Rendezvous in Danzig

Zwischen deutscher Verzagtheit und polnischer Dynamik

von Christian Witt (Kommentare: 2)

Danzig am Abend© Quelle: Foto: Christian Witt

Autor und Fotograf Christian Witt ist aus Danzig zurück. Möglicherweise lag es an „Die Blechtrommel“ von Günther Grass – der Roman ist in den 1930er Jahren in Danzig angesiedelt – oder an Schlöndorffs Verfilmung mit der jungen Angela Winkler, in die man sich damals Ende der 1970er Jahre einfach verlieben musste.

Möglicherweise aber wirkte auch ein historisches Interesse mit. Jedenfalls rief ich Christian spontan an und bat ihn, für meine Leser und mich eine Fotostrecke mitzubringen und bitte einen Reisebericht zu schreiben.

Christian Witt schickt Fotos und seinen Reisebericht aus Danzig:

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Christians Witts Reisebericht aus Danzig:

Die Bezüge aus meinem Bekanntenkreis zu der Stadt an der Ostsee sind vielfältig und reichen mitunter tief in traurig-dramatische Familiengeschichten: „Mein Vater kommt von dort und wurde als 9-Jähriger vertrieben.“ „Mein Großvater war Russe und wurde im nahen KZ Stutthof erschossen.“ „Ich hatte nach der Grenzöffnung eine Ausstellung dort.“ Bis zu „Danzig ist für mich immer der Ausgangspunkt für meine Expeditionen nach Ostpreußen und Masuren.“

Heute fliegt man mit Billigfluglinien besonders günstig nach Danzig. Aber auch mit dem Zug – beispielsweise von Wien mit dem EC ab 25 Euro in gut zehn Stunden – oder mit dem Nachtbus von Berlin kommt man in neun Stunden in Danzig an.

Danzig (Gdańsk) selbst ist voller geschichtsträchtiger Ecken, Vergnügungen, kulinarischer Genüsse und geschenkter Stunden für Boheme, die ihre Zeit bei Büchern und Zeitschriften in einem der zahlreichen Kaffeehäuser verbringen. Als Wandergrafiker hat man ein freieres Leben. Ich packe den elektronischen Schoßhund und einige Zeitschriften aus und gebe mich im Café Ferber dem Treibenlassen, Lesen und Schaffen hin.

Nach den ersten Erkundungsrunden durch die Altstadt zwischen den Kanälen und Bachläufen entlang geht es ins neu eröffnete, mystisch funkelnde Bernsteinmuseum in der großen Mühle – montags ist dort freier Eintritt. Allein aufgrund des riesenhaften Satteldachs beeindruckt dieses alte Gebäude des Deutschen Ritterordens, das von seiner Erbauung 1235 bis 1945 durchgehend als Mühle in Betrieb gewesen sein soll.

Vom in den letzten Jahren sorgsam renovierten Hauptbahnhof aus – selbst die Katakomben sind inzwischen vom sozialistischen Charme befreit und strahlen hell und bar jeden Graffitis – fahre ich am ersten Tag mit dem Nahverkehrszug nach Marienburg (Malbork).

Auf Jahrgangsfahrt war ich hier – wie auch in Danzig und Masuren – schon 1986. Gelegenheit, die blassen Erinnerungsbilder wieder aufzufrischen. Das meiste bleibt jedoch bruchstückhaft. Auf meinem Facebook-Post mit Bildern der Burg ernte ich harsche Stellungnahmen zum wirklich üblen Treiben des Deutschen Ritterordens zu jener Zeit. Mein Verweis auf die regelmäßigen Überfälle slawischer Stämme auf Siedlungen weit im Westen wird nicht goutiert. Ich halte mich da raus, für historische Debatten fehlt mir das notwendige Detailwissen.

Auf meinem frühmorgendlichen Weg zur alten Ordensburg begegnen mir drei Jugendliche in polnischer Uniform, die kurz vor der Burg in einer McDonald's-Filiale verschwinden. Polen bietet verschiedene Formen der paramilitärischen Ausbildung für Jugendliche an, häufig im Rahmen von sogenannten „Klassisch Militärischen Klassen“ (polnisch: „Klasy Wojskowe“).

Diese Programme sind an weiterführenden Schulen angesiedelt und kombinieren den regulären Lehrplan mit militärischem Training. Jugendliche, die sich für solche Klassen anmelden, erlernen grundlegende militärische Fähigkeiten wie Disziplin, Marschieren, Schießübungen und taktische Manöver. Diese Programme sollen die jungen Menschen auf eine mögliche Karriere in den Streitkräften oder bei den Sicherheitskräften vorbereiten.

