Eine Familie irgendwo im schwäbischen Land irgendwann vor unserer Zeit

Als Vater den Löffel reichte

von Toddn Kandziora (Kommentare: 2)

Schon im Leben bereit zu sein, zu geben, abzugeben, weiterzureichen, das zeugt, so finde ich, von großer menschlicher Stärke. Oder nicht?© Quelle: Screenshot, YouTube, Bonscha

Möglich, dass ich vor Jahren einen deutschen Spielfilm sah, an den ich mich jetzt, in dieser traurigen Zeit, erinnere. Möglich aber auch, dass ich mir das Folgende ausgedacht habe. Einigen wir uns, dass es ein Film war und meine Fantasie mir einen Streich spielt. War es ein Film, dann ist es ein guter, wenn auch tragischer Film.

Die Handlung spielt im achtzehnten, vielleicht zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts im schwäbischen Land. Eine Bauernfamilie, die täglich um ihre Existenz kämpft, spielt im ersten Drittel eine gewichtige Rolle.

Die ganze Familie, Vater, Mutter, mehrere Söhne und Töchter saßen nach getaner, mühseliger Landarbeit an einem grob gezimmerten Holztisch in der Küche beim Abendbrot. In der Mitte des Tisches stand ein großer, gusseiserner Topf mit Mehlsuppe. In der dünnen Suppe schwammen wenige Rübenstücke. Der Vater füllte mittels einer grob geschnitzten Suppenkelle die Teller seiner Familie.

Mit ausdrucksloser Mimik achtete er sorgfältig darauf, dass die wenigen Rübenstücke einzig in die Teller seiner Söhne gelangten. Er selbst, seine Frau und die Töchter begnügten sich mit der dünnen Suppe und einem kleinen Kanten Brot, das er brach, nachdem jeder einen dampfenden Teller vor sich stehen hatte. Auch was das Brot betraf, bedachte er seine Söhne großzügiger. Er selbst verzichtete auf ein Stück.

Es machte den Eindruck auf mich, dass die Familie mit der Mengenrationierung für einen jeden von ihnen einverstanden war, ja, die ihnen zugereichten Portionen so erwartete. Am Anfang des Filmes konnte man sehen, wie sie alle sich vom frühen Morgen bis spät in den Abend auf zwei verbliebenen Feldern, den beiden Feldern, die nicht gänzlich von der Sonne und Dürre ausgezehrt waren, bis zum letzten abarbeiteten. Seit Wochen hatte es nicht geregnet. Das Unkraut vermehrte sich schneller, als sie es aus vertrockneter, harter Erde rupfen und hacken konnten. Ihrer aller Hände waren vom wild wuchernden, dornigen Gestrüpp rissig, blutig und übersät mit Schwielen.

Das letzte ihnen verbliebene Weizenfeld, es war das kleinste gewesen, das sie tagelang wie ihren eigenen Augapfel gehegt und gepflegt hatten, war in der vergangenen Nacht abgeerntet worden. Jedoch nicht von ihnen.

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Wer immer sie um die Ernte der gemeinsamen, wochenlangen Arbeit gebracht hatte, er blieb unentdeckt. Sie konnten nichts mehr tun. Die Familie wurde nicht nur um den Verkaufswert vom angebauten Weizen gebracht, auch um ihren eigenen Scheffel Korn, den sie ja brauchten, um den Winter zu überstehen.

Es blieb ihnen nur das eine Feld mit den Rüben. Den roten Rüben, die so verschrumpelt und grau wie das sich sorgende Gesicht des Vaters aussahen. Ihm, dem Vater, fiel die Feldarbeit seit geraumer Zeit immer schwerer. Besonders an diesem Tag. Der Tag, an dem die Familie um einen großen Teil der jährlichen Ernte und den Lohn gebracht wurde.

Während der Feldarbeit konnten sie mit ansehen, wie sich der Vater mehrmals an den rechten Oberarm fasste und sich dann für kurze Zeit eine Arbeitspause nahm und am Feldrand ausruhte. Trank er dort aus seiner Feldflasche einen Schluck Wasser, so hörte man Vater husten und er schien Schmerzen zu haben.

