Auf der Website der Alliance for Securing Democracy (Allianz für Demokratiesicherung) heißt es hierzu:
„Unter dem Dach der Allianz für Demokratiesicherung beobachtet das Hamilton 68 Dashboard russische Einflussoperationen auf Twitter."
Wie die Arbeit dieser Organisation einzuordnen ist, deutet Taibbi nicht nur in der Wahl seiner Überschrift an, in der er sich auf Jayson Blair bezieht, einen früheren Journalisten der New York Times, der im Jahr 2003 seinen Job verlor, nachdem sich herausgestellt hatte, dass seine Arbeit in etlichen Fällen auf skandalöse Weise jeglicher faktischer Grundlage entbehrte.
Gleich zu Beginn des Threads, unter Punkt 2, zitiert er zudem Yoel Roth, einen der damaligen führenden Twitter-Manager, in Bezug auf die Verantwortlichen bei „Hamilton 68" mit den Worten, diese seien derart unkooperativ in Sachen Transparenz sowie bei der von ihnen getroffenen Auswahl, „dass ich denke, wir müssen es einfach als den ,Bullshit' benennen, der es nun mal ist."
Unter Punkt 3 wird mit einer aus dem Jahr 2018 stammenden Mail von Roth deutlich, worin das zentrale Problem bestand: Zahlreiche Accounts wurden ausschließlich deshalb als „russisch" gekennzeichnet, „weil das Hamilton Dashboard einen ganzen Haufen von legitimen eher rechts orientierten Accounts fälschlicherweise beschuldigt, russische Bots zu sein."
Dies seien also die Aussagen des Twitter-Managements über „Hamilton 68", so Taibbi unter Punkt 5, ein digitales „Werkzeug", das von sich behauptete, die Versuche russischer Einflussnahme zu überwachen, und das gleichzeitig die Quelle von Hunderten, wenn nicht gar Tausenden von Presse- und Fernsehberichten während der Trump-Jahre gewesen sei.
Die Punkte 6 und 7 beleuchten die Ursprünge von „Hamilton 68". Das „Dashboard" wurde von Clint Watts geleitet, einem ehemaligen Spionageabwehrbeamten des FBI, der aktuell für den Fernsehsender MSNBC arbeitet. Gegründet wurde es von der Allianz für Demokratiesicherung (ASD), einem überparteilichen, neo-liberalen Think Tank, dessen Ideologie sich mühelos an den Mitgliedern seines Beirates ablesen lassen dürfte. Unter diesen befinden sich frühere Direktoren und Stellvertreter von CIA, NSA und Heimatschutzministerium, der neo-konservative Autor Bill Kristol, der ehemalige US-Botschafter in Moskau McFaul sowie der immer wieder von dunklen Gerüchten betroffene Ex-Leiter der Wahlkampagne von Hillary Clinton, John Podesta, der derzeit auch als Chefberater für saubere Energie und Klimafragen bei der Biden-Administration beschäftigt ist.
Es waren diese Personen, die als Quelle für zahlreiche Medienberichte genannt wurden, in denen u.a. behauptet wurde, russische Bots seien für die Verbreitung des Begriffs „Deep State" verantwortlich, schreibt Taibbi unter Punkt 9. Und auch Trends von Hashtags wie „ReleaseTheMemo", bei dem es um die Aufdeckung der Russland-Kampagne gegen Präsident Trump durch den damaligen Kongressabgeordneten Devin Nunes ging, oder „WalkAway", ein Hashtag, der trendete, als mehr und mehr Demokraten aus Enttäuschung ihre Partei verließen, wurden von „Hamilton 68" russischen Bots zugeschrieben. Ein Vorgehen, das doppelt erfolgreich war, da es einerseits die Zensur der entsprechenden Posts ermöglichte und gleichzeitig die jeweilige Bewegung als solche diskreditierte.
Und die einzige „Geheimzutat", die dazu notwendig war, so Taibbi unter Punkt 10, also die Basis der analytischen Methode von „Hamilton 68", bestand in einer Liste. Beziehungsweise in der Behauptung, über eine Liste von 600 Accounts zu verfügen, „die mit russischer Einflussnahme im Netz verknüpft sind." Eine Liste, die von der ASD mit der Begründung, „die Russen würden ihre Accounts dann einfach schließen", niemals veröffentlicht wurde.
