Rund um den Kabuler Flughafen spielten sich in diesen Tagen Szenen ab, wie man sie zuletzt 1975, beim Abzug der USA aus Saigon gesehen hat. Damals wie heute ist es das Bild eines Hubschraubers, der Rettungssuchende über das Dach eines Gebäudes evakuiert, in dem die demütigende Niederlage des Westens ihren symbolischen Ausdruck findet.
Anders als der Vietnamkrieg hat der verlorene Afghanistankrieg der USA und NATO jedoch zu keinen größeren gesellschaftlichen Verwerfungen innerhalb der unterlegenen Koalitionsstaaten geführt. Was insofern erstaunlich ist, als dass die USA, Europa und die NATO zwanzig Jahre lang erfolglos versucht haben, in Afghanistan so etwas wie eine Zivilgesellschaft und/oder einen Rechtsstaat nach westlichem Vorbild zu errichten, inklusive breiter Zustimmung in der afghanischen Bevölkerung.
Da wäre es durchaus zu erwarten gewesen, dass sich im Anschluss an die Niederlage eine gesellschaftsweite Diskussion entspannt, die die Attraktivität und die Exportfähigkeit des westlichen Gesellschaftsmodells zum Inhalt hat. Doch keine Spur davon. Viel lieber konzentriert man sich auf die sogenannten „Ortskräfte“ und die Möglichkeiten, so viele Afghanen wie es nur geht vom Hindukusch nach Mitteleuropa zu bringen, ganz gleich, ob die Betreffenden tatsächlich von der Herrschaft der Taliban bedroht sind oder nicht.
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Der Grund wird schnell deutlich. Indem die frisch ins Amt gekommene Regierung seit Monaten immer neue Personengruppen definiert, die vor den Siegern des Afghanistankrieges gerettet werden müssen, setzt sie die merkelsche Einladungspolitik fort und kann sich so letztendlich doch noch als (moralischer) Sieger fühlen. An der Tatsache, dass der Westen und damit auch Deutschland den Krieg verloren hat, ändert dies freilich genauso wenig, wie an den Folgen, die mit der Niederlage einhergehen.
Was damit gemeint ist, lässt sich aktuell in Ost-Europa beobachten, wo der Kreml seit Herbst 2021 die Muskeln spielen lässt. Der Zeitpunkt, nur wenige Tage und Wochen nach dem Chaos am Kabuler Flughafen, lässt den Schluss zu, dass mit der Niederlage des Westens für Moskau der Zeitpunkt gekommen zu sein scheint, die Verhältnisse in Ost-Europa in seinem Sinne und nachhaltig zu verändern.
Dafür wird die russische Führung an mehreren Fronten gleichzeitig aktiv. Die eine verläuft entlang der polnisch-weißrussischen Grenze, wo Putins Marionette, der weißrussische Diktator Aljaksandr Lukaschenko, in einem Akt hybrider Kriegsführung tausende Jungmänner vornehmlich aus dem Irak, aus Syrien und Afghanistan einfliegen und diese gegen die Ostgrenze Polens anrennen lässt.
Es ist ein Test des europäischen Grenzregimes sowie der Versuch, die EU in innere Konflikte zu treiben, indem die No-border-no-Nation-Reflexe der Bunten Republik getriggert werden soll, die, wie nicht anders zu erwarten, umgehend darauf anspringt, siehe „Ortskräfte“-Rettung.
Die andere Front befindet sich an der russisch-ukrainische Grenze, wo inzwischen mehr als 100.000 Mann aller Waffengattungen aufmarschiert sind, die mit regelmäßigen Manövern und geschickt genährten Spekulationen über einen Einfall der russischen Armee in die Ost-Ukraine, den Druck auf Kiew aufrechterhalten und den Westen in die Defensive drängen.
Wobei es hier weniger um einen Test westlicher Abwehrfähigkeit geht, als vielmehr um handfeste strategische Ziele, wie zum Beispiel um die Errichtung einer Landverbindung zwischen dem russischen Mutterland und der seit 2014 besetzten Krim.
