Kann man bei diesem Großreinemachen noch von einer überfälligen Häutung sprechen?

Die Twitter-Files 5: Wie Donald Trump zu Twitters Sündenfall Nummer eins wurde

von Tara Grimm (Kommentare: 2)

„Wir müssen das Richtige tun und den Account sperren“, sagte ein Mitarbeiter. „Es ist ziemlich offensichtlich, dass er versuchen wird, eine Aufhetzung einzufädeln, ohne die Richtlinien zu verletzen“, sagte ein anderer.© Quelle: Youtube / NTD / Pixabay / Ralf Genge, Montage Bertolt Willison

Elon Musk und seine Twitter-Giftschrank-Entleerung geht nun schon in den fünften Durchgang. Vorgehensweise wie gehabt: Ausgewählte Journalisten präsentieren wie Minenhunde Tweet für Tweet die explosiven Fundstücke.

Am 8. Januar 2021, zwei Tage nach den bis heute nicht vollständig geklärten Vorgängen rund um das Kapitol in Washington D.C., sperrte Twitter dauerhaft den Account des damaligen amtierenden US-Präsidenten Donald J. Trump.

Was spielte sich an jenem Tag im Hauptquartier der einflussreichen sozialen Plattform ab? Wie lautete die Begründung für diesen historisch einmaligen Schritt? Hatte Trump tatsächlich die Twitter-Richtlinien so nachhaltig verletzt oder stand hinter den von den leitenden Twitter-Angestellten Roth und Gadde vorgebrachten Gründen eine gänzlich andere Motivation?

Mit einem Tag Verzögerung setzte die Journalistin Bari Weiss am Montag dieser Woche die Veröffentlichung der „Twitter-Files" fort. Anhand von internen Dokumenten wird der 8. Januar nachvollzogen, um offenzulegen, wie genau es zu der permanenten Sperrung des Präsidenten-Accounts kam.

Dementsprechend lautet die Überschrift über dem fünften Teil der „Twitter-Files": „Trumps Entfernung von Twitter".

„Am Morgen des 8. Januar", beginnt Weiss, „als Trump noch eine Verwarnung von einer permanenten Sperrung auf Twitter entfernt war, twitterte er zweimal".
https://twitter.com/bariweiss/status/1602364358218043392

Es handelt sich um jene zwei Tweets, anhand derer später über das Schicksal seines Accounts entschieden wird.

Morgens um 6.46 Uhr: „Die 75.000.000 großartigen Patrioten, die für mich, für AMERIKA ZUERST und für MACHT AMERIKA WIEDER GROSSARTIG gestimmt haben, werden bis weit in die Zukunft hinein eine gigantische Stimme haben. Man wird sie nicht respektlos oder unfair behandeln, auf keine Art und Weise!“
https://twitter.com/bariweiss/status/1602364672874643456

Kurz darauf, um 7.44 Uhr, twitterte er: „An alle, die nachgefragt haben, ich werde am 20. Januar nicht zur Amtseinführung (von Joe Biden, Anm.d.Red.) gehen.“
https://twitter.com/bariweiss/status/1602364863182868480

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Die Diskussion um den intern verhassten Präsidenten, die unter der Twitter-Belegschaft seit Monaten geführt wurde, spitzte sich daraufhin zu.  „Viele Angestellte“, schreibt Weiss unter Punkt 8, „waren aufgebracht, dass Trump nicht bereits früher verbannt worden war.“
https://twitter.com/bariweiss/status/1602365763767001088

Unter Punkt 10 zitiert sie einige Stimmen: „Wir müssen das Richtige tun und den Account sperren“, sagte ein Mitarbeiter. „Es ist ziemlich offensichtlich, dass er versuchen wird, eine Aufhetzung einzufädeln, ohne die Richtlinien zu verletzen“, sagte ein anderer.
https://twitter.com/bariweiss/status/1602366660564111360

Und es blieb nicht bei hitzigen Debatten hinter verschlossenen Türen. „In den frühen Nachmittagsstunden des 8. Januar“, so Weiss, „veröffentlichte die Washington Post einen von mehr als 300 Twitter-Mitarbeitern unterzeichneten offenen Brief an den CEO Jack Dorsey, in dem die Sperrung von Trump gefordert wird." Wörtlich hieß es: „Wir müssen Twitters Mittäterschaft an dem untersuchen, was der President-elect (gewählter, aber noch nicht inaugurierter Präsident, Anm.d.Red.) Biden richtigerweise als Aufstand bezeichnet hat.“
https://twitter.com/bariweiss/status/1602366797075709952

Das Problem, mit dem sich die Führungsetage des Unternehmens jedoch konfrontiert sah, war die unliebsame, aber nicht zu leugnende Tatsache, dass Donald Trump schlicht und ergreifend keine Regeln gebrochen hatte. Unter Punkt 12 schreibt Weiss:

