Die beste Wahrheitskommission besteht aus erfahrenen Ermittlern, Staatsanwälten und unabhängigen Experten

Es geht um Schuld und Sühne und Wiedergutmachung

von Hans-Georg Maaßen (Kommentare: 3)

Wir sind hier im Bereich von schweren Menschenrechtsverletzungen. Und eine Entschuldigung ist in diesem Bereich die völlig falsche Reaktion.© Quelle: privat

Dr. Maaßen am Montag über die Frage der Aufarbeitung des Corona-Regimes, über das deutsch-israelische Verhältnis und über ein Bundesverfassungsgericht, das seine Aufgabe nicht erfüllt.

Alexander Wallasch: Glauben Sie an den baldigen Rücktritt des Bundesgesundheitsministers?

Hans-Georg Maaßen: Nein, daran glaube ich nicht. Rücktritt ist ein freiwilliges Gehen, und ich glaube nicht, dass er freiwillig gehen wird. Und ich sehe auch nicht, dass Bundeskanzler Scholz ihn entlassen wird. Vielleicht mag ich mich täuschen, aber auch das, was in den letzten Tagen einigermaßen für Furore gesorgt hat, nämlich das Eingestehen von schweren Impfnebenwirkungen durch Minister Lauterbach, hat jedenfalls nicht zu Rücktritts- und Entlassungsforderungen geführt, weder im Parlament noch im Bundeskabinett, so dass er als Minister aus meiner Sicht nicht gefährdet ist.

Alexander Wallasch: Die „Welt“ hat jüngst von einem „Team Lauterbach“, und damit sind „Politiker, Wissenschaftler und Journalisten“ gemeint, eine Entschuldigung beim Fußballspieler Joshua Kimmich gefordert. Der junge Mann hatte Ende 2021 Bedenken gegen die Impfung geäußert wegen möglicher Spätfolgen und ist daraufhin laut der Zeitung „gejagt“ worden. Aber wie sollte denn so eine Entschuldigung aussehen?

Hans-Georg Maaßen: Der Begriff „Entschuldigung“ ist der völlig falsche Ausdruck. Wir sind hier nicht in der Welt der Moral und des Anstands, wo man sich dafür entschuldigt, wenn man zum Beispiel jemandem in der U-Bahn versehentlich auf den Fuß getreten ist oder wenn man zuhause vergessen hätte, beim Abspülen zu helfen. In den Fällen ist der Ausdruck „Entschuldigung“ passend.

Es geht hier um eine ganz andere Kategorie als um Moral und Anstand. Wir reden hier über schwere Impfnebenwirkungen, Menschen, die infolge der Impfung verstarben oder schwere bleibende körperliche Schäden davontragen. Es waren ursprünglich gesunde Menschen, die sich sicherlich nicht zur Impfung und damit zum Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit bereit erklärt hätten, wenn sie über die Risiken von Impfnebenwirkungen ehrlich aufgeklärt worden wären.

Wir reden auch über Menschen, die als Impfunwillige diffamiert, sozial ausgegrenzt wurden, wodurch sicherlich zahllose Personen wirtschaftliche Nachteile erlitten oder durch das kollektive Mobbing psychisch geschädigt wurden. Und wir reden darüber, dass die Risiken von Impfnebenwirkungen verschwiegen oder kleingeredet wurden und dass Menschen, die vor Nebenwirkungen warnten, diffamiert, beleidigt und dem medialen Mob ausgesetzt wurden.

Das sind alles keine Kleinigkeiten, die man mit einer Entschuldigung, einem "Das tut mir leid“ oder "Wir haben uns gegenseitig viel zu verzeihen“ wegwischen kann. Wir sind hier im Bereich von schweren Menschenrechtsverletzungen. Und eine Entschuldigung ist in diesem Bereich die völlig falsche Reaktion. Es geht hier um Schuld und Sühne und um Wiedergutmachung. Und es geht um eine komplette strafrechtliche Aufarbeitung dessen, was in den vergangenen Jahren geschehen ist. Deshalb bedarf es aus meiner Sicht einer intensiven juristischen Aufarbeitung mit Aktenstudium und Vernehmungen der maßgeblichen Personen.

