Mehr als 120.000 Menschen unerwartet verstorben

Alle wissen es

von Dr. MIchael Andrick (Kommentare: 10)

Dr. Michael Andrick: „Wir finden gerade heraus, ob wir freie Bürger sind.“© Quelle: Dr. Michael Andrick

Alle wissen, dass Deutschland eine Welle unerwarteter Erkrankungen und Todesfälle erlebt. Politik und Justiz schauen jedoch weg. Wir leben im Übergang.

Die Kolumne „Alle wissen es“ von Dr. Michael Andrick gehört für mich zu den zehn wichtigsten Texten unserer Zeit. Eine kühne Intervention, die zuerst in der Berliner Zeitung erschien. Und diese Berliner Zeitung entwickelt sich gerade zu einem unverzichtbaren Ort des freien Journalismus.

Von Michael Andrick

Der Anthropologe Robin Dunbar fand heraus, dass der Mensch im Schnitt rund 50 gute Bekanntschaften hat und 1.500 Gesichter unterscheiden kann. Die historisch typische Größe menschlicher Gemeinschaften (wie Siedlungen oder wandernde Rotten) gibt er mit 150 an.

Wie viele Menschen bemerken also im Schnitt jemandes plötzliche schwere Erkrankung oder seinen unerwarteten Tod, und wie verbreitet sich eine solche Nachricht? Herzmuskelentzündungen und bestimmte Krebsarten treten seit April 2021 stark vermehrt auf. Und seitdem und bis Ende 2023 sind in Deutschland mehr als 120.000 Menschen über das statistisch zu erwartende Maß hinaus, also unerwartet, verstorben.

Nehmen wir an, jeder dieser Toten hatte vier Familienmitglieder und andere intime Vertraute. Dazu kommen langjährige Kontakte, die er regelmäßig traf, sagen wir zehn – das macht dann 14. Zählen wir 20 weitere Weggefährten wie Kollegen, Nachbarn usw. hinzu, so können wir plausibel mit 34 Personen rechnen, die einen unerwarteten Todesfall bemerken müssten. Diese Schätzung fällt nach Dunbar eher zu niedrig aus.

Sterben 120.000 Menschen unerwartet, so würden das demnach rund 4.000.000 Menschen direkt erfahren. Und unter den Erstinformierten dürfte es Netzwerküberlappungen geben, so dass manche von mehreren plötzlichen Todesfällen hören. Diese 4.000.000 werden ihren 14 intimen Vertrauten und langjährigen Bekannten davon berichten. Damit haben 56.000.000 (4.000.000 x 14) Bürger aus zweiter Hand erfahren, dass jemand unerwartet verstorben ist.

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Nur zehn der 20 weiteren Weggefährten sagen nach unserer vorsichtigen Rechnung den Todesfall weiter; 40.000.000 kommen damit zu den oben errechneten 56.000.000 Bürgern hinzu. Es ist rechnerisch also zusätzlich zu den 4.000.000 Erstinformierten 96.000.000 Mal jemandem von einem Vertrauten gesagt worden, dass seit 2021 jemand unerwartet verstorben ist.

Über Details dieser Überschlagsrechnung mag man streiten. Klar ist: Wir leben in einem Land, das eine Welle unerwarteter Sterbefälle erlebt, die allen direkt oder vom Hörensagen miterleben. Alle wissen es. Ebenso im Falle des enormen Anstiegs mancher Krankheitsdiagnosen seit April 2021, deren kommunikativen Radius wir hier nicht überschlagen müssen. Da nicht jeder unerwartet Erkrankte verstirbt, würden die Zahlen noch größer als in voriger Rechnung. Alle wissen auch davon.

Dennoch spielt die Häufung von Todesfällen und einst seltenen Krankheiten in Politik und Justiz fast keine Rolle. Der Zeitraum seit April 2021 ist deshalb epochemachend für Deutschland. Ein politischer Übergang hat begonnen und kann unterschiedlich enden.

Wir könnten erleben, dass die Institutionen der Republik die offenkundige Katastrophe ohne Denkverbote aufklären. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Bürger dies vehement in der Breite fordern – und nur noch die Parteien wählen, die diese Forderung stützen. Dies wäre ein Neuanfang für die Bundesrepublik. Oder aber wir dürften verstärkte Zensur derer erleben, die auf die 120.000 plötzlich Verstorbenen und die unerwartet schwer Erkrankten hinweisen und Gerechtigkeit einfordern. Wo alle etwas wissen, das offiziell ignoriert werden soll, da ist Wahrheit für die Regierenden keine Option mehr und Dissidenten müssen zu Staatsfeinden gemacht werden.

Es geht gerade um viel. In einem Land, wo Politik und Justiz tatsächlich damit durchkämen, eine Sterbe- und Krankheitswelle diesen Ausmaßes offiziell zu ignorieren, lebt man als schutzloser Untertan. Wir finden gerade heraus, ob wir freie Bürger sind – und ob die übergroße Mehrheit der Deutschen ein solches Dasein überhaupt wünscht.

Michael Andrick ist promovierter Philosoph und Kolumnist der Berliner Zeitung. Sein aktuelles Buch "Im Moralgefängnis" zu Ursachen und Wirkungen spalterischen Handelns ist ein Spiegel-Bestseller. Für die stilistische Klarheit und Prägnanz seiner Texte erhielt er 2022 den Jürgen-Moll-Preis. Er lebt in Berlin und publiziert u.a. in Freitag, DLF Kultur, Welt und Weltwoche.

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