Dazu muss ich kurz ausholen:
Stefan war der „gefühlt beste Chef“, den ich jemals hatte. Nicht nur Stefan selbst, sondern auch seine Mode-Agentur ist außerdem wahrscheinlich am stylischsten in der Hauptstadt – er selbst ein charismatischer Mittvierziger mit bestechenden, hellblauen Huskyaugen, extraweißen Zähnen und einem feinen Riecher für jeden neuen Trend.
Seine Agentur und die Räume an erster Adresse in Berlins hipper Mitte ganz „arty“ im Gallery-Style, ein Showroom mit echter Kunst an den mattierten Rohbeton-Wänden, durch bodentiefe Fensterfronten auch von außen einsehbar.
Und das Team in seiner feinen Agentur, wo ich für ein Luxus-Modelabel zuständig war, ist das wohl auch netteste, mit dem ich jemals gearbeitet habe.
Kein Vergleich zu dem Radiosender, wo ich mir bis zu meinem Studienabschluss Sporen und Geld verdient hatte und wo es so spontane Karrierekicks gab wie für die Sekretärin unseres Chefs, als der nach einer gemeinsamen Kurz-Dienstreise spontan ihre Eignung zur Morgenmoderatorin entdeckte.
Auch kein Vergleich zu dem Kamerateam, mit dem ich über Jahre als Reiseredakteurin Reportagen in der ganzen Welt drehte, das eine eigene WhatsApp-Redaktionsgruppe hatte, in der ich als einzige Frau im Team und zeitweise Hauptredakteurin außen vor war, da sich die Jungs dort wohl „private Messages“ und „Bildchen“ zuschickten. Unvergessen mir selbst meine eigene (Fremd-)Schamesröte, als ich auf dem Rückweg vom Auslandsdreh unbeabsichtigt mal einen kurzen Blick darauf hatte, bevor der Bildschirmschoner alles verhüllte.
Und erst recht kein Vergleich zu manch nörgelnden Kunden, für die ich gearbeitet habe, die gerne mal meine Rechnungen über ein halbes Jahr auflaufen ließen, weil sie die, wahrscheinlich ohne bösen Willen aber trotzdem existenzbedrohend, in Stapler-Messie-Manier einfach nicht in ihr Headquarter weitergeleitet hatten.
Stefan und ich trennten uns zu Anfang der Pandemie, als klar wurde, dass die Luxusbranche und auch die Töpfe, die an ihnen hängen, starke Einbußen erleiden würden.
Genaugenommen war das nicht ihm, aber mir von Anfang an klar.
Der Lifestyle-Sprech wurde mir zunehmend unerträglich zu dieser Zeit, ebenso wie das Politik-Pathos in der Bundespressekonferenz, gleich um die Ecke von unserem Büro, als parallel mit dem Grundgesetz der letzte Rest meines Grundvertrauens in Staat und Zukunft in den Boden gestampft wurde. Und damit auch meine Bereitschaft, weiterhin für den Mainstream zu arbeiten. Ich wechselte zu der Zeit zu den Alternativen Medien.
Stefans Thema blieb derweil Lifestyle und Markenkommunikation – er nutzte seine guten Society-Kontakte, immer am Trend der Zeit und noch vorneweg, um damals wahrscheinlich als einer der Ersten in Berlin an den Piks zu kommen.
Unvergessen aus dieser Zeit aber unsere Agentur-Weihnachtsfeiern und Sommerfeste – Champagnerströme im Soho House oder auf der Dachterrasse von Stefans Loft über den Dächern von Berlin.
Ich liebe Stefan als einen Menschen, dem man guten Gewissens unterstellen kann, dass er stets mit den besten Absichten handelt. Eine dieser Absichten ist offenbar immer noch, mich irgendwie in seinem Team als Schreiberin zu behalten, auf jeden Fall aber mit mir in Kontakt zu bleiben.
Also lud er mich ein zum traditionellen Sommer-Teamevent seiner Agentur. Ich war erstaunt – oder irgendwie auch nicht, denn es passte zu Stefan.