Was waren die Hintergründe der politischen Entscheidungen über die Impfkampagne? Wer wusste was über Impfnebenwirkungen und warum wurden sie verschwiegen? Warum wurden Impfkritiker diffamiert und mundtot gemacht und wer war dafür verantwortlich? Das muss alles ans Tageslicht und aufgearbeitet werden. Und dann muss auch über die Wiedergutmachung gegenüber den Opfern gesprochen werden.

Es geht hier nicht darum, politisch-administrative Entscheidungen im Zusammenhang mit der Impfkampagne pauschal zu kriminalisieren. Manche dieser Entscheidungen, auch wenn sie sich als falsch und als ursächlich für gesundheitliche Schäden herausstellen können, könnten strafrechtlich gerechtfertigt oder entschuldbar sein. Andere aber auch nicht. Und das bedarf eingehender Ermittlungen und einer sorgfältigen juristischen Analyse. Die öffentliche Forderung nach einer Entschuldigung bei den Opfern kann also nur der allererste Schritt sein, ein Zeichen, dass der Wind sich dreht.

Alexander Wallasch: Die CDU hat jetzt eine Enquete-Kommission gefordert. Ist das ausreichend?

Hans-Georg Maaßen: Nein, das ist natürlich nicht ausreichend. Wie ich sagte, geht es um eine juristische und damit auch strafrechtliche Aufarbeitung, bei der man erfahrene Ermittler und gestandene und persönlich unabhängige Staatsanwälte braucht. Eine Enquete-Kommission ist eine überfraktionelle Arbeitsgruppe von Politikern und Experten, die für das Parlament Vorschläge für ein politisches Handeln erarbeiten soll. Im Zweifel sitzen in dieser Kommission auch die Leute, die an den Entscheidungen mitgewirkt haben oder die sie politisch unterstützen, und damit Politiker, die kein Eigeninteresse daran haben, dass die Wahrheit ans Tageslicht kommt. Aus meiner Sicht besteht die beste Wahrheitskommission aus erfahrenen Ermittlern und Staatsanwälten, die sich von unabhängigen Experten unterstützen lassen.

Alexander Wallasch: Die Amerikaner sind hier schneller, die haben schon Befragungen, Verhöre, Kommissionen, auch die Engländer kommen schneller voran. Die Deutschen hängen etwas hinterher. Warum sind die anderen da schneller als wir?

Hans-Georg Maaßen: Zum einen liegt dies sicherlich daran, dass in Politik und bei Haltungsmedien vielfach kein Interesse an einer Aufarbeitung besteht. Sie wollen es nicht, weil sie in irgendeiner Weise daran beteiligt waren. Sie haben ein Eigeninteresse, dass zum Beispiel ihre Rolle und Verantwortung nicht zur Sprache kommt, oder sie wollen schlicht nicht mehr an ihr eigenes Versagen erinnert werden. Zum anderen ist der Druck von den Opfern, den Betroffenen und anderen Medien wohl noch nicht so groß, dass dies derzeit zu einer Aufarbeitung führt. Aber ich kann mir vorstellen, dass sich dies auch in Deutschland ändern wird.

Alexander Wallasch: Vielleicht haben Sie es auch im Alltag erlebt: Da gibt es Nachbarn, die verstehen gar nicht, wovon man redet, die verstehen überhaupt nicht, was mit Schrecken des Corona-Regimes gemeint sein könnte. Woher kommt eigentlich diese Kluft in der Wahrnehmung? Manche Mitbürger verstehen gar nicht, was man denen erzählt.

Hans-Georg Maaßen: Ich führe es darauf zurück, dass die Bevölkerung bei der Wahrnehmung dessen, was um sie herum passiert und warum Politik bestimmte Entscheidungen trifft, in zwei Lager gespalten ist.

