Die Künstlerin mit deutschrussischen Wurzeln nutzt ihre Popularität, um immer wieder mutig, so muss man es leider in diesen Zeiten sagen, ihre persönliche „Rote Linie“ zu benennen.
Die Rote Decke, über sie in ihrem aktuellen Facebook-Post schreibt, begleitet sie seit der Kindheit in Sibirien und erzählt eine berührende Geschichte von Wärme und Geborgenheit als Symbol einer Familie, die sich nach Krieg, Gräueltaten und Vertreibung wiedergefunden hat. Und die weiß, dass niemand gewinnt, gar nicht gewinnen kann, wenn Krieg tobt. Und Gewalt und Grauen immer ebendiese nach sich ziehen.
Beim Lesen habe ich mich automatisch gefragt, wo ist meine Rote Linie? Und was bin ich bereit dafür zu tun?
Hier der Original-Facebook-Text des berührenden Plädoyers der Silly-Frontfrau für Deeskalation, Diplomatie und Frieden:
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"Ich stöberte vor einigen Tagen auf dem Dachboden und fand diese rote Decke. Sie lag verstaubt im Dunkeln, zwischen Kartons und alten Koffern. Meine Kindheit lang hat sie mich begleitet.
Ich habe sie als 4-Jährige von meinem Großvater aus Deutschland nach Sibirien geschickt bekommen. Sie war ein Geschenk an die kleinste Tochter seiner Tochter, an sein 5. Enkelkind, nachdem er nach vielen Jahren über das Internationale Rote Kreuz herausfand, dass einige seiner Kinder noch leben und nach Sibirien verschleppt worden waren und er sogar Großvater ist.
Ich wusste damals nicht mal, wer mein Großvater war, aber ich habe diese Decke gehütet, als ob mein Leben davon abhinge.
Da stand ich also auf dem Dachboden mit glasigen Augen. Mir geht das Herz beim Anblick dieser Decke auf, all die Liebe in meiner Familie, all die Freude, als meine Mutter ihren Vater nach über 20 Jahren mit Tränenfreuden überströmt wieder in die Arme schließen durfte.
Diese Decke hat mich in mehrfacher Hinsicht gewärmt, behütet, beschützt und mir Träume gegeben, sie hat mich zu verschollenen Personen meiner Familie zurückgeführt, in die Freiheit und nach Deutschland. Ich habe sie überall mit hingeschleppt, mich unter ihr versteckt, mich in ihr eingerollt, an ihr festgehalten und sie über Grenzen gebracht.
Willy Brandt leitete durch Deeskalations- und Friedenspolitik und kluger Diplomatie erste Verhandlungen zwischen „Osten“ und „Westen“ ein, die viele Jahre später den kalten Krieg und die unsichtbare geistige Mauer zwischen Völkern beendete und ein Miteinander schuf - bei der zuvor alle Opfer gewesen waren. Er sagte einst: „Nicht Krieg, sondern Frieden ist der Vater aller Dinge“.
Wenn sich zwei streiten, freut sich oft ein Dritter im Hintergrund. Niemand gewinnt, wenn ein Krieg tobt, niemand. Er war ein kluger Mann und er hatte Recht. Willy Brandt war einst selbst im Krieg und im Widerstand. Er wusste, wovon er sprach, genauso wie mein Großvater.
Er beendete die Isolation und das Schweigen und redete mit der „anderen Seite“ mit klugen, friedlichen und respektvollen Worten. Diese Gespräche führten unsere Familie letztendlich zusammen und in die Freiheit. Dafür bin ich bis heute dankbar.
Ich werde mich nicht verführen lassen. Man sollte immer für etwas sein, anstatt gegen etwas zu sein. Diese, meine rote Decke erhält einen Ehrenplatz, sodass ich sie immer ansehen kann, wenn ich daran denken und mich darin bestärken will, dass ich für den Frieden, für das Leben, die Liebe, die Wahrheit und für die Freiheit bin.