Das Sommerfest dieses Jahres war, ganz nach dem PR-Motto „Tu Gutes und sprich drüber“, ein Luxusdinner auf seiner durchgestylten Loft-Dachterrasse, aber davor – jetzt kommt das Wichtige! – das Kontrastprogramm: Einer gemeinsame Vormittagsschicht im Welcome-Center der Berliner Stadtmission am Berliner Hauptbahnhof, der ersten Anlaufstation für ukrainische Flüchtlinge in der Hauptstadt.
Ihre Unterstützung zählt
Nach kurzer Überlegung sagte ich zu, dabei auch im Kopf habend, dass es immer besser ist, sich selbst ein Bild zu machen – frei nach Alexander von Humboldt –, mein Motto für die Reisebranche, der ich jahrelang verbunden war: Nichts ist gefährlicher als die Weltanschauung von Menschen, die sich die Welt nicht angeschaut haben.
Ein weiterer Grund für den Sprung über meinen Schatten war, dass das eine interessante Erfahrung als Basis für einen Artikel sein könnte. Und dass diejenigen, die flüchten müssen, Hilfe und Unterstützung brauchen, da sie die eigentlich Leidtragenden in diesem Battle der Player und Profiteure der geopolitischen Interessenslagen, die ihren Ausdruck in diesem Krieg finden, sind.
Stefan und sein – vielleicht typisch für Berlin oder für den momentanen Zeitgeist – fast schon klischeehaft woke-schwul-stylisches Team von sechs Leuten hatte mehrheitlich im Sinn, etwas Gutes zu tun, so sagten sie es selbst an dem Tag. Also hin da, obwohl ich es für meinen Teil anders ausdrücken würde: Sie wollen dazugehören und sich selbst „als Gute“ fühlen.
Davon mal abgesehen, tauchten bei der Charity-Aktion nur drei – Stefan, Carlos und ich – auf, der Rest sparte sich „die gute Tat“ und kam dann erst zum Kontrastprogramm, der Shrimps-Edelrosé-Party mit Fernsehturm-Blick auf Stefans Dachterrasse. Dazu später mehr.
Aus unserem Team waren also drei freiwillige Helfer zur Zehn-Uhr-Schicht im Zelt am Hauptbahnhof angetreten. Wir erhielten das Briefing und bunte Helferwesen von Antje, die vorher in einem Pfarramt gearbeitet hatte und seit April fest bei der Berliner Stadtmission arbeitet.
Knapp fünfzig Mitarbeiter aus dem festen Team der Berliner Stadtmission sind hier am Hauptbahnhof involviert, um den aus der Ukraine ankommenden Geflüchteten die Ankunft zu erleichtern und organisieren.
Über einen Link auf einer Liste kann man sich als Ehrenamtlicher vorab registrieren und sieht, in welcher Schicht noch Helfer gebraucht werden und für welchen Bereich.
Zusätzlich zum festen Einlasspersonal, zu Security, Ärzten, psychologischer Hilfe und Kinderbetreuung waren wir bei unserer Schicht sechs Ersthelfer.
Xenia aus Russland, die mit einem Ukrainer verheiratet ist und seit drei Jahren in Berlin lebt, wird als Dolmetscherin eingesetzt. Sie kommt immer wieder zu mir und erzählt, dass sie sich aus psychischen Gründen jetzt zum ersten Mal in der Lage sieht, hier zu helfen. Ihre Familie sei durch dieses Thema gespalten.
Meine zwei Kollegen sind fleißig an der Essens- und Kaffee-Ausgabestelle, ich besetze den Sanitärartikel-Stand gleich daneben. Ein Carsten, der nur kurz bei der Einführung gesehen ward, übernimmt die Begleitung der Geflüchteten, inklusive Gepäcktragen, auf dem Weg vom Zelt-Ausgang zum Bus nach Tegel.
Dieser fährt circa alle 30 Minuten zum Auffanglager im ehemaligen Flughafen, wo die Ankömmlinge nach der Erstversorgung im Welcome-Zelt die Möglichkeit von bis zu drei Übernachtungen und weitere Hilfe bekommen.