Das eine Lager hinterfragt Meldungen der Mainstreammedien und politische Entscheidungen nicht, sondern glaubt reinen Herzens an ihre Richtigkeit und Vernünftigkeit. Diese Bürger glauben auch den Warnungen der Haltungsmedien vor sog. umstrittenen Personen, vor Schwurblern, Rechtspopulisten oder Verschwörungstheoretikern.

Die Bürger aus diesem Lager mögen zwar intelligent und akademisch gebildet sein, ihnen fehlt aber in Teilen die politische Urteilskraft und das Vermögen zu eigenständigem politischem Denken. Sie leben und denken nach der Devise „Wenn die Tagesschau oder der Herr Drosten das sagen, dann stimmt es.“

Sie hinterfragen nicht, sondern sie glauben. Und wenn die Tagesschau oder ein anderes Mainstreammedium sagt, dass eine bestimmte politische Position oder eine Person gefährlich, böse oder rassistisch ist, dann glauben sie es auch. So dürfte es auch vor der Aufklärung gewesen sein, wenn ein Ketzer die Jungfräulichkeit Mariens infrage stellte oder erklärte, die Erde sei keine Scheibe, sondern eine Kugel. Diese Ketzer waren für die gewöhnlichen Gläubigen nicht nur Ketzer, sondern regelrechte Ungeheuer, die bekämpft werden sollten.

Und dann gibt es das andere Lager, das derzeit sehr stark wächst, und das sind die Menschen, die eine eigene politische Urteilskraft entwickelt haben, die Nachrichten und politische Positionen hinterfragen und die Autoritäten infrage stellen. Und dieses Lager wächst deshalb sehr stark, weil es immer mehr Menschen gibt, die die zunehmende Diskrepanz zwischen „berichteter Wahrheit“ und dem, was sie in ihrem eigenen Leben und Erleben wirklich wahrnehmen, erkennen und damit die Autorität des Haltungsjournalismus und von Politikern in Zweifel ziehen.

Man kann sagen, sie werden durch eigenes Erleben und Vergleichen wach. Wenn zum Beispiel ein Bürger den Aussagen von Politikern und Medien vertraute, dass die Corona-Impfung nebenwirkungsfrei ist, er aber in seinem privaten Umfeld wahrnimmt, dass Menschen unmittelbar nach der Impfung schwer erkranken, dann stellt er die Autorität der Haltungsmedien und von Politikern infrage. Mehr noch, er fragt sich, ob er nicht auch schon in der Vergangenheit bei anderen politischen Themen zu leichtgläubig war.

Und die Zahl dieser Menschen, die zwischen der „berichteten Wahrheit“ und dem, was sie persönlich erleben, eine wachsende unüberbrückbare Kluft sehen, nimmt täglich zu.

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Alexander Wallasch: Die Berliner „taz“ nennt den israelischen Regierungschef „korrupt“ und „Partner von Rechtsradikalen“. Fazit der Zeitung ist: Scholz hätte Netanjahu nicht einladen dürfen. Ist das besondere Verhältnis zwischen Israel und Deutschland wirklich für solche Spielereien geeignet?

Hans-Georg Maaßen: Ich weiß nicht, ob die Korruptionsvorwürfe gegen Ministerpräsident Netanjahu substantiiert sind. Das ist ein innerisraelischen Thema, in das wir uns nicht einmischen sollten. Das Gleiche gilt auch für die Koalitionspartner von Ministerpräsident Netanjahu. Wenn es nicht um Israel geht, ist die politische Linke nicht so zimperlich, wenn es daraum geht, mit wem der Bundeskanzler sprechen oder Pressekonferenzen durchführen darf. Ich kann mich nicht erinnern, dass die politische Linke verlangt hätte, Bundeskanzler Scholz hätte den Chef der Fatah-Bewegung und seit 2009 nicht mehr demokratisch legitimierten Palästinenserpräsidenten Mahmut Abbas nicht einladen dürfen. Er war der Mann, der in Berlin in Anwesenheit des schweigenden Bundeskanzlers einen unsäglichen Holocaust-Vergleich machte.