Neben solchen schulischen Militärklassen gibt es in Polen auch freiwillige paramilitärische Organisationen wie den „Związek Strzelecki“ (Schützenbund) oder die „Obrona Terytorialna“ (Territorialverteidigung), die jungen Menschen eine ähnliche Ausbildung anbieten. Solche Organisationen sind teilweise eng mit dem polnischen Militär vernetzt.

Diese Form der Ausbildung ziele nicht nur darauf ab, die Jugendlichen auf eine mögliche militärische Laufbahn vorzubereiten, lese ich im Netz, sondern vermittelt auch Werte wie Patriotismus, Teamarbeit und Verantwortungsbewusstsein.

Mein Sechs-Stunden-Fahrschein reicht noch für die Weiterfahrt ins alte Elbing (Elbląg), ebenfalls eine Stadtgründung des Ordens von 1237. Der Weg vom Bahnhof in die alte Innenstadt führt mich durch architektonisch zerrissene Viertel – halb typisch osteuropäische, schepperige Dorfidylle, halb sozialistische Wohnmaschinen, zuletzt durch Betonschluchten polnischen Neobarocks. Kann man sich mit der Zeit daran gewöhnen und sich hier einleben?

Die Innenstadt selbst ist der bemühte Versuch, die alte, fast gänzlich zerstörte Hansestadt am Fluss Elbing, wo es geht, wieder aufzubauen, an anderen Stellen im polnischen Neobarock „nachzuempfinden“. Vieles ist hier in den zurückliegenden Jahren auch mit Mitteln der Europäischen Union wieder in Form gebracht worden. Ein Besuch im liebevoll gestalteten Museum am Flusslauf versöhnt halbwegs mit der traurigen Geschichte.

Bald jeder zweite Reisende in Danzig und Umgebung kam in den zurückliegenden Jahren aus Deutschland, trotzdem findet man kaum deutsche, nicht einmal englischsprachige Beschriftungen oder Literatur in den Museen der Gegend.
Das Gymnasium in Elbing, das besagtes Heimatmuseum beherbergt, wurde im Jahr 1535 gegründet. Es war eine der ältesten protestantischen Schulen in Ostpreußen und spielte über die Region hinaus eine bedeutende Rolle.

Am dritten Tag zurück in Danzig. Die alte backsteinerne Hansestadt war Europas Tor zum Baltikum. Die dunkelsten Stunden erlebte Danzig im März 1945 mit zerstörerischen Flächenbombardements. Nach Jahrzehnten der beherzten Selbstfindung ist Danzig heute wieder zu einer lebendigen, lebensfrohen Metropole an der Ostseeküste geworden.

Volkswagen, Mercedes, Miele, MAN, Bauknecht, Bosch und Michelin, sie alle haben in den letzten Jahren ihre Produktion aus Deutschland nach Polen verlegt. Das macht hellhörig und weckt das Interesse für unseren östlichen Nachbarn. Polens Wirtschaft wuchs in den letzten Jahrzehnten besonders schnell. Was macht dieses Land so attraktiv, wie lebt es sich hier, wie fühlt es sich an, hier zu sein?

Ich treffe mich mit Enzo, einem deutschen Expat hier in Danzig, in einer jüngst zu einer großzügigen und architektonisch beeindruckenden „Montownia“, einer Foodhall in einer umgebauten alten U-Boot-Halle auf dem Holm. Hier präsentieren sich zwei Dutzend hochwertige Garküchen im Erdgeschoss, die oberen Stockwerken beherbergen ein Lofthotel.

Dieses Gebiet wurde in den 1980ern durch die Arbeiterbewegung Solidarność bekannt. Zwischen neuen und zeitgenössisch modernen vielstöckigen „Wohnblocks“ und etlichen Resten historischer Industriearchitektur, sitzt mir ein Allgäuer gegenüber, der hier nach Jahrzehnten beruflicher Odyssee durch Europa nun seit fast zehn Jahren in dieser Stadt lebt und arbeitet. Entspannt erzählt er mir von seinem Leben in Polen. „Ich war schon in Spanien, der Schweiz, überall“, sagt er, „hier in Danzig bin ich angekommen. Ich habe kein großes Verlangen mehr nach Reisen und Urlauben.“ Mit glänzenden Augen erzählt er vom Schwoof am Strand bei Zopot im Sommer.

Wir unterhalten uns bei zwei frisch gezapften Piwo (poln. für Bier). Die Gespräche drehen sich bald um die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in Polen und seine Außensicht auf die Entwicklung in Deutschland – dramatisch, hoffnungslos, zermürbend, demotivierend, so empfindet er die Entwicklung beim Nachbarn, eine politische Endzeit eines über Jahre und Jahrzehnte florierenden Gemeinwesens.