Das klimatisierte Zelt ist mäßig gefüllt, es ist ein entspannter Durchlauf, kaum Schlangen an den Ausgabestellen, die Biergarnituren nicht mal zu einem Drittel besetzt.
Manchmal kommen aber auch so um die 200 Menschen gleichzeitig an, oft auch spätabends, erzählt Antje, wenn ein Zug aus Richtung Osten im Hauptbahnhof eingerollt ist. Die wollen dann versorgt werden mit den inzwischen weniger gewordenen freiwilligen Helfern, vor allem in der Nachtschicht.
Nach inzwischen vier Monaten hat nicht nur die Anzahl der Helfer nachgelassen, sondern auch der Flüchtlingsstrom. Täglich kämen immer noch zwischen 2.000 bis 3.000 Schutzsuchende hier ins Zelt zum ersten Anlaufpunkt für Geflüchtete.
Es gibt einen Rückzugsbereich für Frauen (gedacht für die mit Babys), daneben in einer Ecke schlafen gerade zwei in Decken gehüllte Männer auf zwei Liegen, nur ein paar Meter weiter eine belebte Kinderspielecke, draußen vor der bewachten Tür steht ein Container mit ärztlicher Betreuung für den Bedarfsfall.
Jeder, der ins Zelt kommt, erhält eine Marke, mit der er sich an der Versorgungsstation Kaffee und Wasser, ein Sandwich, Apfel, Banane holen kann.
Gleich daneben gebe ich an der Hygiene-Station Tampons, Binden, Babywindeln, Babynahrung in Gläsern und als Milchpulverportionen, kleine Einmalfläschchen mit Haarwäsche, auf Nachfrage auch Covid-Tests und Masken heraus. Alles in Einzelstücken oder portioniert oder abgepackt, da die Gaben hier als Erstversorgung gedacht sind.
Zwischendurch kommt kurz jemand von der Security zu mir mit einem Tütchen, gefüllt mit einer Edel-Handcreme, Duft-Schaumbad, einem Schwangerschaftstest und einer Großpackung Wattestäbchen zur Verteilung – das hat jemand an der Tür als Spende abgegeben. Ich packe es zu den anderen Artikeln mit ins Regal.
Kaum einer hat hier mehr als Handgepäck dabei. Viele junge Frauen, auch mit Kinderwägen, sind im Zelt, oft zusammen mit älteren Frauen. Daneben ein paar, offensichtlich ursprünglich aus Afrika kommende junge Männer an der Sandwich-Station. Und dann noch drei oder vier, die eher nach arabischer Welt als nach Ukraine aussehen.
Unabhängig von der Optik hatte ich auch im Kopf, dass junge Männer im Moment die Ukraine gar nicht verlassen dürfen. Derweil haben sich direkt in Sichtachse ein oder zwei Roma-Großfamilien auf drei Biergarnituren verteilt.
Von W-Lan bis Wasser, von medizinischer Grundversorgung bis Milch fürs Baby: Es ist für alles gesorgt in diesem Willkommensbereich, alles scheint top durchorganisiert, in drei Sprachen beschriftet, durchdacht, jede Situation und Eventualität vorweggenommen und perfekt durchplant zu sein. Doch warte … nein, nicht an alles ist gedacht: An etwas Wesentliches scheint man hier vergessen zu haben:
Ich frage Antje bei der Einführungsrunde, ob und wie der Einlass geregelt wird, ob die Geflüchteten irgendwie zugeordnet, registriert, Ausweise kontrolliert werden oder Ähnliches. Ich deute dabei auf die jungen Männer und die Großfamilie. Nein, keine Kontrollen, keine Statistik.
Eigentlich muss jeder Ankömmling am Eingang durch einen Klicker gezählt werden, so wie man es aus dem Flugzeug kennt. Die Anzahl soll man dann nach Zeitsegmenten in Listen festhalten. Das gleiche Procedere dann am Ausgang bei dem, der diese Erstanlaufstelle wieder verlässt.