„Doch die Twitter-Abteilung, welche damit beauftragt war, die Tweets zügig zu überprüfen, kam zu dem Schluss, dass Trump die Twitter-Richtlinien *nicht* verletzt hat. ,Ich denke, es dürfte schwierig werden, zu behaupten, dies sei ein Fall von Aufhetzung', schrieb ein Mitarbeiter."
https://twitter.com/bariweiss/status/1602366973089697792

„Es ist ganz klar, dass er sagt, die ,amerikanischen Patrioten' haben für ihn gestimmt, und nicht die Terroristen (so können wir sie nennen, richtig?) vom Mittwoch.“
https://twitter.com/bariweiss/status/1602366974599700480

Und auch Annika Navaroli, eine leitende Angestellte in der Abteilung Twitter Policy kommt zu dem Schluss: „... die Sicherheit hat den obigen Tweet von DJT begutachtet und schätzt ein, dass zu diesem Zeitpunkt kein Fall einer Verletzung unserer Richtlinien vorliegt.“
https://twitter.com/bariweiss/status/1602368444485148672


Die gleiche Einschätzung wird kurze Zeit später über den zweiten Tweet von Trump abgegeben: „Es ist eindeutig keine Verletzung. Es heißt nur, dass er nicht an der Amtseinführung teilnehmen wird.“ https://twitter.com/bariweiss/status/1602368448977195008

Um ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, vor welchem Hintergrund der Fall Donald Trump hier diskutiert wurde, nennt Weiß unter den Punkten 19 bis 24 verschiedene Beispiele von weltweiten Führungspolitikern, wie u.a. Khamenei (Iran), Mohammad (Malaysia), Buhari (Nigeria), die in ihren Tweets tatsächlich das eine oder andere Mal zu Gewalt aufgerufen bzw. diese verherrlicht hatten, ohne dass dies zu scharfen Eingriffen seitens Twitter geführt hätte.
https://twitter.com/bariweiss/status/1602368731111460877

„Doch wen die Twitter-Manager gesperrt haben, das war Trump", stellt sie unter Punkt 25 fest, „obwohl die Mitarbeiter in den Schlüsselpositionen erklärten, dass Trump nicht zur Gewalt aufgestachelt hat — noch nicht einmal auf eine „kodierte“ Weise.“
https://twitter.com/bariweiss/status/1602372767709466624

Die Wende kam weniger als 90 Minuten später, als Vijaya Gadde, Twitters Chefin für Recht, Richtlinien und Vertrauen, sich einschaltete und die Frage in den Raum stellte, „ob es nicht, de facto, sein könnte, dass es (die Tweets, Anm.d.Red.) eine ,kodierte Anstachelung zu künftiger Gewalt ist.'“
https://twitter.com/bariweiss/status/1602372771052367872

Nur wenige Minuten später fand sich eine Möglichkeit, Gaddes Frage zu bejahen, und zwar, indem man postulierte, „die Worte ,amerikanische Patrioten' beziehen sich auf die Aufständischen.“ https://twitter.com/bariweiss/status/1602372771052367872


„Von da an eskalierten die Dinge“, schreibt Weiss unter Punkt 28. „Mitglieder dieses Teams kamen an den Punkt, ihn als den Anführer einer terroristischen Gruppe zu betrachten, die für Gewalt/Tote verantwortlich war, vergleichbar mit dem Christchurch-Amoklauf oder mit Hitler, und dass er auf dieser Grundlage sowie wegen der Gesamtheit seiner Tweets von der Plattform entfernt werden sollte.“
https://twitter.com/bariweiss/status/1602373214474489857

„In zahlreichen Tweets (von Twitter-Mitarbeitern) wurde die Banalität des Bösen zitiert, wodurch suggeriert wird, dass die Leute, die unsere Richtlinien umsetzen, wie Nazis sind, die Befehle ausführen“, erwähnte Yoel Roth gegenüber einem Kollegen.
https://twitter.com/bariweiss/status/1602373896648282112

Dass Roth sich nichtsdestotrotz sehr wohl dessen bewusst war, auf welch dünnem Eis man im Fall Donald Trump unterwegs war, zeigt Weiss unter Punkt 31. Als Jack Dorsey nämlich eine „einfachere Sprache fordert, um Trumps Sperre zu erklären“, schreibt Roth: „Helfe uns Gott, [das] kommt mir so vor, als würde er dies öffentlich machen wollen.“
https://twitter.com/bariweiss/status/1602374115867754496

Doch die Würfel waren längst gefallen. Eine Stunde später verkündet Twitter Trumps permanente Sperrung, auf der Grundlage der von Gadde vorgeschlagenen und durch eine begeisterte Twitter-Belegschaft festgezurrten Begründung eines „Risikos künftiger Aufwiegelung zur Gewalt.“ Im Hauptquartier brach ekstatische Freude auf, darüber, dass „diese Trump-Accounts zerschlagen wurden.“ https://twitter.com/bariweiss/status/1602375372284186624