Die Skepsis gegenüber der Allianz zur Demokratiesicherung muss im Twitter-Management derart groß gewesen sein, dass man beschloss, sozusagen durch „Umkehrung" der von „Hamilton 68" beanstandeten Accounts eine eigene Liste zu erstellen, um die der ASD nachzubilden. Laut einer internen Kommunikation, die von Taibbi unter Punkt 12 veröffentlicht wurde, fand man Folgendes heraus:
„Das Dashboard beinhaltet 648 Accounts (im Gegensatz zu den von ihnen behaupteten 600). Die Auswahl der Accounts ist... bizarr und anscheinend ziemlich willkürlich. Sie scheinen eine starke Vorliebe für Pro-Trump-Accounts zu haben (welche sie zum Nachweis dafür benutzen, Russland würde sich für Trump aussprechen ... auch wenn es keinen wirklichen Beweis dafür gibt, dass irgendeiner der von ihnen ausgewählten Accounts tatsächlich ein russischer Account ist oder auch nicht.)"
„Diese Accounts", zeigt Taibbi unter Punkt 13 die Zusammenfassung im Twitter-Hauptquartier, „sind weder eindeutig russisch noch eindeutig Bots."
Was Taibbi zu folgender Zwischenbilanz bringt: „(...) Hamilton 68 hatte so gut wie gar keine Russen. In Wahrheit handelt es sich, abgesehen von einigen RT-Accounts, in der Mehrheit um gewöhnliche Amerikaner, Kanadier und Briten. Es war ein Betrug. Anstatt zu überwachen wie ,Russland' amerikanische Meinungen beeinflusste, wählte Hamilton 68 einfach eine Handvoll von überwiegend echten und überwiegend amerikanischen Accounts aus und beschrieb deren natürliche Kommunikation als russisches Pläneschmieden."
Als man in Twitters Führungsetage erkannte, dass die betrügerischen Aktivitäten von „Hamilton 68" zu gleichermaßen betrügerischen Medienberichten führten, die möglicherweise irgendwann auf Twitter zurückfallen könnten, begann eine hausintern durchaus offensiv geführte Debatte, welche unter den Punkten 16 bis 20 dokumentiert wird. Der damals offenbar noch zensurunwillige Yoel Roth forderte tatsächlich die Offenlegung der Liste, wobei seine Begründung lautete, „echte Menschen" sollten wissen, dass sie ohne Beweis und Regressanspruch von einer Seite eigenmächtig zu russischen Strohmännern gemacht wurden.
Auch die Tatsache, dass gegenteilige Stimmen ausgesprochen vorsichtig agierten, spricht dafür, dass Twitter zum damaligen Zeitpunkt noch ganz am Anfang seiner künftigen Zensurpraxis stand. Ebenso interessant sind darüber hinaus die Personen, die Roth in jenen Tagen widersprachen. Zu diesen gehörten, so Taibbi unter den Punkten 19 und 20, zum einen Emily Horne, die hinsichtlich einer öffentlichen Auseinandersetzung mit der ASD zur Vorsicht mahnte und später Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates unter Joe Biden wurde, und zum anderen Carlos Monje, Twitters damaliger Direktor für Öffentlichkeitsarbeit, der inzwischen als Chefberater für den US-Verkehrsminister Pete Buttigieg arbeitet.
Die ASD-Liste der „russischen Accounts und Bots" blieb letztlich unter Verschluss, und keiner der betroffenen „echten Menschen", von denen einige unter den Punkten 21 bis 27 zu Wort kommen, erfuhr zu dieser Zeit von seiner Rolle als „russischer Agent" in den auf „Hamilton 68" basierenden News der Mainstreammedien.
Was dieses Kapitel so bedeutsam macht, „ist das schiere Ausmaß von Fußabdrücken, die der digitale McCarthyismus von Hamilton 68 in den Nachrichten hinterlassen hat", schreibt Taibbi unter Punkt 28. „Die Anzahl von Schlagzeilen und Fernsehbeiträgen stellt die Auswirkungen von einzelnen Schwindlern wie Jayson Blair (...) in den Schatten."
