Von Julian Adrat
Mein Freund hat ein Septum. Das ist das Piercing, das durch die Nasenscheidewand geht. Bulle und Bär macht man so gefügig. In traditionellen Gesellschaften trugen es vornehmlich Krieger. Mein Freund trägt auch eine Menge Tattoos, die aussehen wie die Kritzelei eines Kleinkinds. Er wählt die Grünen, er spendet für Seawatch und auf seinem MacBook klebt die neueste Version der Regenbogenflagge, die mit dem Kreis.
Jeder meint, das Leben, das man selbst führt, sei allein das wahre Leben, und das des Freundes nur ein Scheinleben. Das schreibt Tolstoi in Anna Karenina. Er beschreibt das Verhältnis von Fürst Oblonski und seinem Jugendfreund Lewin. Tief im Inneren würden Freunde sogar einander verachten für ihre Lebensführung. Jetzt hat mein Freund geheiratet. Aisha, eine 19-jährige Medizinstudentin. Sie ist nicht nur furchtbar hübsch, ihr strahlendes Lächeln, vom Hidschab gerahmt, ist auch nach 16 Stunden ohne Wasser, wenn der Ramadan in den Hochsommer fällt, noch immer genauso strahlend und bezaubernd wie am Morgen.
Ich schwöre, ich verachte meinen Freund nicht. Täglich warte ich auf die Nachricht, dass Aisha schwanger ist. Sie hat mir gesagt, das sei überhaupt kein Problem, ein halbes Jahr zu pausieren. Danach seien Tanten in Hülle und Fülle da, um zu babysitten. Eine Kita brauche sie gar nicht.
Der gut informierte Leser wird spätestens jetzt mit dem Zeigefinger wedeln, jetzt aber Humus bei die Falafel, Julian! Das erzählst du nur wegen Frankreich! Ganz richtig. Alle reden vom Krieg, ich von der Liebe. Tiktok und Instagram sind voll mit Videos, die echten Bürgerkrieg zeigen. Odessa, Paris oder Beirut, geht das bedrückende Ratespiel. Berliner Schulen haben ihre Klassenfahrten abgesagt. Das Auswärtige Amt hat seine Reise- und Sicherheitshinweise für Frankreich „aktualisiert“.
Mein Freund sagte, sie hätten Angst gehabt, ob der Platz in der Sophienkirche überhaupt ausreichen würde. An der Außenfasssade ist die Kirche voller Einschusslöcher, noch aus Zeiten des Zweiten Weltkrieges, man hat sie bewusst belassen, der Hof grenzt an ein jüdisches Gymnasium. Als Katholik gestehe ich: Es war eine würdige Feier, auch wenn nicht alle sitzen konnten, die Pfarrerin blieb souverän, sie lud Aishas Cousins einfach ein, um den Altar herum auf dem Boden Platz nehmen.
Es gab in Hafermilch geschmorte Soja-Wurst. Mein Freund ist Veganer und da bleibt er eisern. Aisha zieht, meinem Freund zuliebe, manchmal in Gesellschaft das Kopftuch aus. Sie hat sogar angekündigt, ein Baby würde sie ungeniert in aller Öffentlichkeit stillen. Sie ist schnell angekommen auf dem Prenzlauer Berg. Aishas Brüdern flößt die kulturelle Potenz meines Freundes mächtig Respekt ein. Ein Soziologe würde mir zustimmen: Besser wird’s nicht. Die inter-ethnische und inter-religiöse Ehe ist die Höchstform der Integration. Gratulation an meinen Freund. Ich werd’s ihm ausrichten. Ich muss ihn nur noch finden.
Julian Adrat ist freischaffender Künstler und Podcaster. Er lebt und arbeitet in Berlin.
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Kommentar von peter struwwel
Und ich bin freierschlaffter Kommentator.