Aber es geht mir hier auch um zwei andere Punkte: Erstens muss Deutschland – völlig unabhängig vom Besuch des israelischen Ministerpräsidenten – mit jedem ausländischen Regierungschef reden, wenn es in unserem nationalen Interesse ist. Und da spielt es in aller Regel keine Rolle, um wen es geht und wie er im Heimatland angesehen ist. Aber ich sage: In aller Regel und Ausnahmen muss es geben. Völlig inakzeptabel ist es, wenn der Bundeskanzler einen ausländischen Regierungschef einlädt und ihm unwidersprochen eine Bühne für antisemitische Ausfälle gibt.

Zweitens: Israel steht in einem besonderen Verhältnis zu Deutschland. Wir haben ein großes Interesse an guten Beziehungen zu Israel und an einer Stabilität von Israel. Wir unterstützen Israel und deshalb ist es wichtig, dass der Bundeskanzler, egal welche Gerüchte oder persönlichen Vorwürfe es in Israel über Ministerpräsident Netanjahu gibt, mit ihm als dem Regierungschef Israels Gespräche führt.

Alexander Wallasch: Angela Merkel hat Israels Sicherheit zur deutschen Staatsräson erklärt. Warum ist das ein wichtiges Bekenntnis? Oder sind Sie anderer Meinung?

Hans-Georg Maaßen: Ich bin nicht immer der gleichen Meinung von Frau Merkel gewesen. Was aber Israel angeht, stimme ich ihr ausdrücklich zu. Es ist mit Blick auf die historische Verantwortung Deutschlands wichtig, Israel zu unterstützen. Aber, das ist nur ein Grund: Es ist auch im nationalen Interesse den Staat Israel zu unterstützen, denn Israel ist der einzige demokratische und freiheitliche Staat in dieser Region.

Es ist in unserem nationalen Interesse, dass wir einen Freund und Partner in der Region haben, auf den wir uns verlassen können. Auf Grund vieler Gespräche mit meinen früheren Kollegen in Tel Aviv und in Jerusalem weiß ich, dass das der Fall ist. Die Israelis stehen uns von ihrer Mentalität, ihrem Freiheits- und Demokratieempfinden näher als andere Staaten dieser Region. Von daher hatte ich schon vor Jahren gefordert, dass Israel eher Mitglied der EU werden sollte als andere Staaten, die uns nicht so nahestehen.

Alexander Wallasch: Weil sie sagen „Freund und Partner“, man hat ja schon fast historisch auch das Gefühl, dass besonders aus linken Kreisen der Partner in der Region eher im Gazastreifen gesucht wird.

Hans-Georg Maaßen: Aus meiner Wahrnehmung empfinden sich sehr viele bei der politischen Linken als Fürsprecher der Palästinenser und als Kritiker Israels. Dies geht sogar so weit, dass man in diesem politischen Lager die Sympathie für die Palästinenser, für die arabische Welt und für den Iran und den damit auch immer wieder einhergehenden Hass auf Israel kaum mehr vertarnen kann. Der linke Antisemitismus ist eine Gefahr für jüdische Interessen in Deutschland.

Er wird kleingeredet, er wird in Teilen noch nicht einmal wahrgenommen. Linke Antisemiten zeigen nicht offen ihren Antisemitismus, sie sind nicht so blöde wie die rechten Antisemiten. Linke Antisemiten erklären ein „Nie wieder“ und unterstützen zugleich die Feinde Israels und lassen muslimische Antisemiten ins Land und tun so, als ob sie das nichts anginge. Auch haben wir eine interessante und beängstigende Verquickung von Antisemitismus und Kapitalismuskritik in der ökosozialistischen „Fridays vor Future“-Bewegung.

Alexander Wallasch: Mich wundert auch, dass man überhaupt glaubt, dass man sich überall positionieren muss.
Ich hatte es damals so verstanden, dass das Bestreben von Helmut Kohl, sich für die EU einzusetzen, auch davon motiviert wurde, dass Deutschland an mancher Stelle auch mal schweigen kann in der Gewissheit: Das machen jetzt mal unsere Partner, wenn es doch mal um Kritik an zum Beispiel israelischer Politik geht, dann soll das mal Frankreich machen, dann kann das England machen. Muss man sich dann eigentlich überall in solchen Problemfeldern auch positionieren, gerade mit dem deutschen Hintergrund?