Im Gegensatz zum Frühjahr 2021, als Russland schon einmal sein Militär an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren ließ, der Westen aber einen Rückzug der Truppen erwirken konnte, sorgt die Härte, mit der Moskau die Dinge vorantreibt, diesmal für Ratlosigkeit. Hilflos überlässt man dem Kreml das Heft des Handelns, er gibt Takt und Tonfall in der Krise vor, dem Westen bleibt nicht viel mehr übrig, als zu folgen.
Illustriert werden die neuen Machtverhältnisse nicht zuletzt durch die Vorschläge, die die russische Führung am 17. Dezember 2021 zur Lösung der Krise unterbreitet. Es handelt sich dabei um nichts anderes als einen Katalog mit Maximalforderungen, der im Endeffekt auf ein Vetorecht des Kremls bei allen zentralen Entscheidungen der NATO hinausläuft, so, wenn es um die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten in den Nordatlantikpakt geht.
Dass der Westen darauf umgehend mit harscher Ablehnung reagiert und die Vorschläge Russlands als inakzeptabel und nicht verhandelbar verwirft, wird Putin erwartet haben. Schließlich käme die Anerkennung der russischen Zumutungen einer Selbstauflösung der NATO gleich. Stattdessen geht es dem russischen Präsidenten darum, mittels des Forderungskataloges die Vorhand zu behalten und den Verlierern des Afghanistankrieges das Geschehen zu diktieren.
Der Kreml folgt mit seinem Vorgehen in Weißrussland genauso wie an der Grenze zur Ukraine, gleich in mehrfacher Hinsicht den Grundsätzen erfolgreicher Machtpolitik beziehungsweise Kriegsführung. Zum einen nutzt er die Flucht des geschlagenen Konkurrenten aus, um nachzustoßen und den eigenen Einflussbereich auszudehnen, zum anderen behält er die Kontrolle über den Ort, den Zeitpunkt und die Intensität der Auseinandersetzung.
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Das aggressive Auftreten Moskaus hat seine Ursachen aber nicht alleine in der Schwäche des Westens. Vielmehr agiert der Kreml derzeit aus einer Position der Stärke heraus. Denn anders als der Westen, hat er in Syrien erst kürzlich einen Krieg gewonnen. Russland setzt sich damit als maßgeblicher politischer und militärischer Faktor in einer Region fest, aus der sich die westlichen Interventionstruppen wie geprügelte Hunde zurückziehen müssen. Ein Vorgang, der weit über den über den Nahen und Mittleren Osten hinaus ausstrahlt und das globale Machtgefüge zu Russlands Gunsten verschiebt.
Der Kreml ist somit der große Gewinner der Tragödie, die sich seit mehr als zwanzig Jahren zwischen Levante und Hindukusch abspielt. Wie sich die russische Anwesenheit auf, die ohnehin schon äußerst fragilen Verhältnisse im fruchtbaren Halbmond letztendlich auswirken wird, ob sie die Lage weiter kompliziert oder für eine gewisse Stabilität sorgt, wird sich erweisen. Derzeit jedoch ist der Sieg in Syrien ein Pfund, mit dem sich machtpolitisch wuchern lässt.
Flankiert wird dieser Triumph von kleineren, regionalen Interventionen im direkten Einflussbereich des Kremls. So vermittelt Russland im November 2020 einen Waffenstillstand im aserbeidschanisch-armenischen Krieg und stationiert 2000 Soldaten als Friedenstruppen in Bergkarabach. Kurz zuvor, im August und September, verhindert Moskau den Sturz von Lukaschenko, als hunderttausende Weißrussen überall im Land gegen ihn und für die Freiheit auf die Straße gingen. Ähnliches ereignet sich rund um den Jahreswechsel in Kasachstan, wo friedliche Proteste gegen Gaspreiserhöhungen eskalieren.
Einem Hilferuf des amtierenden Diktators Qassym Toqajew folgend, schickt Moskau Truppen. Offiziell, weil man damit einer Beistandsverpflichtung aus einem regionalen Bündnis Genüge getan würde. Jedoch kann kein Zweifel darüber bestehen, dass man im Kreml nicht böse darum ist, die strategisch wichtige, ehemalige Sowjetrepublik Kasachstan noch enger an sich zu binden, und sei um den Preis von ein paar Hundert erschossener Demonstranten.