PS und Nachtrag: An alle Sprücheklopfer und Rassisten, die sich hier wegen meiner Herkunft ausgelassen hatten: Ich bin keine Russin, sondern Russlanddeutsche. Stalin hat einst, aus Hass auf die Nazi-Deutschen und deren Gräueltaten einen Großteil meiner Familie im sibirischen Arbeitslager ermorden lassen, da sie Deutsche waren und dort friedlich lebten. Gräueltaten hatten Gräueltaten zur Folge. Wir durften nach dem Kriegsverschlepptengesetz in den 70er-Jahren zurück in die Heimat meiner Vorfahren und zu meinem Großvater, der mit seiner Familie aus der UdSSR wegen ethnischer Verfolgung im Krieg nach Deutschland floh. Dort wurden der Rest seiner Familie nach Kriegsende nach Sibirien deportiert und verblieb dort bis zur Ausreise in den 70er Jahren. Die Russische Föderation hat sich 2006 für die Gräueltaten Stalins an meiner Familie bei meiner Mutter offiziell entschuldigt. Ungeachtet dessen ist jeder Mensch gleich viel wert."
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Kommentar von Sandra Schumacher
Danke für den Kommentar an Frau Neigel. Krieg produziert Verlierer - im Großen wie im Kleinen, auf der politischen Bühne wie im Musikbusiness.
Wir trauern immernoch um Stephan Ullmann.....
Überhaupt nicht zu akzeptieren ist die aufgekommene Hetze und Häme in Deutschland gegen alles, was russisch ist - und dass das noch von den Medien unterstützt wird!
Insoweit erkläre ich mich solidarisch mit den russischen Menschen!
Wir brauchen keine neuen Feindbilder in unserem Land!
Dass Konzerte mit Netrebko abgesagt werden, dass man einen Stardirigent (Gergiev) in München entlässt - aus politischen Gründen - ist ein Skandal! Deutschland sollte sich schämen, und alle, die daran mit beteiligt sind und waren!
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Kommentar von A. Rolfs
Sehr geehrte Frau Hardt,
bitte schreiben Sie es uns ! Es gibt kaum noch Zeitzeugen und wir haben es versäumt, richtig (abseits von ideologischen Scheuklappen) nachzufragen ! Hätten wir es getan, wären uns viele Irrwege erspart geblieben.
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Kommentar von Hildegard Hardt
Und selbst wenn Sie Russin wären, liebe Frau Neigel, würde ich Sie niemals verachten!
Ich habe mir, trotz aller schlimmen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, auch einige gute bewahrt.
Meine Familie war vor den Bombenangriffen auf Berlin nach Gransee geflohen und auf einem kleinen Bauerhof untergekommen. Ganz bald bekamen wir russische Einquartierung, vor der wir uns sehr gefürchtet hatten, aber es kam alles ganz anders.
Leutnant Sjeroscha und seine zehn Soldaten taten uns nichts, sondern beschützten uns vor Übergriffen. Mein Vater spielte mit dem Leutnant ab und an Schach, verarztete nach Übungsmärschen so manche Blase und operierte sogar einmal einen eingewachsenen Nagel. -
Ich erinnere mich noch ganz genau an jenen Abend, an dem der ganze Trupp im Keller saß, aus einer verzinkten großen Milchkanne mit der Halbliter-Kelle Wodka in Becher goß und dazu Apfelmus gegessen wurde. Sjeroscha nahm mich auf seinen Schoß, fütterte mich mit Apfelmus und sang mit seiner tiefen Stimme russische Lieder. Seitdem liebe ich russische Volksmusik und weiß, daß die russische Seele groß und warmherzig sein kann.
Nach einem halben Jahr wurde die Gruppe abkommandiert und es war ein trauriger Abschied. Sjeroscha hatte etwas Deutsch gelernt, umarmte uns alle und sagte zu meinem Vater: "Danke Doktor, du guter Mann."
Danach kamen Polen auf den Hof. Was sie anrichteten schäme ich mich zu schreiben.