Sie sahen nur zu. Mehr wagten sie an diesem Tag des großen Verlustes nicht. Den ganzen Tag während der Feldarbeit sprachen sie nur die nötigsten Worte miteinander. Was hätten sie sich auch zu sagen gehabt?

Am Abend saßen sie weiterhin schweigend am Tisch, bis sein Ältester, nachdem dieser seinen Teller aufgegessen, das Wort ergriff und zum Vater sprach: „Vattern, so kann es nicht weitergehen. Wir sind zu viele im Haus. Wir haben weder Geld noch genug zu essen, um es zum Frühling zu schaffen. Sag Vater, was denkst du, wie soll es weitergehen?“

Der Vater blickt stumm in seine noch immer volle Schüssel vor ihm und rührt mit dem Holzlöffel in der inzwischen kalt gewordenen Mehlsuppe umher, als ob er dort auf der Suche nach der Antwort wäre. „Diese Frage habe ich mir ebenfalls den Tag über immer wieder gestellt. Jetzt muss ich jedoch erst aus dem Haus und mein Wasser lassen. Du wirst meine Entscheidung später erfahren.“ Darauf schob der Vater Schüssel und Löffel in die Mitte des Tisches, stand von seinem Platz auf und verließ den Raum.

 

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Als der Vater gegangen war, blieb es einige Zeit still am Tisch. Noch immer fehlten den zurückgebliebenen Familienmitgliedern die Worte, um die schweren Gedanken auszusprechen, die in ihnen nagten, ähnlich wie es Hunger vermag. Dann fiel dem Zweitältesten eine Besonderheit am Tisch auf und so sprach er seinen Bruder darauf an: „Wieso liegt denn da Vatterns Löffel hinter deiner Schale?“

Der Gefragte schob seinen leeren Holzteller zur Seite und tatsächlich lag dort des Vaters Löffel. Er musste den Löffel, kurz bevor er zum Wasserlassen aus der Tür ging, unbemerkt hin zur Schale des Ältesten geschoben haben.

Als die jüngste Tochter den Löffel ihres Vaters sah, da konnte sie einen kurzen, lauten Schrei nicht unterdrücken. Dann rief sie: „Nein, bitte nicht!" Und sprang so schnell vom Tisch auf, dass sie dabei ihren Stuhl umstieß. Sie hechtete zur Tür und schon war sie aus dem Haus. Die anderen folgten ihr so schnell sie konnten.

Vor dem Haus sahen sie, wie die Schwester über den Hof zur Scheune rannte. Schneller als ihre Brüder hatte sie die Scheune erreicht und öffnete das große, schwere Tor so leicht, als ob es eine Schranktür wäre. Und dann war sie drinnen. Vor den anderen. In dieser Scheune. Diese Scheune, in der sie dann den Vater an einem Seil am Mittelbalken hängen sieht. Vatern hatte den Löffel abgegeben.

Tja, irgendwann werden wir alle „den Löffel abgeben“. Aber wie werden wir den Löffel weiterreichen? Werden wir bereit sein, ihn abzugeben? Werden wir unseren "Löffel" an den oder die Richtige weitergeben? Oder werden wir ihn mit in das Grab nehmen, weil wir verlernt haben, was es bedeutet, was es heißt, als Mensch zu leben und wie ein Mensch zu gehen?

Ich meine das mit dem „Löffel abgeben“ natürlich nicht wörtlich. Nicht, wie es „Vattern“ im Film (oder meiner Fantasie) in der Scheune getan hat, damit ein Esser weniger am Tisch ist und die Familie die Chance hat, über einen harten Winter zu kommen. So weit muss, nein, sollte es erst gar nicht kommen. Denn schon im Leben bereit zu sein, zu geben, abzugeben, weiterzureichen, das zeugt, so finde ich, von großer menschlicher Stärke. Oder nicht?

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