In dem Moment, als sie mir das erzählt, liegt neben mir direkt bei der Eingangstür auf einem unbesetzten Counter eine verwaiste Liste. Keiner da, der diese führt oder den Klicker betätigt. Über meinen Hinweis darauf wird freundlich hinweggelächelt, nach dem Motto „So ist es halt.“
Nach drei Stunden, die an den Ausgabestellen wie im Flug vergehen, ist 13 Uhr. Schichtende. Ich verlasse nach circa 120 verteilten, einzeln verpackten Damenbinden (der Sanitär-Bestseller übrigens in allen Altersgruppierungen) die Willkommenshalle. An der Ausgangstür hängt in Augenhöhe auch eine ungeführte oder nicht aktualisierte Liste der ausgecheckten Ankömmlinge, daneben ein Klicker, unbenutzt am Türrahmen baumelnd.
Das ist interessant, ich frage nach: Antje mit den freundlichen Lachfältchen um die Augen erzählt mir, dass eigentlich die Liste des Busfahrers am aussagekräftigsten ist. Denn der bringt diejenigen nach Tegel, die nach der Erstversorgung im Zelt für maximal drei Nächte im ehemaligen Flughafen unterkommen. Dort findet auch die Registrierung der Geflüchteten
Ihre Unterstützung zählt
Auch ihr Kollege, ein sympathischer brauner Lockenkopf, der unseren Schicht-Check out via QR-Code übernimmt, bestätigt es: Viele Ukrainer, die bereits in der Stadt sind, nutzen den quasi „barrierefreien“ Zugang zum Zelt, um zu essen und sich zu treffen, zum Austausch, und um Tipps über SIM-Karten und sonstiges Organisatorisches zu bekommen.
So erklären sich mir jetzt die Hand- statt Reisetaschen. Viele gehen hier also zum Mittagessen, was ja eigentlich nicht der Zweck ist. Als ich dezent nachfrage, wird irgendwie bedröppelt weggeschaut, ausgewichen, und ich höre „Ist ja auch gut zu helfen.“
Ja, ist es auch, generell, dass geholfen wird, wo Not am Mann ist. Aber die Themen, um die es eigentlich geht, werden auch hier nicht angesprochen. Was mit all den Namenslosen, die unidentifiziert ins Begrüßungszelt rein- und auch wieder rausspazieren und nicht zur Registrierung fahren, passiert, weiß keiner und scheint auch niemanden zu interessieren.
Wer hier reinmarschiert und sich am Buffett bedient, wird mitversorgt, aber nicht registriert. Man weiß nicht einmal, wer er eigentlich ist. Erst recht nicht, wie viele es waren am Ende.
Die, die hier arbeiten, sei es fest im Team oder als Freiwillige, machen in diesem System einen Zahnrad-Job und leisten dabei ihren Beitrag, wollen arbeiten und helfen oder einfach nur ehrenamtlich helfen.
Und fühlen sich ganz offensichtlich sehr gut damit – mein Kollege Carlos meldet sich nach Schichtende gleich für einen nächsten Freiwilligen-Einsatz am Wochenende an.
Auf meine Bemerkung „Ist auch krass, dass hier überhaupt nicht registriert oder kontrolliert wird, und jeder sich bedienen kann, oder?“ antwortet mir mein Ex-Chef Stefan: „Also ich finde es ja super, dass hier geholfen wird, dass alle was bekommen. Toll, dass wir das gemacht haben als Teamevent, ich finde es mega.“ Wahrscheinlich stelle ich mich nur mit dieser Bemerkung schon in die braune Pfui-Ecke.
Den Sinn oder Unsinn des großen Ganzen hier scheint niemand im Auge zu haben, noch weniger infrage zu stellen. Die eigentlichen Fragen, das Offensichtliche betreffend, werden nicht gestellt von denen, die nah dran oder mittendrin sind. Stattdessen so etwas wie Aktionismus, eingelullt mit einem Deckmantel des Gutmenschentums, durchwebt mit politischer Korrektheit.