Was Taibbi hier hervorhebt, ist der Umstand, dass mit „Hamilton 68" ein Instrument geschaffen worden war, das quasi als Allzweckwaffe genutzt werden konnte. Sie kam bei jedem Thema zum Einsatz, das sich auch nur im Entferntesten gegen das schon damals um sich greifende links-woke Narrativ der US-Demokraten richtete. Der Vorwurf „russischer Einflussnahme" funktionierte sowohl beim Kampf gegen Donald J. Trump, bei den Angriffen auf Syrien, bei der Unterstützung des Obersten Richters Brett Kavanaugh, bei den Enthüllungen über die Unstimmigkeiten innerhalb der Mueller-Untersuchung und sogar beim Thema Migration. Und „Hamilton 68" machte keine Ausnahmen, auch nicht bei den vermeintlich eigenen Leuten.
So wurde nicht nur die Wahlkampagne des späteren Präsidenten Trump zum Ziel der ASD, sondern ebenso die des anfänglichen Mitbewerbers von Joe Biden, Bernie Sanders. Und auch die demokratische Führungspolitikerin Tulsi Gabbard, die ihre Partei verließ, weil diese ihrer Meinung nach zu einer „elitären Kabale von Kriegstreibern" geworden war, wurde laut Taibbi zu einem „vom Ausland gesteuerten" Subjekt. Dafür wurde von der ASD „aus politischen Gründen die Werbetrommel u.a. für die Biden-Kampagne gerührt, indem man jeden Kritiker als mit Russland verbündet einordnete", so Taibbi weiter.
Obwohl das Ganze eine Lüge war, resümiert Taibbi ab Punkt 32, habe praktisch jedes bedeutende Nachrichtenportal, selbst die US-Faktenchecker Snopes und Politifact und sogar Universitäten wie Harvard und Princeton, diese „falschen Geschichten" erzählt, während Twitter nicht den Mumm gehabt habe, „Hamilton 68" öffentlich zur Rede zu stellen. Laut Taibbi sei dadurch in der Bevölkerung eine gewisse Angst erzeugt worden, und betrachtet man die aktuelle globale Situation auf der Welt, könnte dies durchaus eines der zentralen Ziele der ASD gewesen sein. Die US-amerikanische Öffentlichkeit wurde jedenfalls über Jahre hinweg konstant mit einer latenten Angst vor einem aggressiv agierenden Russland infiziert, was der heute notwendigen allgemeinen Kriegsbereitschaft sicherlich nicht geschadet haben dürfte. Auch abseits dieser Thematik ist der entstandene politische und kulturell-gesellschaftliche Schaden kaum zu beziffern.
„Hamilton 68" hat die öffentliche Meinungsbildung in den USA in derart vielen verschiedenen Bereichen manipuliert, dass die Folgen vorerst nur zu umreißen sind. Am offensichtlichsten werden diese wohl im Zusammenhang mit der Präsidentschaftswahl 2020, was Elon Musk folgendermaßen zusammenfasst: "Eine amerikanische Gruppierung tätigt falsche Behauptungen über russische Wahlbeeinflussung, um die amerikanischen Wahlen zu beeinflussen." Ein Satz, dessen Tragweite vermutlich von vielen Menschen noch immer nicht vollumfänglich nachvollzogen wird.
Und es gibt einen weiteren Punkt, der zunehmend Beachtung erfahren möge: Berücksichtigt man, dass die ASD und ihr „Hamilton 68"-Projekt eine „überparteiliche" Unternehmung ist, der sowohl „Liberale" als auch „Konservative" angehören, wird klar, dass sich die sogenannte links-woke Ideologie längst nicht mehr auf die herkömmlich als links eingestuften Parteien beschränkt. In den USA treiben RINOs (Republikaner nur dem Namen nach) wie Mitch McConnell diese Konzepte ebenso voran wie die landesweit bekannte linke Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez. Die woke Umgestaltung der Welt hat Unterstützer in jedem Lager gefunden und sich mit NGOs, Stiftungen und Denkfabriken einflussreiche Sprachrohre geschaffen.
Anm. d. Red.: Matt Taibbi hat dieses Kapitel, trotz der Veröffentlichung von Lee Fang am 16. Januar, als 15 ausgewiesen. Der Übersicht halber wird dieser Teil von Taibbi daher an dieser Stelle mit 15, Teil 2 nummeriert.
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