Hans-Georg Maaßen: In der Tat, oftmals kann es  im nationalen Interesse sein, besser nichts zu sagen und sich nicht international zu positionieren, weil wir als europäische Mittelmacht nicht über die Informationen, die Zugänge und die Möglichkeiten verfügen, das Geschehen in anderen Teilen der Welt zu beeinflussen. Wir überschätzen unsere Rolle und internationale Bedeutung fortlaufend. Wir wollen uns außenpolitisch wie eine Großmacht verhalten und anderen Staaten Ratschläge geben oder Vorschriften machen, aber anders als eine Großmacht können wir weder diplomatisch, noch ökonomisch, noch militärisch unsere Positionen durchsetzen. Mein Eindruck ist, dass unsere Außenpolitiker mehr und mehr die Rolle von Missionaren und Predigern einnehmen als die von Diplomaten: Sie wollen andere missionieren, aber sie werden mangels ihrer außenpolitischen Durchschlagskraft nicht mehr ernst genommen. Das ist sehr schade.

Alexander Wallasch: Jetzt könnte man behaupten, dass Sie und andere ein Beispiel dafür sind, dass eben die intensive Aufarbeitung der NS-Zeit auch dafür gesorgt hat, dass wir vor totalitären Bestrebungen ein Stück weit geschützt sind. Ich frage mich das wirklich: Was ist da bei anderen, die sich heute wieder sehr totalitär gebärden, nur eben im vorrangig roten und grünen Gewand, so schiefgelaufen?

Hans-Georg Maaßen: Meine Überzeugung ist, wir haben den Nationalsozialismus nicht wirklich aufgearbeitet. Ich wiederhole mich in dem Punkt gern. Die Aufarbeitung ist also letztendlich gescheitert. Wir müssen in Teilen dankbar sein, dass die Alliierten uns die Nürnberger Prozesse abgenommen hatten, weil wir Deutschen vermutlich noch nicht einmal die Kraft dazu aufgebracht hätten, das selbst zu machen.

Die vielen Nazis, die nicht nur vom System persönlich profitierten, ob als Parteibonzen, Beamte, Richter, Professoren oder Unternehmer, sondern die auch dafür mitverantwortlich waren, dass die Verfassung der Weimarer Republik und Rechtsstaatlichkeit und Demokratie durch Willkür und Totalitarismus ersetzt wurden, konnten nicht nur nach dem Zweiten Weltkrieg weiter Karriere machen und ein sorgenfreies Leben führen, als wenn nichts gewesen wäre. Sie versteckten sich nicht nur in der Masse.

Sondern – und das ist der größte Vorwurf, den ich mache – sie schafften es, die ganze Bevölkerung in den Augen der Weltöffentlichkeit und im Laufe der Jahrzehnte auch in der Selbstwahrnehmung in das Boot der Täter, Profiteure und Mitläufer zu ziehen. Wir wären ja alle irgendwie Täter gewesen, so liest man das heute und spielt damit der linksextremistischen, sogenannten „antideutschen“ Lesart des Landes und seiner Geschichte in die Hände. Ja, viele Deutsche waren damals schwach, haben auch zum Teil an destruktiven Gruppendynamiken partizipiert, aber darüber hinaus war die breite Masse einfach gutgläubig und hat sich verführen und auch Angst machen lassen.[Die Weizsäckers oder Reemtsmas haben uns auch darüber hinaus und bis heute glauben gemacht, wir säßen alle in einem Boot. Es war aber eben keine Aufarbeitung gewesen, sondern man hat es sich zu leicht gemacht, indem man in Bezug auf die Angehörigen der sogenannten „Volksgemeinschaft“ aus der ganzen Bevölkerung und vielen Opfern Mittäter machte und aus Tätern Opfer.

