Als Teil eines Deeskalationsplans wären diese Entscheidungen des Westens weltgeschichtlich betrachtet einzigartig. Vergleichbar mit dem Feuerwehrmann, der einen Brand mittels einer gezielten Explosion löscht. Was für eine Begrifflichkeit: Krieg für den Frieden. Also nicht mehr nur Abschreckung wie im Kalten Krieg, sondern schweres Gerät, das ins Gefecht einsteigt - die Lieferung von immer mehr Brandbeschleunigern in ein Krisengebiet an der brandigen Schnittstelle zwischen Nato und Russland.
In diesen Zeiten, so kurz vor dem Osterfest und so kurz vor dem Ausbruch des 3.Weltkriegs womöglich, wollen wir noch einmal versuchen, Putin und seine russische Nomenklatura zu verstehen. Verstehen heißt nicht Verständnis zeigen – oder gar gutheißen. Angriffskrieg bleibt Angriffskrieg und ist widerwärtig in seiner abgrundtiefen Bösartigkeit. Aber ohne Verstehen keine Verständigung, und ohne Verständigung keine Aussicht auf Ende des Gemetzels.
Wir machen diesen Versuch, zu Putin-Verstehern zu werden, indem wir ein Interview lesen, dass einer der wichtigsten Influencer Putins, Sergej Karaganow, vor etwa zwei Wochen dem britischen Magazin „The New Statesman“ gegeben hat.
Sergej Karaganow ist Dekan der Fakultät für Weltwirtschaft und internationale Angelegenheiten an der Wirtschaftshochschule Moskau. Er ist Ehrenvorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, einer Denkfabrik für Sicherheitsanalysen, und seit Jahrzehnten einer der wichtigsten Berater der russischen Regierung.
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Karaganow unterhält enge Beziehungen zu Wladimir Putin und Sergeij Lawrow. Bekannt wurde er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch die nach ihm benannte Karaganow-Doktrin, nach der Russland die Rechte ethnischer Russen in anderen Staaten verteidigen sollte, um so Einfluss in den jeweiligen Ländern zu gewinnen.
„Seit 25 Jahren sagen Leute wie ich, dass es einen Krieg geben wird.“
Seine große Nähe zu Russlands Führung macht es unwahrscheinlich, dass die Gedanken, die Karaganow im Interview mit „The New Statesman“ äußert, nicht mit dem Kreml abgestimmt sind.
In seinem einleitenden Statement legt er die allseits bekannten Gründe für den Einmarsch Russlands in die Ukraine dar:
- Beendigung der Nato-Expansion
- Entmilitarisierung der Ukraine
- Entnazifizierung der Ukraine
- Befreiung der Donbass-Republiken
- Verhinderung eines Krieges mit der Ukraine auf dem Staatsgebiet Russlands
Motive, die politisch wachsamen Mitmenschen aller Hemisphären seit Jahren bekannt sind. Ganz sicher auch den politischen Entscheidern des Westens.
„Aber der wirkliche Krieg ist gegen die westliche Expansion.“
Den Krieg gegen die westliche Expansion auf ukrainischem Staatsgebiet hat Russland nach Aussage Karaganows zunächst in dem Glauben geführt, das ukrainische Militär würde sich auf die Seite des Aggressors stellen und die ukrainische Regierung um Wolodymyr Selenskyi wegputschen. Ein Fehlschluss.
„Die Wahrscheinlichkeit eines direkten Zusammenstoßes steigt.“
Durch die Versorgung der Ukraine mit immer mehr Waffen riskiert die Nato Karaganows Ansicht nach einen direkten Zusammenstoß der beiden Machtblöcke bis hin zum Einsatz von Atomwaffen.
„Wenn die USA gegen ein Atomland intervenieren, dann ist der amerikanische Präsident, der diese Entscheidung trifft, verrückt, weil es nicht 1914 oder 1939 wäre; das ist etwas Größeres.“
Die Apokalypse, die ein Atomkrieg unweigerlich auslösen würde, ist (noch) unvorstellbar.
„Die großen Verlierer sind neben der Ukraine Europa.“
Für Karaganow ist das Bestreben Europas, sich von russischer Energie unabhängig machen zu wollen, unerklärlich. Er nennt es „geheimnisvollen Unabhängigkeitsdrang“ und macht Europa neben der Ukraine selbst, aber auch Russland und die USA zum Verlierer des Krieges. China hingegen wird aus seiner Sicht als eindeutiger Sieger hervorgehen.
„Russland kann es sich nicht leisten zu verlieren, also brauchen wir eine Art Sieg.“
Eine Niederlage Russlands in diesem Krieg ist undenkbar, weil sie verheerende Folgen hätte, sagt Karaganow. Am Ende muss eine Lösung stehen „die man Frieden nennen würde und die de facto die Schaffung einer Art lebensfähiger, pro-russischer Regierung auf dem Territorium der Ukraine und echte Sicherheit für den Donbas beinhalten würde“.
Wenn sich diese Vorstellungen Karaganows mit denen des Kremls decken, wovon auszugehen ist, müssen wir uns auf mehr als ungemütliche Zeiten einrichten. Denn niemand solle glauben, dass die Nato einen russischen Satellitenstaat in den Grenzen der Ukraine tolerieren wird.
„Der Westen wird sich also nie erholen, aber es spielt keine Rolle, ob er stirbt.“
Düstere Aussichten – und ganz besonders für die Demokratien westlicher Prägung, meint Sergej Karaganow am Ende des Interviews:
„Der Westen wird sich also nie erholen, aber es spielt keine Rolle, ob er stirbt: Die westliche Zivilisation hat uns allen große Vorteile gebracht, aber jetzt stellen Menschen wie ich und andere die moralische Grundlage der westlichen Zivilisation in Frage. Ich denke, geopolitisch wird der Westen Höhen und Tiefen erleben. Vielleicht könnten die Erschütterungen, die wir erleben, die besseren Qualitäten der westlichen Zivilisation zurückbringen, und wir werden wieder Menschen wie Roosevelt, Churchill, Adenauer, de Gaulle und Brandt im Amt sehen. Aber anhaltende Erschütterungen werden natürlich auch dazu führen, dass die Demokratie in ihrer jetzigen Form in den meisten europäischen Ländern nicht überleben wird, weil Demokratien unter großen Spannungen immer absterben oder autokratisch werden. Diese Änderungen sind unvermeidlich.“
Wir wissen, wer es geschrieben hat. Ein Vertrauter des Krieg führenden russischen Präsidenten. Nichtsdestotrotz müssen solche Sätze jeden ins Herz treffen – nein, in Mark und Bein erschüttern – der sich Krieg in der westlichen Einflusssphäre, Krieg am Rande oder mitten in Europa nicht mehr vorstellen konnte.
Noch leben Deutsche, die sich an Krieg und Vertreibung erinnern können. Ein Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland ist die Aussöhnung aller Kriegsparteien. Der Einfluss der Sowjetunion auf die Geschicke der Deutschen in der DDR verzögerte diese Aussöhnung um vierzig Jahre. Aber das darf kein Hinderungsgrund sein, es immer wieder zu versuchen. Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine hat die deutsche Wehrmacht Millionen Soldaten der roten Armee getötet. Unter ihnen Russen und Ukrainer.
Dem Frieden (Peace) eine Chance zu geben, ist kein Song von John Lennon. Der Frieden ist alternativlos, wenn wir nicht in die Barbarei zurückfallen wollen.
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