Mit einem ruhenden Blick an der quirligen Bar vorbei aus dem Fenster beginnt er zu erzählen: „Polen gibt Gas, investiert in Infrastruktur – fast täglich wechselt ein weiteres deutsches Unternehmen die Seiten, überall entstehen neue Industriegebiete.“ Stolz klingt durch auf die Wandlungsfähigkeit seines neuen Heimatlandes, das vorwärts gehe während Deutschland im Morast politischer wie wirtschaftlicher Fehlentwicklungen steckenbleibe.

Ob die Entwicklung in Deutschland vielleicht ein interessantes Modell einer wie auch immer gearteten Transformation hin zu etwas Besserem sein könne? Achselzucken und Ungläubigkeit. Daran mag er nicht glauben und er will auch keinen Gefallen daran finden. Der wachsende und harte Kontrast zu Deutschland unter Merkel und Rotgrün ist für ihn offensichtlich: „In Deutschland reden sie viel und bewegen wenig. Hier wird einfach gemacht.“

Für ihn ist es diese pragmatische, mutig unternehmerische Herangehensweise der Polen, die den entscheidenden Unterschied ausmacht. Während in Deutschland überbordende und sich in Labyrinthen verlierende Bürokratie und hohe Sozialabgaben den Unternehmergeist dämpfen, erlebt er Polen als „Land der Möglichkeiten“.

Er spart auch nicht mit harscher Kritik an der deutschen Migrationspolitik, die für ihn etwas Wahnhaftes hat. „Wir nehmen Millionen glücklose Glücksritter ohne berufliche oder kulturelle Eignung in unsere Mitte auf, während beispielsweise Polen seine Grenzen schützt und damit wirtschaftlich wie gesellschaftlich in einem glücklicheren Fahrwasser fährt“, sagt er, und seine Stirn verdüstert sich.

Für ihn sind die Grenzen zu weit geöffnet. Geltendes Recht werde „aus Interessen von Profiteuren“ missachtet, die Sozialsysteme gezielt überfordert, während Polen seine Ressourcen vernünftiger und bewusster schützt. Er verrät, dass die neue Regierung in Polen, um sich mit Brüssel gut zu stellen, neuerdings doch still und geräuschlos Kontingente aufnehme.

Er nimmt kein unnötiges Blatt vor den Mund, wenn es um die politischen Akteure in Deutschland geht. Vor allem die Grünen und die, die sich jetzt links nennen, sind ihm ein Dorn im Auge. „Die Hälfte von denen hängt mit drin, die verdienen an dem ganzen Geschäftsmodell“, vermutet er. Sein Vorwurf: Die politische Elite nutzt die Migrationskrise, um eigene Vorteile zu sichern, etliche würden wirtschaftlich davon profitieren, während der Großteil des Landes und der Bürger unter den Auswirkungen dieses „Raubzuges“ leide.

Am Ende unserer Unterhaltung kehrt er zurück zu seinem Leben in Danzig und dem polnischen Pragmatismus, den er so schätzt: „Hier in Polen passiert alles, während Deutschland zusieht.“ Seine Worte spiegeln die Enttäuschung über seine Heimat wider und gleichzeitig die Bestätigung seiner Entscheidung, nach Danzig gezogen zu sein.

Am nächsten Tag besuchen wir gemeinsam noch einmal die Montownia, die Foodhall in der ehemaligen U-Boot-Halle. Anschließend zeigt mir Enzo mit dem Auto noch ein paar seiner liebsten Plätze, die ich „unbedingt“ gesehen haben muss.

Am Strand von Glettkau (poln. Żabianka-Wejhera) steigen im Sommer die beschwingten Partys. Hier legt Enzo mitunter als DJ tanzbare Musik auf. Sanft glimmt hier noch die Sonne über dem Haff, während die letzten Bauten des Sommerbetriebs abgebaut werden. Wir suchen Bernstein, der hier manchmal nach auflandigen Stürmen zu finden ist. Hat man Glück, dann liegen sie in Nestern zusammen mit einem Stückchen Holz. Enzos geschultes Auge findet auf Anhieb zwei kleinere braun-schimmernde Splitter. Immerhin. Einmal angefangen, so berichten mir andere, kann sich das Bernsteinsuchen schnell zur Sucht entwickeln.

Danzig, so mein Resümee, bleibt nicht zuletzt wegen der (noch) wirklich günstigen Flugpreise und den überschaubaren Unterkunftskosten ein lohnendes Ziel auch für Kurzzeiturlauber. Und mit etwas mehr Zeit kann man noch mehr entdecken und tiefer eintauchen in die noch nicht ganz verschwundene Geschichte der alten Stadt am Meer.

Mein nächster Flug ist schon gebucht.

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