Wir hätten hier eine ganz andere Aufarbeitung der NS-Geschichte betreiben müssen, nämlich die Täter viel breiter und flächendeckender zur Verantwortung ziehen. Stattdessen verheeren deren Nachfahren zum Teil noch heute die politische Landschaft in Deutschland mit ihren totalitären Ansichten, aber eben unter dem perfiden Deckmantel, aus der Geschichte gelernt zu haben.

Alexander Wallasch: Wenn Ihnen heute jemand sagt, der Vergleich der jetzigen politischen Verhältnisse mit dem Nationalsozialismus oder der DDR-Diktatur wäre nicht statthaft, das dürfe man nicht vergleichen, was wäre Ihre Antwort?

Hans-Georg Maaßen: Vergleichen ist nicht Gleichsetzen. Das ist ein ganz großer Unterschied. Das ganze Leben besteht aus Vergleichen. Man muss Waren und Preise vergleichen, man vergleicht Menschen miteinander. Man lernt es ja schon in der Schule, dass man verglichen wird, ohne dass man gleichgesetzt wird.

Ohne Vergleichen kann man letztendlich auch nicht seine eigene Meinung und seinen Standpunkt definieren, weil man immer den eigenen Standpunkt in Relation setzen muss zu Alternativen. Deswegen ist Vergleichen essenziell für das menschliche Leben.

Das heißt also, wenn wir heute unsere Politik bewerten und eine Standortbestimmung der heutigen Politik durchführen wollen, kann man es nur durch das Vergleichen machen. Dafür haben wir auch eine Geschichtswissenschaft, die das Rüstzeug zum Vergleichen gibt. Und auch da ist Vergleichen natürlich nicht Gleichsetzen.

Was wir in Deutschland heute erleben, das wird von vielen beanstandet als eine „Erosion des Rechtsstaates“, wie es der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Papier zum Ausdruck brachte. Ich nehme eine deutliche Einschränkung des Medienpluralismus gerade in den Staatsmedien wahr. Ebenso halte ich durch Political Correctness und Cancel Culture die Meinungsfreiheit für gefährdet.

Und wir sehen eine Erosion oder eine Deformierung des Parlamentarismus, wo man den Eindruck haben kann, wenn man Grüne wählt, bekommt man Grüne, wenn man SPD wählt, bekommt man Grüne, wenn man CDU wählt, bekommt man es auch. Um zu diesem Befund zu kommen, muss man vergleichen. Ich vergleiche es mit dem Rechtsstaat, der Meinungsfreiheit und dem Medienpluralismus im Deutschland der 1980er Jahre, an das ich mich noch sehr gut erinnern kann, und ich vergleiche es mit den Vorgaben und Versprechen des Bonner Grundgesetzes, das ich als junger Jurist studierte, ehe aus Abwehrrechten des Bürgers gegen den Staat Verhaltensanforderungen des Staates an den Bürger gemacht wurden.

Und natürlich kann man die heutige Situation in Deutschland auch mit anderen Zeiten der deutschen Geschichte vergleichen und kann dabei auch zu besorgniserregenden Erkenntnissen kommen.

Alexander Wallasch: Das Bundesverfassungsgericht hat unlängst 700.000 Euro für ein neues Corporate Design ausgegeben, für eine neue Außendarstellung, seine Internetpräsenz, neues Briefpapier und so weiter. Unter anderem haben sie den etwas streng dreinschauenden Bundesadler grafisch verniedlicht. Der Adler ist jetzt ein bisschen dicker und schaut mit geschlossenem Schnabel freundlicher. Was ist Ihr Eindruck von der aktuellen Rolle des Bundesverfassungsgerichtes?

Hans-Georg Maaßen: Ich bin sehr enttäuscht vom Bundesverfassungsgericht, das ich als junger Jurist verehrt hatte. Das Bundesverfassungsgericht war für mich immer der juristische Olymp gewesen. Heute wird es seiner Aufgabe nicht mehr gerecht, die freiheitlich demokratische Grundordnung kraftvoll vor totalitärem Gedankengut zu schützen. Es hat vielfach enttäuscht und versagt. Und ich glaube auch, dass die Erosion des Rechtsstaates, die Professor Papier beanstandet, auch auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurückzuführen ist.