Was mich in den drei Stunden Mitwirkung und Beobachtung darauf bringt – ganz nach dem Motto „Wie im Großen so im Kleinen“ –, dass mir diese 600 Quadratmeter große Willkommenshalle vorkommt wie ein Spiegel der aktuellen Themen, die unser Land, unsere Gesellschaft schon jetzt spalten, und in denen zukünftige Eskalationen vorprogrammiert sind:
Jeder kann hier einfach reinkommen, quasi ungehindert reinspazieren; ob sein Anliegen der ursprünglichen Bestimmung der Hilfe entspricht, scheint völlig egal zu sein.
Wer kommt, weiß niemand wirklich, da selbst die eigentlichen Listen, die geführt werden sollten, leer bleiben. Was automatisch dazu führt, dass es am Ende noch nicht einmal eine verlässliche Zahl oder gar Statistik gibt. Jeder, der einmal da ist, darf sich am Buffett bedienen, und an dem, was der Staat und damit die besteuerten Bürger dieses Landes, die sich hier teilweise im Ehrenamt noch zusätzlich engagieren, sonst noch bereitstellen.
Beispiel? Genau gegenüber von meinem Einsatzort, auf der anderen Zeltseite, wurde ein fester Stand mit zwei Mitarbeitern installiert, die sich um die Roma-Familien kümmern, die regelmäßig hierherkommen und während meiner kurzen dreistündigen Einsatzzeit als Ehrenamtliche auf drei Biergarnituren verteilt Lunchtime hatten.
Diese zwei „Aufpasser“ am Info-Counter sind selbst Sinti und/oder Roma, sprechen deren Sprache Romanes, arbeiten als Dolmetscher und „sorgen auch dafür, dass die Regeln im Zelt eingehalten werden“, wie Jutta es recht unkonkret und irgendwie ausweichend ausdrückt. Ich fasse zusammen:
Auch Menschen, für die genau diese Hilfsmittel hier nicht finanziert worden sind, haben unkontrollierten Zugang, werden nicht einmal identifiziert oder registriert, und bekommen on top noch einen durchfinanzierten Extraservice, der sicherstellen soll, dass sie sich „benehmen“, an die hier herrschenden Regeln halten. (Was wohl nicht eingeführt worden wäre, wenn nicht Notwendigkeit bestanden hätte.)
Natürlich muss man ein „Problem managen“, wenn man es hat, Lösungen finden. Aber kann die Lösung sein, dass man es sich zusammen mit dem Problem bequem macht, sogar noch darein investiert, indem man Ressourcen bereitstellt, um es zu managen, statt es an der Wurzel zu packen?
Diese Art Gruppenzwang zur politischen Korrektheit, die Tabuisierung und zunehmende Unaussprechlichkeit des Offensichtlichen unter dem Deckmantel des Gutmenschentums scheint dieses zu verhindern.
Auch der Umgang, von bezahlten Mitarbeitern und freiwilligen Helfern gleichermaßen, mit alldem im „Mikrokosmos Zelt“, kommt mir vor wie ein Abbild dessen, was in der Gesellschaft passiert:
Die wenigsten kommen auf die Idee, das Grundprinzip zu hinterfragen. Veränderungen werden nur innerhalb der Vorgaben vorgenommen, als willfähriges Rädchen im Gesamtgetriebe Details und Organisation optimiert – statt die eigentliche Schieflage zu benennen, geschweige denn anzugehen.
Die Tabuthemen und damit auch das zukünftige Eskalationspotenzial unserer Gesellschaft scheinen hier unter der Lupe in einer klimatisierten Willkommens-Halle versammelt und sichtbar gemacht. Für die, die bereit sind, hinzuschauen.
Ansonsten werden die eigentlichen Themen weggedrückt, marginalisiert, verschwiegen oder verdrängt. Das alles gedeckelt mit einer persönlichen Aufwertungserfahrung, etwas Gutes zu tun. Wahrscheinlich auch verbunden mit dem sicheren Gefühl, auf der richtigen Seite zu sein.