Auf diese Weise sorgt der Kreml zu einen mit eiserner Faust für Ordnung im eigenen Hinterhof. Andererseits wetzt er, indem er jene Staaten, die aus der Konkursmasse der Sowjetunion hervorgegangenen sind, einen nach dem anderen wieder zu Satelliten Moskaus macht, sukzessive die Scharte von 1989/91 aus. Denn auch dreißig Jahre danach ist das Trauma vom Zerfall sowjetischer Macht und der anschließenden Demütigung Russlands in der russischen Führung genauso wie im russischen Volk äußerst präsent.
Dem hatte der Westen schon vor der Niederlage am Hindukusch nur wenig Wirkungsvolles entgegenzusetzen. Die Gründe dafür sind vielfältig, sie reichen von der postheroischen Regenbogenpolitik westlicher Gesellschaften bis hin zur Abhängigkeit derselben vom russischen Gas. Doch nun kommt noch die Niederlage des hochgerüsteten Westens gegen schlecht bewaffnete Gotteskrieger hinzu, durch die die USA, die NATO und Europa endgültig der machtpolitische Initiative im Umgang mit der russischen Aggression verlustig gehen. Mit der Folge, dass die Verlierer aktuell nicht imstande sind, eine Drohkulisse aufzubauen, die Moskau zum Einlenken zwingen könnte.
Wie eng der Spielraum westlicher Politik inzwischen geworden ist, demonstriert die neue deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, wenn sie erklärt: Die „für die Aggression Verantwortlichen" müssten „persönliche Konsequenzen" spüren, „zum Beispiel, dass sie nicht mehr zum Shoppen auf die Pariser Champs Élysées reisen können".
Eindrucksvoller kann man die beschämende intellektuelle und materielle Wehrlosigkeit des Westens gegenüber Russland nicht zum Ausdruck bringen. Außer vielleicht durch die deutsche Chefin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, die in atemberaubender Geschichtslosigkeit und lächerlicher Anmaßung Russland mit „nie dagewesenen Maßnahmen“ droht.
Hinzu kommt, dass Russland nicht Weißrussland ist, und man den russischen Bären nicht innerhalb kürzester Zeit aus der Weltgemeinschaft ausstoßen kann. Oder anders gesagt: Es dürfte schwerfallen, Russland international zu isolieren.
Warum, offenbart sich beim Blick nach Fernost. Abgesehen davon, dass Moskau und Peking sich schon seit einiger Zeit auf verschiedenen Ebenen annähern, steht China vor einer ähnlichen Situation wie Russland. Mit Taiwan liegt ein „unerlöstes“ Gebiet, das sich Peking lieber heute als morgen einverleiben möchte, direkt vor der Haustür. Und da im UN-Sicherheitsrat erfahrungsgemäß eine Hand die andere wäscht, wäre es nur folgerichtig, wenn sich China im Falle eines russischen Vorgehens gegen die Ukraine auf die Seite Moskaus schlägt, und gegen Russland gerichtete Resolutionen und Sanktionen verhindert. Im Gegenzug hätte Peking damit den Rücken frei, sollte die KP-Führung zur Entscheidung gelangen, die abtrünnige Insel mit dem Festland wiederzuvereinigen.
Aber kehren wir zurück nach Europa, wo Moskau die Eskalation im Osten voran- und den Westen vor sich hertreibt. Die in den vergangenen Tagen erfolglos verlaufenen Gespräche zwischen Russland und den USA, der NATO und Europa lassen nichts Gutes erahnen. Der russische Bär kann derzeit vor Kraft kaum laufen und der Westen ist nicht imstande, ihn zu bändigen, jedenfalls nicht ohne die eigenen Grundwerte und die Ukraine als unabhängigen Staat zu verraten. Das sind keine schönen Aussichten. Aber vielleicht ist das das Los der Verlierer im 21. Jahrhundert.
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Kommentar von Martin Haimböck
Ein sehr Gut Sichtweise Danke dafür.