Wenn hier 700.000 Euro für Corporate Design ausgegeben werden, dann habe ich den Eindruck, dass Karlsruhe sehr weit weg ist von den Problemen dieses Landes und der Bürger. Viele Bürger sind durch die Corona-Politik, durch die Politik im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg und durch die ökosozialistische Transformation unserer Gesellschaft in einer Situation, wo sie befürchten, in die Armut abzugleiten. Sehr viele Menschen drehen heute den Euro zweimal um, ehe sie ihn ausgeben, weil sie Angst vor Arbeitsplatzverlust haben und sich fragen, wie sie die Energierechnung bezahlen können.

In der Situation gibt das Bundesverfassungsgericht 700.000 Euro für Eigenwerbung aus. Ich habe dafür kein Verständnis. Auch wenn der Haushalt des Bundesverfassungsgerichtes dafür ausreichend Mittel vorsah, wusste das Gericht, dass es Steuergelder sind, die es mit Verantwortungsbewusstsein zu bewirtschaften hat. Wenn es in Deutschland immer mehr Menschen schlechter geht und sie verarmen, dann halte ich es für nicht zu verantworten, dass 700.000 Euro für Eigenwerbung ausgegeben werden.

Alexander Wallasch: Es gab große Kritik an der Wahl von Stephan Harbarth zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Er ist ein enger Vertrauter von Bundeskanzlerin Merkel gewesen, Bundestagsabgeordneter und Vize-Fraktionsvorsitzender der CDU.

Hans-Georg Maaßen: Das Richterwahlsystem wird schon seit Jahrzehnten als juristisch wie politisch sehr problematisch angesehen. Es hat sich ein Klüngelverfahren nach Parteiproporz entwickelt, das völlig intransparent ist und das den Parteipolitikern ein Übermaß an Einfluss auf die Gerichtsbarkeit gibt. Es wird nicht mehr vorrangig nach Eignung, Leistung, Befähigung und politischer Unabhängigkeit und Neutralität entschieden, sondern – und das gilt ganz besonders für das Bundesverfassungsgericht – es wird durchpolitisiert.

In den ersten 40 Jahren der Bundesrepublik hatte das noch keine gravierenden Auswirkungen, obwohl auch da schon vor einer Überpolitisierung der Justiz gewarnt wurde. Aber auch da gab es immer wieder Entscheidungen, die zeigten, dass Karlsruhe zu nahe an der Parteipolitik ist und dass mitunter parteipolitisch und nicht streng juristisch entschieden wurde. Aber man nahm diese Fälle als Einzelfälle wahr und nicht als eine Fehlentwicklung, die gefährliche Auswirkungen auf den Rechtsstaat haben kann.

In den letzten zwanzig Jahren jedoch hat sich diese Fehlentwicklung in Karlsruhe verschärft. Der Fall Harbarth ist ein vorläufiger Höhepunkt der personellen Fehlentwicklung beim Bundesverfassungsgericht. Der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende, der ganz nah an der damaligen Kanzlerin und Parteivorsitzenden war, wurde zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts gemacht. Sicherlich gibt es in Deutschland Hunderte anderer Juristen, die eine ähnliche oder deutlich bessere Qualifikation wie er aufweisen, aber ausgerechnet er, der der damaligen Regierungschefin politisch nahestand, wurde zum Verfassungsrichter und dann zum Gerichtspräsidenten gemacht.

Das ist nicht mehr die klassische Gewaltenteilung, die wir wollen, das ist auch keine Gewaltenverschränkung, sondern eine faktische Gewaltenverschmelzung, wenn man als Kanzlerin den Mann des Vertrauens zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts machen lässt. Das verletzt zwar nicht den Wortlaut des Grundgesetzes, aber widerspricht dem Geist des Grundgesetzes und dem Sinn der Gewaltenteilung. Eine derartige Gewaltenverschmelzung wollten die Väter und Mütter des Grundgesetzes sicherlich nicht.

Alexander Wallasch: Danke für das Gespräch!

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