Eher auf der falschen Seite, oder in einem längst vergangenen Film, fühlte ich mich im zweiten Teil der Sommerparty nach vollbrachter „guter Tat“ in der Willkommenshalle auf Stefans Dachterrasse, in der Sichtschneise des Fernsehturms zwischen üppigen Grünpflanzen in großen Töpfen.
Jetzt sind alle vom Team da. Es gibt Shrimps satt bis sich der Designer-Tisch biegt, eiskalten Rosé aus Kristallgläsern und exaltiert vorgetragene Anekdoten aus der Berliner Society, wahlweise über alternde Instagram-Influencerinnen, befreundete Designer oder auch vom heutigen Tag, wie eine über den „ertappten“ Crack-Raucher im Toiletten-Container des Welcome-Zeltes.
Vorgetragen von netten Menschen. Die es gut meinen. Und Gutes tun wollen. Und bereit sind, sich für das zu engagieren, was sie für gut halten oder sie vermeintlich zum guten, besseren Menschen macht.
Ich bin raus, merke ich einmal mehr, eigentlich schon seit über zwei Jahren. Egal, wie nett mein Chef und seine Kollegen und die Kollegen sind.
Als ich im Sonnenuntergang mit einigem Rosé im Kopf im Uber durch das Regierungsviertel zurück nach Hause nach Wilmersdorf fahre, fällt mir noch etwas ein, was dieses Welcome-Zelt vielleicht am meisten zu einem Spiegel dessen macht, was gerade wirklich schief läuft in dieser Gesellschaft, speziell in der – ich nenne es mal – “Corona-Zeit“:
Es werden keine Daten erhoben. Es gibt offensichtlich unbegrenzt Gelder, um Maßnahmen durchzuführen. Genauso wie Hilfsgelder, nicht unbedingt fürs Ahrtal, aber dafür umso mehr, um Flüchtlingen zu helfen und jeden hier nicht nur gepampert, sondern auch ungeprüft und im Zweifelsfall auch unlegitimiert ankommen und an unserem Sozialsystem nahezu barrierefrei teilhaben zu lassen.
Diese ausufernden Budgets gibt es offensichtlich auch, um über Jahre Corona-Maßnahmen durchzuführen, inklusive Werbekampagnen für Impfungen, Milliarden-Vakzin-Einkäufe, Massentestungen etc. Dabei wird oft vergessen: Diese Gelder werden aus dem Steueraufkommen bereitgestellt. Und müssen, auch offiziell, gerechtfertigt werden, denen gegenüber, die bezahlen.
Gerade letzte Woche im langerwarteten Bericht des Sachverständigenausschusses über Sinnhaftigkeit und Auswirkungen der Coronamaßnahmen zeigte sich, dass Hunderte Milliarden Euro des Steuerzahlers faktisch verbrannt worden sind und ein Großteil dieses Versagens in der Nicht-Erhebung von Daten bestand.
Auch in dem Willkommenszelt wird einfach keine Liste geführt und damit ist auch keine Statistik möglich, wie es ganz konkret zu diesem Fass ohne Boden kommt. Das gleiche Prinzip, die gleiche Struktur. Im Welcome-Zelt genauso wie im „besten Deutschland aller Zeiten“.
Nachsatz: Kurz bevor ich meine Haustür aufschloss fiel mir noch ein, aus der Erfahrung dieser drei Stunden so vorbildlich und perfekt durchorganisierter und umgesetzter Willkommenskultur gegenüber jedem kriegsgebeutelten Ukrainer und einigen anderen Menschen heraus, dass ich wirklich nicht verstehen kann, wie ein Botschafter Melnyk es überhaupt wagen kann, zu sagen, dass die Ukrainer sich nicht wohl und willkommen fühlen hier bei uns.
Denn nicht nur die geflüchteten Ukrainer, sondern viele andere auch, kommen in Deutschland in den Genuss einer nahezu naiv-aufopfernden Willkommenskultur, nicht nur durch den Staat, sondern auch durch viele seiner “Gut-Mensch-sein-wollenden“ Steuerzahler.
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