich jedoch der Ausschalter dieses vertrackten Projektors befindet, ist ihm nicht bekannt – kein Wunder! Spielt er in seinen Filmen doch fast immer selber mit. Oder hast Du schon mal von schauspielernden Regisseuren gehört, die – ganz nach Belieben – eine Vorführung ihres eigenen Films beenden können? Na also!

OK! Spaß beiseite! Das ist keine Supererkenntnis von mir. Es ist der Sinn sogenannter Achtsamkeitsübungen, den Gedankenstrom wenigstens für Sekunden zu unterbrechen. Dabei ist es nicht die Achtsamkeit an sich, die bereits nach einigen Übungen innerhalb weniger Tage zu einem verbesserten Grundgefühl führt, sondern die Tatsache, dass die Birne in Summe einige Minuten während des Tages einfach mal nichts „denken“ konnte – ganz einfach, weil sie ausschließlich mit der reinen, puren Wahrnehmung beschäftigt war. Wer das mal einige Zeit lang ausprobiert hat, wird außerdem feststellen, dass er plötzlich auch ohne Achtsamkeitsbefehl in einen Zustand tieferen Wahrnehmungsvermögens kommt. Bald wird ihm dann auch wieder auffallen, wie angenehm es sich anfühlen kann, mal wieder richtig durchzuatmen. Und wenn dieser Mensch ein Vater ist, der seinen Sohn liebhat, wird er ihn beiseite nehmen und ihm ganz in Ruhe sagen: „Junge! Der Quatsch ist zu Ende! Lass uns wieder atmen!“

Nachtrag 1: Wieso der Gedankenstrom – wie ich obenstehend schreibe – nun maßgeblich „für die rätselhaften Verhaltensweisen der hiesigen Bevölkerungsmehrheit verantwortlich“ ist, habe ich nun doch nicht weiter ausgeführt. Das Ende hat mir einfach zu gut gefallen. Aber – falls Alexander diesen Text hier auf Euren Bildschirm drucken wird – und ich einen weiteren liefern darf, komme ich darauf später noch zurück.

Nachtrag 2: Ja – es könnte tatsächlich passieren, dass der Sohn dem Vater antworten wird: „Aber Papa! Was ist, wenn ich Dich dann anstecke und Du stirbst?“ Tja … Das ist dann nur eines von den vielen Problemen, die unser Leben in nächsten Jahrzehnten ganz sicher bestimmen werden – ebenso ein gutes Thema für meinen nächsten Beitrag.

Mit Dank an Sören, Ecki und Ron. Freu mich über Kommentare! Alles Liebe! Christof

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