Manchmal nehme ich sonntagmorgens zum Brötchenholen ein Kind mit. Heute nicht. Der Platz vor dem Suhrkamp-Neubau in Berlin Mitte ist gepflegt, ein in weißen Stein gefasstes Beet, wo im Frühjahr Krokusse blühen. Der Plan war ursprünglich, drei Bäume stehen zu lassen, damit würde man die Voraussetzungen für die Adresse schaffen: Siegfried-Unseld-Platz.
Daraus ist nichts geworden. Heute morgen um acht lag auf dem weißen Stein, der an der höchsten Stelle kniehoch steht, rücklings eine Frau, und ihr Stöhnen schallte weit durch den sonnigen Morgen. Ein Lime-Roller fuhr an ihr vorüber, Fahrradfahrer. Über ihr ein Mann mit heruntergelassener Hose. Der Kellner vom Café gegenüber trat raus, er sah mich filmen. Apple sei Dank, mein Handy hat einen guten Zoom, ich hatte den Hund an der Leine und mit drei Tüten Backwerk war ich vollgepackt. Ich hatte den Schlüssel schon draußen und ging nicht näher ran.
Der junge Kellner schüttelte den Kopf. In Tschechien wäre es ein Porno-Dreh, in Berlin ist es nur Wohnungsnot.
In den 1920er Jahren war „Schlafen in Schichten“ in Berlin weit verbreitet. Käthe Kollwitz hat dieses Elend figürlich gemacht, ich stelle mir das Paar einen Moment in Bronze vor. Am alten taz-Haus hing ein überdimensionaler Penis, der Kai Dieckmann gewidmet war. Sonntagmorgen um acht hat man in Berlin noch seine Ruhe.
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Kommentar von Enthor Grundbacken
OK! Ich habe das auf offener Straße so noch nicht gesehen. Aber, nun gut, selbst wenn ich das nicht für erstrebenswert halte. Es ist mir jedoch lieber, als die ungezügelte Aggression, wenn jemand sein Messer schwingt.
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Kommentar von Bernhard Rossi
"Gebildet ist, wer Parallelen sieht, wo andere etwas völlig Neues zu erblicken glauben." Sigmund Graff (1898 - 1979), deutscher Schriftsteller und Dramatiker.
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Kommentar von MfG
Hat mein Bruder im vorigen Jahr auch live beim Joggen am Morgen im Park am (Berliner) Weißen See aus nächster Nähe betrachten dürfen .
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Kommentar von SuperlogenRegierenDieWelt
Spätrömische Dekadenz mit zur Schau gestellter Schamlosigkeit einer krankhaft egomanisch-hedonistischen Gesellschaft. Dazu zähle ich übrigens auch in aller Öffentlichkeit laut geführte sehr private Handygespräche, wie zuletzt wieder im Zug erlebt.