Und als wäre mit diesem Sieg über Trump eine entscheidende Hürde beseitigt worden, stürzten sich die Twitter-Aktivisten unverzüglich in ihr nächstes Projekt, wie Weiss unter Punkt 35 beschreibt:

„Am nächsten Tag drückten Mitarbeiter ihr Bestreben aus, so schnell wie möglich das Thema ,medizinische Misinformation' anzupacken.“ Ein Mitarbeiter erklärt: „... Covid ist eine spezifische Erkrankung; medizinische Misssinformation ist eine sehr viel größere Kategorie für gefährliche Inhalte. Durch unsere Arbeit an Covid und den Wahlen haben wir eine Menge Grundlagen für Richtlinien und Produktverhalten gelegt.“ https://twitter.com/bariweiss/status/1602375528224215040

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Es scheint beinahe so, als hätte Trumps Sperrung auf Lebenszeit buchstäblich eine lang ersehnte neue Zeitrechnung bei Twitter nach sich gezogen, was ein Mitarbeiter folgendermaßen ausdrückt: „Für eine lange Zeit ist es Twitters Standpunkt gewesen, dass wir nicht der Schiedsrichter der Wahrheit sind, was ich respektiert habe, aber es hat mir nie dieses warme, flauschige Gefühl gegeben."
https://twitter.com/bariweiss/status/1602375750945976320

Und auch Twitters damaliger COO Parag Agrawal, der später Jack Dorsey als CEO beerben würde, wusste um die eingeleitete Zeitenwende. Gegenüber dem Sicherheitschef Mudge Zatko sagte er: „Ich denke, ein paar von uns sollten sich zu einem Brainstorming zusammenfinden, um den Welleneffekt von Trumps Sperrung zu durchdenken.“ Und er fügte hinzu: „Die zentralisierte Moderation von Inhalten IMO hat jetzt einen kritischen Punkt erreicht.“
https://twitter.com/bariweiss/status/1602376215742263296

Außerhalb der USA fiel das Echo auf Twitters Umgang mit Donald J. Trump weniger enthusiastisch aus als im Hauptquartier in San Francisco. Merkel, Macron und selbst Kreml-Feind Nawalny schlugen eher kritische Töne an.
"Merkels Sprecher nannte die Entscheidung von Twitter, Trump von der Plattform zu verbannen, ,problematisch' und fügte hinzu, die Meinungsfreiheit ist von ,elementarer Bedeutung'“, schreibt Weiss unter Punkt 40.
https://twitter.com/bariweiss/status/1602376742756196352

Und den französischen Präsidenten Macron zitiert sie mit den Worten, dass er „nicht in einer Demokratie leben will, in der Schlüsselentscheidungen von privaten Spielern getroffen werden. Ich möchte, dass dies von einem, durch Ihre gewählten Abgeordneten verabschiedeten, Gesetz entschieden wird oder durch Regulierung, durch staatliche Governance, auf demokratischem Wege von demokratischen Führern diskutiert und bestätigt.“ https://twitter.com/bariweiss/status/1602376486928846848

Inwieweit Macron oder Merkel damals tatsächlich um die Redefreiheit eines Donald Trump besorgt waren, sei dahingestellt. Selbstverständlich ist die Kritik an der Macht einzelner Unternehmen in der Sache grundsätzlich mehr als angebracht. Angesichts der aktuellen Zensurbestrebungen auf deutscher wie auch auf europäischer Ebene, die just in dem Moment merklich zunahmen, als Elon Musk begann, Twitter von eben dieser Zensur zu befreien, sind gewisse Fragen zu den wahren Hintergründen der damaligen Statements nicht von der Hand zu weisen.

Es ist zumindest denkbar, dass man die aufgewühlte Grundsatzdebatte jener Tage politisch möglicherweise dafür nutzen wollte, den Boden für eine globale Regulierung der im Netz geäußerten und auffindbaren Inhalte mehr oder weniger unauffällig vorzubereiten.

Eric Schmidt, ehemaliger Vorstandsvorsitzender von Google, nannte das Internet einmal „das größte Anarchie-Experiment, das es jemals gegeben hat“.

Es scheint, als würde das Experiment in diesen Tagen seinem vorläufigen Ende entgegenstreben, ein Fazit, das vielleicht sogar Elon Musk längst gezogen hat.

Als der US-Journalist Luke Rudkowski am Montag tweetet, dass „wir uns entweder in einem Massenerwachen befinden oder aber kurz vor dem Kollaps der Gesellschaft“, antwortet Musk, wieder einmal kurz und prägnant, mit einem "Exactly".
https://twitter.com/elonmusk/status/1602278477234728960

Die Zukunft wird zeigen, welche der beiden Optionen eintritt. Oder ob das eine vielleicht sogar das andere bedingt. Twitters fanatischer Kampf gegen Donald J. Trump war dabei möglicherweise lediglich ein Puzzleteil in einem sehr viel größeren Bild.

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