Von Christian Witt
Da, wo die Moskwa mitten in der größten Metropole einen großen Bogen nach Norden schlägt, bot die gut zu verteidigende Anhöhe des Borowizki-Hügels einen idealen Ort für die dort seit dem 12. Jahrhundert entstandene, größte erhaltene Burganlage der Welt.
Im 15. und 16. Jahrhundert wurden wesentliche Teile des heutigen Kremls von italienischen Architekten geplant. Heute ist er ein UNESCO-Weltkulturerbe, mitten im Herzen der Hauptstadt der Russischen Föderation, die mehr als 100 verschiedene Nationen beheimatet.
Uns westlichen Medienkonsumenten ist der Kreml vor allem im politischen Diskurs ein Begriff – als Zentrum der oft antagonistisch wahrgenommenen Macht im Osten. In dieser Perspektive schwingen all die Feindbilder des Kalten Krieges mit, die immer noch – oder besser schon wieder – das passive Weltbild vieler prägen.
(Text zweiter Teil nach der Bildergalerie)
In diesem doch eher touristischen Exkurs lasse ich die Frage nach Recht oder Unrecht außen vor. Darf man das 2024?
Steht man auf dem großen Roten Platz, mit seinen rund 73.000 Quadratmetern einer der größten innerstädtischen Plätze der Welt, so war vom „Bösen“ oder „Verschlagenen“ um den Jahreswechsel rein nichts zu spüren. Frisch gefallener Schnee verwandelte die Szenerie zwischen Zwiebeltürmen und hünenhaften Burgmauern pünktlich zu den Silvesterfeierlichkeiten, dem „Tag von Väterchen Frost“, in ein einziges Klischeebild des „alten Russlands“.
Neben den Siegesfeierlichkeiten im Mai ist Silvester der wichtigste Feiertag im gesamten Reich zwischen Kaliningrad bis Anadyr. Seit den Sowjetzeiten hat es Weihnachten und Heiligabend in seiner Bedeutung weitgehend ersetzt: In Russland beschenkt man sich traditionell am Altjahresabend am 31. Dezember im Kreis der Familie.
Seit 2013 veranstaltet das einhundertdreißig Jahre alte Luxuskaufhaus GUM von Mitte Dezember bis März seinen Wintermarkt. Zahlreiche weiße Fressbuden im romantischen Zuckerbäckerstil, Karussells, Schiffschaukeln und eine große Schlittschuhbahn fügen sich harmonisch in die professionell gestaltete winterlich-weihnachtliche Atmosphäre der Moskauer Altstadt ein, die sich so zu einem einzigen Freizeitpark verwandelt.
Ähnlich wie im gesamten Moskauer U-Bahnnetz betritt man hier keinen Bereich, ohne durch Sicherheitsschleusen zu gehen und auf Waffen überprüft zu werden. Das ganze Areal rund um die festliche Szenerie ist nur durch diese Schleusen zugänglich, vor denen sich die Menschen geduldig drängen um sich bereitwillig kontrollieren lassen. Graublaue Gruppen meist junger Sicherheitskräfte in Tarnfleckuniform patrouillieren und vermitteln den Eindruck, jederzeit eingreifen zu können. Doch davon lassen sich die Heerscharen von Gästen offenbar nicht beeindrucken – sie scheinen an dieses Bild gewöhnt.
Warum bin ich nach Moskau gefahren? Noch dazu in dieser schwierigen Zeit? Ich wollte endlich der Einladung einer ehemaligen Mitbewohnerin aus Berlin nachkommen, die in Moskau als Pianistin arbeitet. Der betörende Lichterglanz, die einander wechselnden Duftteppiche, der Jahrmarkt der Klänge und Lustbarkeiten – all das war für mich eine dann doch unerwartete Überraschung.
Gegrillte Kolbaski, Pfannkuchen, Fettgebäcke und heiße Glüh- sowie Fruchtweine lockten auch in diesem Jahr viele Besucher an. Die Preise sind denen auf unseren Weihnachtsmärkten – wie auch das übrige Preisniveau der Lebensmittel – sehr ähnlich. Trotz des aufreibenden Dauerkrieges im Südwesten und der Sanktionen etlicher Staaten, sehe ich auffällig viele asiatische und indische Touristen. Auch Gäste aus Afrika posieren vor der beeindruckenden Kulisse. Hunderttausende strömen in dieser dunkel-trüben Winterzeit durch die stimmungserhellenden Lichterflure.
Erquickung fürs Volk, Ablenkung in fragwürdigen Zeiten – so mag man dieser Tage angesichts des pittoresken Lichtermeers und der ausgelassenen Menschen in Moskau argwöhnen. Aber ich halte es für wichtig, hier zu sein, es tut gut, mit den Moskauern und ihren Gästen zu sprechen.
Die Steine, die genau das zu verhindern suchen und uns dem „menschlichen Blick“ auf die andere Seite des neuen eisernen Vorhangs zu werfen, haben ja Jahr um Jahr zugenommen. Ich bin erstaunt über das Bemühen vieler, auf Deutsch mit mir zu sprechen.
Jenseits aller Politik bedeutet das Kennenlernen des östlicheren Europas und das Treffen von Menschen eine echte Horizonterweiterung. Wer mitreden will im großen politischen Zirkus, sollte die Welt mit eigenen Augen gesehen haben.
„Mich würden keine zehn Rubel“ nach Moskau bringen, klingt mir das aburteilende Abwinken meines Mainstream-Freundes aus Hamburg noch in den Ohren. Viele machen sich dieser Tage mit der „selbstgewählten Unmündigkeit“ gemein, ziehen Brandmauern um ihr mühsam aufgebautes Weltbild. Mir bereitet genau das ein großes Unbehagen und motiviert mich noch mehr auch zu dieser Reise.
Zuletzt war ich in Tiflis und habe für Alexander-Wallasch.de berichtet, dokumentiert und fotografiert, was wir sonst nur in der Aufarbeitung der Tagesschau berichtet und zu sehen bekommen.
Russland hat mit dem e-Visum das Reisen vereinfacht. Und wer weiß, was morgen sein wird. Ich bin hingefahren.
Es folgt hier noch ein Interview mit Christian Witt aus Moskau.
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Kommentar von Edlosi
Tolle Bilder, gut eingefangene Stimmung im klirrend kalten Moskau, weiterhin viel Spaß und gute Gespräche, und nicht vergessen, die abwechslungsreiche Küche genießen.
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Kommentar von .TS.
Interessant - sieht dort alles nahezu genauso aus wie hier. Nur die Buchstaben sind etwas anders.
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Kommentar von Heinz Schattanek
"Viele machen sich dieser Tage mit der „selbstgewählten Unmündigkeit“ gemein, ziehen Brandmauern um ihr mühsam aufgebautes Weltbild."
Das ist das Entscheidende - die Brandmauer. Nur sie hält noch das Weltbild.